Heute in den Feuilletons

Lauernde Babyspeckmagie

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.02.2009. In der NZZ erzählt Peter Nadas, was passieren kann, wenn man in Ljubljana auf Kroatisch nach dem Weg fragt. In der Welt erinnert sich Uwe Tellkamp an den 9. November 1989. Wie die VG Wort zu ihren Autorenrechten kommt, fragt der Tagesspiegel. Die FR ruft: Das Theater muss raus! In der FAZ plädiert Hans Küng für eine Entkriminalisierung der Sterbehilfe.

NZZ, 21.02.2009

Der ungarische Schriftsteller Peter Nadas schickt für die Beilage Literatur und Kunst Notizen von einer winterlichen Lesereise durch den Balkan. In Ljubljana versuchte sein Verleger eine Gruppe von jungen Leuten auf Kroatisch nach dem Weg zu fragen, wurde er aber zum Teufel geschickt. "In den folgenden Tagen benutze ich die Geschichte als Test, erzähle sie allen. Meine Provokation ist nicht ergebnislos. Niemand stellt sie in Frage, alle hören nachdenklich zu, machen sich Gedanken, na so was. Jemand gibt sich mir gegenüber erstaunt, wie schnell die Zeit vergeht. Siebzehn Jahre seien auch für die Sprache eine lange Zeit. Er habe selber nicht gemerkt, dass das Serbokroatische als Verkehrssprache nicht mehr funktioniere. Unter uns, sagt er. Auf wissenschaftlichen Konferenzen würden sie schon seit geraumer Zeit englisch miteinander reden. Jemand anderer fragt, ob die Gruppe unser ungarisches Nummernschild gesehen habe. Das ist nicht ausgeschlossen. Der junge und schon berühmte Dichter, der im letzten Sommer Slowenien zu Fuß umrundet hat und braungebrannt, mit geschultertem Rucksack, bei uns in Gombosszeg vorbeischaute, sieht mich mit weit aufgerissenen, sanften Augen an. Antwortet aber nicht. Bis jetzt, sage ich, habe es meines Wissens in seiner Heimat nichts dergleichen gegeben. Aber Peter, meint er leise, auch wir hier leben auf Knochen."

Weitere Artikel: Marc Zitzmann stellt den französischen Theaterautor Michel Vinaver vor. Dieter Thomä sucht mit Joseph Alois Schumpeter und Ernst-Wolfgang Böckenförde nach Auswegen aus der Wirtschaftskrise. Christina Viragh betrachtet in den Bildansichten Willem de Koonings Gemälde "Ohne Titel".

Im Feuilleton schreibt Christof Kübler zum hundertsten Geburtstag des Schweizer Künstlers Hans Erni. Joachim Güntner vermisst eine Kassandra. Besprochen werden eine Ausstellung über den Architekten Richard Meier im Stadthaus Ulm und eine Reihe von Büchern zum Islamismus.

Welt, 21.02.2009

Unter der Übeschrift "Kein scharf umstochenes Datum" bringt die Literarische Welt Uwe Tellkamps Erinnerung an den 9. November 1989, die demnächst in einem Sammelband erscheint. Der Anfang: "Abends hörte ich die Geräusche aus der Stadt: vom Metallwerk, in dem ich als Hilfsdreher an einer CNC-Drehmaschine arbeitete, Blechschmettern, Fräsenschnarren, Schraubenwimmern, das Gekeif der Schleifscheiben; aus der Kelterei in der Gagarinstraße die schrillen Glaschöre; vom Bahnhof das Rangieren der Loks, die müden Vorschlaghämmer, die Aufpralltraumen gepufferter Waggons: durchflügelt von den Ahornpropellern in der Dämmerung, die ihre Lichtgewichte verlagerte wie ein Sumoringer seinen Körper von einem Bein aufs andere in der trancehaften, lauernden Babyspeckmagie seines Kampfes (denn nicht Berührung braucht es, zu kämpfen, nicht die Einladung, die Anfassen heißt)"

Weitere Artikel: In der Literarischen Welt bespricht Tilman Krause Sibylle Lewitscharoffs neuen Roman "Apostoloff". Außerdem bringt die Beilage einen Auszug aus Fritz J. Raddatz' Biografie über Rilke. Im Feuilleton unterhält sich der für den Oscar nominierte Kurzfilmer Jochen Alexander Freydank mit seinem Kollegen Florian Gallenberger, der seinerseits im Jahre 2001 einen Oscar für seinen Kurzfilm "Quiero ser" erhielt.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Kunst der Habsburger in Baden-Baden, eine Kulturgeschichte des Alkoholkonsums und eine Annie-Leibovitz-Ausstellung in Berlin.

Tagesspiegel, 21.02.2009

In Amerika haben sich Google und die Verlage geeinigt: Autoren können bei der Google-Buchsuche ihre Rechte einfordern oder sich entschädigen lassen. Für deutsche Autoren möchte die VG Wort zumindest bei vergriffenen Büchern die Autoren pauschal vertreten. Darf sie das?, fragt Ilja Braun. "Wer der Sache nachgeht, reibt sich erstaunt die Augen: Durch eine Änderung des Wahrnehmungsvertrags - jenes Rahmenvertrags, mit dem Autoren und Verlage die VG Wort ermächtigen, in ihrem Namen urheberrechtliche Ansprüche geltend zu machen - hat sich die VG Wort diese Entscheidungshoheit bereits im Mai 2008 von den Autoren übertragen lassen! Exklusiv! Online-Rechte hält die VG Wort sozusagen für ein Nebenrecht, ähnlich wie die Privatkopien in den Copyshops. Und meint deshalb, sie allein habe über die Zukunft des Buchs im Internet zu bestimmen." Mehr zum Thema im Blog Bibliotheksrecht. In Kunst und Kultur online erklärt ver.di Justitiar Wolfgang Schimmel, warum die Rechteübertragung auf die VG Wort für die Autoren nur von Vorteil ist.

Weitere Medien, 21.02.2009

Der Gasprom-Lobbyist Gerhard Schröder fährt nach Iran, um eine Rede zu halten. Dabei will er Mahmud Ahmadinedschad gehörig für seine Holocaust-Leugnung kritisieren, entnehmen wir einem Bericht der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (via Spiegel Online), die aus der Rede zitiert: "Es macht keinen Sinn, dieses einmalige Verbrechen, für das Hitler-Deutschland verantwortlich gewesen ist, zu leugnen." Ja, wenn es Sinn machen würde, dann wäre es eventuell etwas anderes!

FR, 21.02.2009

Peter Michalzik hat das neuste sozialrealistische Stück von Oliver Bukowski, "Die kritische Masse", in der Hamburger Uraufführung von Sebastian Nübling gesehen und stellt fest: So nicht. Genauer und viel grundsätzlicher gesagt: "Wenn man ein soziales Drama will, dann wird man so nicht weiterkommen. Und alles spricht dafür, dass das Theater ein soziales Drama will und braucht. Es gibt da nicht umsonst eine lange Tradition und die Zeit wird immer lauter nach einem Drama der Wahrnehmung sozialer Realität schreien. Es muss eine Regiesprache, die es zur Zeit nicht gibt, gefunden werden, die von den Figuren, Menschen, Milieus oder Umständen - wie dann auch immer - erzählen kann. Das Theater muss los, es muss raus, es muss die Welt entdecken. Es reicht nicht mehr, wenn es sich auf sich selbst verlässt. Es muss Schauspieler geben, die solchen Menschen zugeschaut haben, Regisseure, die sie kennen, Dramaturgen, die sich für sie interessieren."

Weitere Artikel: Johannes Wendland unterhält sich mit Philipp Oswalt, dem neuen Direktor der Stiftung Bauhaus in Dessau. In einer Times mager denkt Hans-Jürgen Linke darüber nach, was das mutmaßliche Ende von Saab zu bedeuten hat. In ihrer US-Kolumne weiß Marcia Pally genau, dass die Europäer auch weiterhin Gründe finden werden, Amerika nicht zu mögen. Hans-Klaus Jungheinrich gratuliert der Sopranistin Anny Schlemm zum Achtzigsten.

Besprochen werden das Rock-Musical "Hedwig and the Angry Inch", das in Frankfurt zur Aufführung kommt, eine Frankfurter Lesung der Berliner Szene-Literaten Jochen Schmidt und Volker Strübing, und Bücher, darunter Tilman Jens' Buch über seinen Vater "Demenz", das Arno Widmann sehr wohl "ergreifend" findet (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Spiegel Online, 21.02.2009

Spiegel Online diskutiert seit einigen Tagen mit seinen Lesern über die Zukunft der Zeitungen. Anlass sind mehrere Artikel zum Thema (von Robin Meyer Lucht, der ein Shareware-Modell vorschlägt, und von Frank Patalong, der die interessanten neuen Wege der NYT erklärte). Die Leser, so Konrad Lischka, reagieren auf die Zeitungskrise nicht gerade sentimental: "Bemerkenswert bei diesen Kommentaren ist, dass die Ablehnung sich nicht gegen spezielle Produkte oder Vertriebsformen richtet. Die leidige Print-Online-Debatte ist für die Leser gar nicht relevant - sie halten die traditionellen Medien insgesamt für überholt. Abfällig äußern sich Leser über 'Mammutverlage', Produkte, die 'halt für die Massen produziert' werden und Medienmacher, die sie für 'abgehoben und arrogant' halten."

Auch die Medienlese verlinkt auf mehrere Artikel zum Thema.

TAZ, 21.02.2009

Susanne Messmer hält den 1991 an AIDS gestorbenen Autor Ronald M. Schernikau, dessen Biografie Matthias Frings nun geschrieben hat, der Wiederentdeckung wert: "Er war ein grellbunter Blindgänger, ein Querschläger und Meister der Leidenschaft, Eitelkeit und Albernheit. Er saß zwischen allen Stühlen, war immer und in vollster Absicht zu den falschesten Augenblicken an den falschesten Orten. Er war eine schreibende, kommunistische Diva in Berlin und passte weder in die Schwulenszene Kreuzbergs noch in irgendwelche Parteien und schon gar nicht in den Literaturbetrieb. Und doch war Ronals M. Schernikau eine der schillerndsten Autorenfiguren, die Westdeutschland in den Achtzigerjahren hervorgebracht hat." Messmer spricht auch mit Frings über sein Buch.

Weitere Artikel: Sven Hansen hat sich in Bombay umgehört, was die Leute dort von Danny Boyles Oscar-Favoriten "Slumdog Millionär" halten. Die Schriftstellerin Jagoda Marinic, die kürzlich von Heidelberg nach Berlin gezogen ist, fragt sich, wie das Leben in Schreiben in Berlin so ist und meint: "Sehr viel 'Meta' hier." Thomas Mauch hört in Berlin Klaus Theweleit und Rainer Höltschl über ihren Jimi Hendrix diskutieren.

Besprochen werden eine Pariser Ausstellung über das Modehaus Sonia Rykiel und Bücher, darunter Christian Meiers Essay "Kultur, um der Freiheit willen" und David Benioffs Roman "Stadt der Diebe" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Das taz mag ist heute ein reise mag.

Und Tom.

FAZ, 21.02.2009

Walter Jens möchte sterben. Das hat der Theologe Hans Küng von seinem demenzkranken Freund selbst gehört: "Zurück von einer längeren Auslandsreise, höre ich von seiner Frau, Walter sei seit zwei Tagen wieder merkwürdig aktiv geworden und gehe im Haus selbständig auf und ab. Und so sage ich ihm denn bei meinem Besuch, meine Hand am Tisch auf seine legend: 'Es geht dir ja wieder etwas besser, Walter.' Doch seine Antwort kommt hervorgestoßen: 'Nein, nein. Es ist schrecklich. Ich möchte sterben.' Dann fragt er ohne jeden Zusammenhang nach seiner Mutter, wie wenn sie noch am Leben wäre." Küng plädiert für eine Entkriminalisierung der Sterbehilfe und appelliert an Juristen, Ärzte, Politiker, Kirchen und Medien, sich dafür einzusetzen.

Weiteres: Andreas Kilb berichtet über die Konferenz "Die Deutsche Frage in der SBZ und DDR". Carolin Pirich erzählt, wie die DDR Anfang der achtziger Jahre eine eigene Atomuhr bauen wollte. Jürgen Dollase isst ganz gut in der Betriebskantine der Deutschen Börse.

Besprochen werden die Ausstellung "Dürer, Tizian, Velazquez - Die Künstler der Kaiser" im Musem Frieder Burda in Baden-Baden, ein Konzert der Band Station 17, zwei CDs mit Mozartarien, gesungen von Annette Dasch und Diana Damrau, eine CD von Razorlight und Bücher, darunter Aleksander Hemons "Lazarus" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

In Bilder und Zeiten besucht Andreas Platthaus den Fotografen Edgar Lissel, der Bakterienkulturen fotografiert. Katharina Teutsch hat einen Ortstermin mit Martin Hirsch und Ralf von Grafenstein, die mit eyeplorer eine neue Suchmaschine erfunden haben, die Wissen auf einer Scheibe präsentiert. Helmuth Kiesel schreibt zum Hundertsten des Futuristischen Manifests. Bernhard Schlink spricht im Interview über die Verfilmung seines Romans "Der Vorleser".

In der Frankfurter Anthologie stellt Ludwig Harig ein Gedicht von Hugo Ball vor:

"Epitaph (für mich selbst)

Der gute Mann, den wir zu Grabe tragen,
Sieht wächsern aus und scheint erstarrt zu sein;
Doch war er so verliebt in allen Schein,
Dass man sich hüten muss, ihn totzusagen.
..."

SZ, 21.02.2009

Bernd Graff erklärt, warum für seine Begriffe der Prozess gegen die Filesharing-Börse "The Pirate Bay" von eminenter Bedeutung für unsere Gegenwart ist: "TPB, wie die Plattform abgekürzt wird, ist die größte Provokation für etablierte Rechtsauffassungen, seit es Gesetze gibt." Dagegen ist Mord und Totschlag gar nix!

Weitere Artikel: Die Historiker der letzten Jahrhundert müssen jetzt wohl einen Gang nach Canossa antreten: Der Gang nach Canossa war, anders als die in Geschichtsbüchern gedruckte Legende will, jüngster quellenkritischer Erkenntnis zufolge nämlich gar kein Gang nach Canossa. Kurt Kister ruft die CDU in einer Glosse zur marktwirtschaftlichen Ordnung. In einem von zwei den Oscars gewidmeten Artikeln stellt Roland Huschke den großen Favoriten "Slumdog Millionär" vor. Warum es um die Oscars insgesamt nicht so gut steht, erklärt Susan Vahabzadeh. Cathrin Kahlweit porträtiert den französischen Priester Patrick Debois, den unermüdlichen Sucher nach Spuren von Opfern des Holocaust. Jonathan Fischer informiert über Pläne der Jackson Five für ein Sklaverei-Museum in Nigeria. Auf der Literaturseite berichtet Johannes Willms, dass Frankreich mit reichlich Verspätung Stefan Zweigs Novelle "Reise in die Vergangenheit" entdeckt hat.

Besprochen werden der Auftakt eines Tschaikowksi-Zyklus mit der von Tatjana Gürbaca inszenierten und Dmitri Jurowsky dirigierten Oper "Mazeppa" in Antwerpen, Sebastian Nüblings Hamburger Uraufführung von Oliver Bukowskis neuem Stück "Die kritische Masse", die große "Robert Lebeck"-Ausstellung im Berliner Martin-Gropius-Bau und Bücher, darunter Tilman Jens' Abrechnung "Demenz" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Im Aufmacher der SZ am Wochenende schreibt Rebecca Casati über eine Begegnung mit dem Oscar-Favoriten Mickey Rourke. Holger Gertz porträtiert Hans-Dieter Hoernig, Chef der Modelleisenbahnen auf deutschen Bahnhöfen. Auf der Historienseite geht es um den Anfang des scheinbar unbeendbaren Konflikts zwischen Juden und Palästinensern. Auf der Literaturseite werden Katja Lange-Müllers Erinnerungen an die Nacht des 9. November 1989 vorabgedruckt. Im Interview spricht Johannes Willms mit dem Modeschöpfer Hubert de Givenchy.