Heute in den Feuilletons

Sturmflut ohne Rettungsboote

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.12.2008. In der FR trinkt Cees Nooteboom einen Glühwein auf die Krise. Die Welt sieht Heinrich Breloer als Spielverderber, der die die "Buddenbrooks" aller Buffo-Elemente beraubt. In der SZ spricht sich Adolf Muschg gegen eine Verankerung der deutschen Sprache in der Verfassung aus. In der taz meint Paul Scheffer: Multikulti ist schwieriger als man denkt. Ach ja, und Frohes Fest!

FR, 24.12.2008

Der niederländische Schriftsteller Cees Nooteboom erzählt von seiner Lesereise durch das vorweihnachtliche Deutschland: "Überall gab es Weihnachtsmärkte mit Glühwein und viel Licht, als wolle jeder schnell noch möglichst viel Licht für die wirklich düsteren Zeiten sammeln, die nun bald anbrechen würden, und für die absolute, globale Katastrophe, die einer Sturmflut ohne Rettungsboote gleich über alle fünf Kontinente hereinbrechen würde."

Weiteres: Zu lesen ist auch eine bitterböse Weihnachtserzählung von Aravind Adiga. Es geht um einen aufstrebenden Richter, der einem netten deutschen Paar behilflich ist, ein armes indisches Kind zu adoptieren. Sylvia Staude besucht das neugestaltete Tanzmuseum in Köln. In Times mager liest Arno Widmann noch einmal Friedrich Schleiermachers "Die Weihnachtsfeier".

Besprochen werden Baz-Lehrmanns Melodram "Australia" (der Daniel Kothenschulte entsetzt fragen lässt, ob Australien bei der Aufarbeitung seiner Rassismus-Geschichte gerade erst die "Onkel-Tom-Phase" erreicht hat), Tomas Alfredsons Vampir-Film "So finster die Nacht" sowie Ferdinand Zehentreiter Band über "Komponisten im Exil".

Welt, 24.12.2008

Als Spielverderber erweist sich Heinrich Breloer in seiner Verfilmung der "Buddenbrooks", meint Peter Zander: "All die unabdingbaren Pointen, die jeder mit dem Roman verbindet, Sätze wie 'Das putzt ganz ungemein' oder 'Sei glöcklich, du gutes Kend' - sie kommen bei ihm nicht vor. Fast jedes Buffo-Element ist getilgt. Ihm geht es um eine ernsthaftere Darstellung des 'Verfalls einer Familie' (so der Untertitel des Romans). Und um eine sehr heutige. Die Kaufmannsfamilie wird durch den Bankrott der Bank Gebrüder Westphal empfindlich getroffen. Da muss man sofort an die Lehman Brothers denken."

In der Leitglosse blickt Hendrik Werner nicht ohne spöttische Distanz auf die in Japan durchs Dorf gesagte neueste Sau, den Handy-Roman. Peter Dittmar berichtet über fortwährenden Kunstdiebstahl in Russlands berühmtesten Museen. Uta Baier betrachtet noch einmal Dürers "Betende Hände", die gerade fünfhundert Jahre alt werden. Matthias Pankau erklärt, wie Bachs persönliche Bibel in die Bibliothek des theologischen Concordia-Seminars in St. Louis gelangte. Der Europakundler Gerhard Besier zeichnet in einer kleinen Reisereportage ein nicht allzu differenziertes Bild der Ukraine, in der alle nur Russisch sprächen und sich angeblich auch sonst verhielten wie der ungeliebte große Bruder im Westen ("Die rauschenden Feste bestehen im Wesentlichen aus schier endlosem Essen, Trinken, bombastischen patriotischen Reden und Ordensverleihungen. Der Wodka fließt in Strömen; dazu gibt es fetttriefenden Schaschlik. Wer nicht mitmacht, verhält sich beleidigend") Gerhard Charles Rump betrachtet die offiziellen Porträts von George W. Bush und Gattin. Rainer Haubrich gratuliert dem Architekten Christoph Sattler zum Siebzigsten. Hans Markus Thomsen gibt zu bedenken, dass Joseph entgegen der offiziellen Version möglicherweise doch der Vater von Jesus war.


Besprochen werden Filme, darunter die schwedische Vampir-Romanze "So finster die Nacht".

NZZ, 24.12.2008

Claudia Schwartz hat sich Heinrich Breloers Verfilmung der "Bruddenbrooks" angesehen und dabei sehr wohl gefühlt: "Die Schauwerte des großen Gesellschaftsromans lässt er im üppigen Kostümfilm aufleben. Er tut damit der literarischen Vorlage keinen Tort an." Georges Waser meldet erleichtert, dass die schottische Nationalgalerie genug Geld zusammenbekommen hat, um dem klammen Duke of Sutherland zwei Tizian-Leihgaben abzukaufen, die dieser aus seinem Portefeuille abstoßen wollte. Marc Zitzmann berichtet vom Festival d'automne in Paris.

Besprochen werden Simone de Beauvoirs bisher nur auf Französisch erschienene Jugendtagebücher "Cahiers de jeunesse", Antonio Dal Masettos Roman "Als wäre alles erst gestern gewesen" sowie verschiedene Bücher zur Varusschlacht (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

SZ, 24.12.2008

Die CDU möchte das Grundgesetz um den Satz "Die Sprache der Bundesrepublik ist Deutsch" erweitern. Für den Schriftsteller Adolf Muschg ist das ein Beweis "nationalen Kleinmuts". Denn: "Zu einer Kultursprache gehört es, dass sie nicht nur die Integration begünstigt, sondern auch deren Verweigerung mit Neugier behandelt, sensibel und phantasievoll. Sie braucht dem Fremden nicht mit dem Gebot einer 'Vatersprache' (Dürrenmatt) entgegenzutreten. Es gibt keine Orthografie deutscher Kultur. Die beste Sprachenpolitik wäre eine, die zur Kenntnis zu nehmen wagte, dass das, was die andern in ihr zu melden haben, etwas sein könnte, was ihr selbst fehlt zu einer reicheren, weniger ängstlichen Identität."

Im Feuilleton zeigt sich Christoper Schmidt nicht sonderlich amüsiert über die Antwort Jürgen Flimms auf den Vorwurf, sein Vertrag für die Salzburger Festspiele laufe bis 2011, wie er da ab 2010 Intentant der der Berliner Staatsoper sein könne: "Wenn ich im Frühjahr 2010 das Programm für 2011 vorzulegen habe, dann habe ich nach der Saison 2010 nichts mehr zu tun. Was soll ich da noch rumsitzen?" Renate Meinhof erinnert sich an die Westpakete, die zu Weihnachten bei ihrer Familie in der DDR ankamen. Thomas Steinfeld erklärt das Nachdenken in Zeitungen für unerlässlich (wir finden Nachdenken auch gut, hier zum Beispiel ein schöner Essay über die Schwächen der neusten deutschen Liebeslyrik). Eine Seite Multikulti zu Weihnachten: Der Jude Maxim Biller erklärt im Interview, warum er jüdische Feste lieber mag als Weihnachten. Der Muslim (und Gegenaufklärer) Feridun Zaimoglu erklärt, warum er liberale türkische Frauen nicht mag, die Weihnachten mit einer Tanne feiern. Der Wiener Kirchenhistoriker Hans Förster erklärt, wie die Geburt Christi im vierten Jahrhundert unserer Zeitrechnung zu einem kirchlichen Fest wurde und warum dies ein Beispiel für gelungene Inkulturation ist. Fritz Göttler schreibt zum Tod des amerikanischen Filmemachers Robert Mulligan.

Auf der Medienseite stellt Wiglaf Droste das Magazin Ohrenkuss vor, das von Menschen mit Down-Syndrom gemacht wird. Willi Winkler berichtet über ein Buch für den modernen Manager, das in der FAZ auf doppelseitigen Anzeigen mit "Formulierungen wie 'Deine Mutter ist eine Nutte' und 'Lutsch meinen Schwanz' beworben wurde. Und Hans Leyendecker ist ganz baff über die Selbstkritik der New York Times, die ihre Fehler in Print und Internet korrigiert.

Besprochen werden Heinrich Breloers "Buddenbrooks"-Verfilmung, Baz Luhrmanns Nationaloper "Australia", Tomas Alfredsons Vampirfilm "So finster die Nacht" ("Das hätte man nicht gedacht, dass es noch mal einen Film geben könnte, der das Vampirgenre neu erfindet. Und dass ein solcher Film aus der terra incognita des neuen schwedischen Kinos kommt und uns die absolute Realität des Wunderlichen vorführt: wie der Kuss eines Vampirs schmeckt, wie sich die Umarmung eines Blutsaugers anfühlt", staunt Hans Schifferle), Jan Philipp Gloger Inszenierung von Marivaux' "Die Unbeständigkeit der Liebe" im Münchner Cuvillies-Theater, einige CDs und Lothar Machtans Buch "Die Abdankung" über das Ende der deutschen Monarchie (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 24.12.2008

Die Tagesthemenseiten sind heute Lesestoffseiten. Hier erklärt etwa der niederländische Soziologe Paul Scheffer im Interview, warum Migration ein so komplexes Problemfeld ist. "Ein Teil der Eliten träumt sich weltoffen. Sie sagen, türkische Kultur ist so interessant, obwohl sie von Orhan Pamuk höchstens ein halbes Buch gelesen haben. Um eine Kultur zu verstehen, braucht es aber Anstrengung. Man kann nur Grenzen überschreiten, wenn man sich bewusst ist, dass es sie überhaupt gibt. Weltbürgerschaft ist oft zum Alibi geworden, keine Verantwortung mehr für eine lokale oder nationale Gemeinschaft übernehmen zu müssen."

Helmut Höge singt unter der Überschrift "Verehrt, verraten verglüht" ein Loblied der Glühbirne. Zu lesen sind weitere Gespräche, unter anderem mit Konstantin Wecker über die Kunst des Scheiterns, dem Philosophen Rainer Forst über zur Technik verkommene Politik und dem Soziologen und Lotto-Forscher Mark Lutter über die Illusion vom großen Gewinn.

Im Kulturteil berichtet Anna Rieger-Behlik über den "Skandalpreis von Moskau" und die Probleme, die sich die Kunstabteilung der Deutschen Bank mit der problematischen Entscheidung eingehandelt hat: Deren Leiter Friedhelm Hütte befürwortete die Vergabe des von der Bank gesponserten Kandinsky-Preises, der wichtigsten künstlerischen Auszeichnung Russlands, an den Moskauer Künstler Alexej Beljaew-Gintowt, der führendes Mitglied einer faschistischen Jugendorganisation ist und offen für die militärische "Befreiung" der Ukraine eintritt. Harmlos wie die Deutsche Bank ist, hat sie den Künstler wohl für einen postmodernen Ironiker gehalten, meint Rieger-Belykh: Alexej Beljaew-Gintowts Werke "sind vornehmlich in stalinistischem Rot gehalten und zeigen gern slawische Schönheiten mit einem Maschinengewehr in der Hand. Ein ironisches Spiel mit historischen Versatzstücken und Fragmenten eines radikalen politischen Diskurses? Keineswegs. Es ist der radikale Diskurs selbst, der einem in Alexej Beljaew-Gintowts Werken vor Augen tritt."

Als "postmodernes Überwältigungskino" bezeichnet Andreas Busche Baz Luhrmanns neuen Film "Australia", was weniger an seiner Maßlosigkeit als an seinem Paternalismus liege.

Und hier Tom.

FAZ, 24.12.2008

Ein neues Kulturzentrum mit Namen "Curve" (Website), das ganz auf die multiethnische englische Stadt Leicester zugeschnitten ist, stellt Gina Thomas vor. Joseph Hanimann schildert, wie Nicolas Sarkozys Versuch, den Sonntag zum gewöhnlichen Arbeitstag zu machen, erst einmal scheiterte. Vom ungewöhnlichen Projekt deutscher Künstler - allesamt ehemalige Villa-Massimo-Stipendiaten -, im Bergdorf Olevano nahe Rom eine Kirche zu bauen, berichtet Niklas Maak, der vor Ort war. Ganz einverstanden zeigt sich Christian Geyer mit Michael Krügers emphatischer Bejahung von Kultur als Kritik. Gerhard Rohde freut sich auf Jürgen Flimm als neuen Lindenoper-Intendanten. Matthias Morgenstern untersucht das Verhältnis von jüdischem Recht und Zivilehe. Christoph Schmälzle hat eine Berliner Tagung zum Thema "Zorn" besucht. Rose-Maria Gropp begrüßt Tilman Riemenschneiders fragmentarische Madonna in der Johanniterhalle in Schwäbisch Hall. Dieter Bartetzko erinnert an den in diesen Tagen einschlägig relevanten König von Judäa mit Namen Herodes. In der Glosse referiert Gina Thomas eine Studie, die zum Ergebnis kommt, dass Haferschleim eine durchaus nahrhafte Speise ist. Auf der DVD-Seite werden Weihnachtsfilme von "Merry Christmas, Mr. Lawrence" bis zu Henry Selicks "Tim Burton's Nightmare Before Christmas". Gemeldet wird, dass der Kurator der Kunstsammlung der Deutschen Bank, Friedhelm Hütte, sein Votum für den russischen Künstler Alexej Beljajew-Gintowt, der mit dem von der Deutschen Bank gesponserten Kandinsky-Preis ausgezeichnet wurde, inzwischen bedauert und dies in einem Kommunique mitteilte. Im Leitartikel auf der ersten Seite der Zeitung erklärt Frank Schirrmacher 2008 zum Jahr der großen Zahlen.

Besprochen werden ein von Sebastian Weigle dirigierter "Boris Godunow", verschiedene Auftritte Daniel Barenboims als Dirigent und Pianist in New York, eine Münchner Inszenierung von Marivaux' "Die Unbeständigkeit der Liebe", die Ausstellung "Vom Mythos der Antike" im Kunsthistorischen Museum in Wien, Heinrich Breloers "Buddenbrooks"-Verfilmung (an der, so Edo Reents, eigentlich gar nichts stimmt), Baz Luhrmans Epos "Australien" und Bücher, darunter das Romandebüt des FAZ-Autors Klaus Ungerer "Alles über die Welt" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).