Heute in den Feuilletons

#IranElection

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.06.2009. Die amerikanischen Blogs sind nach wie vor völlig fasziniert von den Protesten im Iran und der Rolle, die Twitter darin spielt. "Der Iran twittert Morgenluft", freut sich auch die Welt. Die deutschen Blogs rechnen nach dem Internetzensurgesetz der großen Koalition vor allem mit der SPD ab. In der FR legt Calixto Bieito die Quellen seiner Inspiration offen: Es ist eine katholische Welt. Die taz fragt: Warum dürfen Atheisten nicht auf Nahverkehrsbussen werben? Die FAZ bringt eine Fatwa: Wahlbetrug verstößt auch gegen die Scharia!

Berliner Zeitung, 17.06.2009

Die Berliner Zeitung hat ein Dossier zu den Ereignissen im Iran zusammengestellt: Martina Doering lässt sich am Telefon von Augenzeugen die Ereignisse in Teheran und Shiraz schildern. Frank Herold porträtiert das Ehepaar Mussawi. Marin Majica berichtet, wie Journalisten behindert werden und welche Bedeutung Twitter für die iranischen Demonstranten hat. Bahman Nirumand erklärt im Interview die Hintergründe des Wahlbetrugs. Es gibt ein kleines Lexikon zum politischen System im Iran. Und schließlich informiert uns ein Bericht über die nette Aufnahme Ahmadinedschads in Moskau beim Treffen der Shanghai-Organisation für Zusammenarbeit: Chinas Präsident Hu Jintao war da, Indiens Premier Manmohan Singh, Pakistans Präsident Asif Ali Zardari, Hamid Karsai aus Afghanistan und Russlands Staatschef Dmitri Medwedew als Gastgeber - "die illustre Runde beglückwünschte ihn zum Wahlsieg".

Jörg Michel ist froh, dass mehr als 130.000 Menschen in Deutschland die Petition gegen die geplante Sperrung von Internetseiten unterzeichnet haben, auch wenn das von Ursula von der Leyen angeschobene Gesetz wohl dennoch nächste Woche verabschiedet werde. "Zwar wird das Gesetz zunächst befristet. Der Dammbruch aber ist da: Die Regierung baut jetzt eine Zensurinfrastruktur auf, die man jederzeit ausweiten kann. Die mögliche Liste ist lang: Warum nicht auch gewalttätige Filme verbieten? Oder sonstiges angeblich anstößiges Material? Längst wird in der Politik schon darüber diskutiert, wie man sich das neue System sonst noch zu Nutze machen könnte. Oft nur hinter vorgehaltener Hand. Immer öfter aber auch ganz ungeniert. Bildungsministerin Annette Schavan etwa hat Gewaltseiten im Visier. Die hessische Landesregierung Glücksspiele. Der CDU-Abgeordnete Thomas Strobl Killerspiele. Irgendwann sind auch missliebige Meinungsäußerungen dran."

Aus den Blogs, 17.06.2009

Die amerikanischen Blogger sind nach wie vor völlig fasziniert von den Protesten im Iran und natürlich auch der Rolle, die das Internet darin spielt.

Cory Doctorow gibt in BoingBoing Tipps zum Umgang Twitterlink #IranElection, wo im Sekundenrhythmus Informationen (aber auch Desinformationen) iranischer und anderer Internetnutzer zu den Protesten einlaufen. Unter anderem rät er außeriranischen Twitterern so zu tun, als wären sie Iraner: "Help cover the bloggers: change your twitter settings so that your location is TEHRAN and your time zone is GMT +3.30. Security forces are hunting for bloggers using location and timezone searches. If we all become 'Iranians' it becomes much harder to find them."

Andrew Sullivan schloss seinen langen Arbeitstag mit diesem Foto



und ein paar Tweets aus #IranElection: "I'm good and safe for now. just my leg wounded a little bit, I don't think I can run fast any time soon." Die Huffington Post präsentiert ein Video, in dem iranische Künstler die Weltöffentlichkeit zur Solidarität auffordern. Und Gawker macht sich über BoingBoing und Andrew Sullivan lustig, die nach Serverproblemen glaubten, sei seien vom Iran angegriffen worden.

Die New York Times zeigt in dem Redaktionsblog The Lede, wie eine Zeitung die Aktualität des Netzs mit der Tiefe ihrer Hintergrundinformationen verbinden kann: Letzter Eintrag ist ein Verweis auf ein Interview mit Trita Parsi vom National Iranian American Council.

Ein ähnlich aktuelles Redaktionsblog hat auch der Guardian. Und viele weitere Links im Ententeich.

In Deutschland wird natürlich vor allem das Kinderporno- und sonstige Sperren ermöglichende Gesetz der großen Koalition diskutiert: "Das war's dann wohl endgültig mit der SPD und mir", schreibt Johnny Häusler in Spreeblick.

Netzpolitik kommentiert zum selben Thema: "Verbraucher- und Datenschützer hatten in den vergangen Wochen wiederholt davor gewarnt, so ein 'Placebo-Gesetz' zu verabschieden. Zunächst sah es auch so aus , als würde die SPD eine Wischiwaschi-Einigung blockieren, aber was solche Aussagen wert sind, haben wir ja bei der Zensurdebatte nicht zum ersten Mal erlebt." Auch Cory Doctorow greift das Thema in Boingboing auf.

Kreativität ohne Rollator? Das geht nicht. Matthias Spielkamp berichtet in seinem Immateriblog von einem weiteren Treffen der Kreativwirtschaft: "Ein seltsames Erlebnis, bei der Jahreskonferenz der Initiative Kultur- und Kreativwirtschaft zu sein. Kaum einer der (vielen) vermeintlich kreativen Podiumsteilnehmer verzichtete auf den Appell an 'den Staat' oder 'die Regierung'."

FR, 17.06.2009

Theaterregisseur Calixto Bieito legt im Interview mit Peter Michalzik den Ursprung seiner Inspiration offen: "Ich bin eine spanische Mischung: Die Jesuiten, bei denen ich erzogen wurde, haben mir einerseits die Welt von Bunuel eröffnet, ich habe dort alle seine Filme gesehen, andererseits haben sie mich geschlagen und sie haben versucht, mich sexuell zu missbrauchen. Das war damals normal, ich war längst nicht der einzige. Heute ist es dauernd als Skandal in den Zeitungen, damals war es normal. Es ist die katholische Welt."

Weitere Artikel: Politologe Herfried Münkler erklärt, "warum die Linke von der Krise des Kapitalismus nicht profitieren kann" ("Die aktuelle Krise, die eine Bestätigung der Prognosen hätte sein sollen, hat bei der Linken zu einer Konfusion von Theorie und Praxis geführt, wie sie schlimmer nicht sein könnte"). Gerd Höhler besucht das neue Akropolis Museum in Athen, wo man sich Hoffnung auf Rückkehr der Elgin Marbles aus London macht. Hans-Jürgen Linke kommentiert in Times mager die Kriminalstatistiken deutscher Städte (Frankfurt liegt vorn!)

Welt, 17.06.2009

"Der Iran twittert Morgenluft", freut sich Hajo Schumacher und erklärt, wie ein Volksaufstand via Internet und Handy aussieht: "Bis zu 100 neue Kurznachrichten treffen sekündlich ein. Und es dauert eine Weile, um herauszufinden, welcher Absender welche Rolle spielt. Nur wenige haben wirklich etwas gesehen, viele wollen einfach auch mal was sagen, es gibt Menschen mit Helfersyndrom, Schwätzer, Wichtigtuer und Lügner. Die Filter- und Erklärfunktion, die bei klassischen Medien der Journalist übernimmt, fehlt völlig. Stattdessen funktioniert die Schwarmintelligenz ganz gut. Die Menge der Nutzer entwickelt zumindest ein ungefähres kollektives Gespür dafür, wer Relevantes zu sagen hat. Gegen ungeprüfte Informationen, Halbwahrheiten und Tartarenmeldungen stehen User, die Plausibilitätsbelege fordern, widersprechen oder korrigieren."

Weiteres: Wolfgang Sofsky will sich in Sachen Schweinegrippe nicht beruhigen lassen, schon gar nicht von den Behörden: "Warum muss man fortwährend beruhigt werden, wenn alles so harmlos ist?" und raunt düster: "Gegen den Massentod ist keine Gesellschaft gewappnet". Eckhard Fuhr vereinigt wieder in der Randspalte die deutsch-deutsche Literatur. Gerwin Zohlen meldet, dass St. Petersburg seine Hochhauspläne auf Eis legt, bei deren willfähriger Planung sich die internationale Architekturelite sehr "unrühmlich" hervorgetan habe. Katja Schwemmers unterhält sich mit Nicky Wire von den Manic Street Preachers über ihren vor 14 Jahren verschwundenen Texter Richey James Edwards, desses Notizbücher die Band jetzt vertont hat. Thomas Lindemann begräbt Fix & Foxi.

Besprochen werden die Schau der Sammlung Pietzsch in der Neuen Nationalgalerie in Berlin, der Verschwörungsthriller "State of Play" und eine Adaption von Heinrich Manns "Professor Unrat" am Berliner Maxim Gorki Theater.

TAZ, 17.06.2009

Johannes Gernert begleitet für die Tagesthemenseite einen Bus mit dem atheistischen Werbespruch "Es gibt (mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit) keinen Gott." Die Kampagne, erzählt er, "wollte ihre Botschaft auf deutsche Nahverkehrsbusse drucken lassen: Es gibt keinen Gott. In London hatte das funktioniert und in etlichen anderen europäischen Ländern auch, sogar in den USA. Nur in Deutschland weigerten sich sämtliche Verkehrsbetriebe, den Slogan durch die Städte zu fahren. Bibelzitate, Brüste, Bordelle, alles vertretbar. Aber Atheismus?" (Dürfen die Verkehrsbetriebe bezahlte Werbung, die nicht gegen die Verfassung verstößt, tatsächlich ablehnen?)

Auf den Tagesthemenseiten analysiert Bahman Nirumand die Proteste in Teheran. Auf der Meinungsseite wirbt Hilal Sezgin um Toleranz für Tariq Ramadans Äußerungen zu Homosexualität und Islam. Auf der Kulturseite werden Maren Ades Film "Alle Anderen", Rawi Hages Debütroman "Als ob es kein Morgen gäbe" und neue Zeitschriften besprochen.

Und Tom.

NZZ, 17.06.2009

Alessandro Topa schickt aus Teheran seine Eindrücke der vergangenen Tage, zum Beispiel von der Wahl am Freitag selbst: "Schienen sich im Süden und Osten der Stadt die Anhänger für Ahmadinejad und Moussawi die Waage zu halten, war es in der nördlichen Stadtmitte unmöglich, einen Lehrer zu Wort kommen zu lassen, der erklären wollte, weshalb er dem amtierenden Präsidenten seine Stimme gegeben hatte. 'Warum reden Sie mit diesem alten Spinner? Fragen Sie uns, weshalb wir alle Moussavi wählen werden!', hörte man aus der Reihe der wartenden Frauen. Erst am Abend des Wahltags verdichten sich Hinweise, dass im Westen der Stadt Wähler mit der Ausrede abgespeist werden, es seien keine Stimmzettel mehr vorhanden. Diese weigern sich, unverrichteter Dinge zu gehen, und protestieren so lange, bis sie trotz handgreiflichen Auseinandersetzungen doch ihre Stimme abgeben dürfen."

Besprochen werden eine Ausstellung zur Geschichte der Kunstzeitschrift Labyrinthe im Genfer Musee Rath, ein neues Stück von Pina Bausch in Wuppertal, Ernst Halters Roman "Jahrhundertschnee", Antonio Lobo Antunes' Romans "Gestern in Babylon hab ich dich nicht gesehen" und Ulrich Fröschles Biografie von Ernst Jüngers Bruder Friedrich Georg Jünger (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

FAZ, 17.06.2009

Der im Exil lebende iranische Rechtsgelehrte Hassan Yousefi Eshkevari legt dar, warum die mutmaßlichen Wahlfälschungen nicht nur gegen die in der Verfassung festgeschriebenen Grundsätze der Republik, sondern auch gegen basale Regeln des Islam verstoßen: "Gerade jene, denen die Gesellschaft ein verantwortliches Mandat übertragen hat, müssen die Kriterien der Gerechtigkeit erfüllen. ... Wenn die Ergebnisse der Wahlen falsch oder ungenau sind und die Wahl der Mehrzahl der Bevölkerung mit Absicht missachtet wurde und der gewählte Präsident nur das Produkt eines Wahlputsches ist, muss festgestellt werden, dass bei diesen Wahlen die republikanischen Grundsätze verletzt wurden - und dass man die islamischen Grundsätze der Scharia vorsätzlich ignorierte."

Aus China erzählt Mark Siemons die hoch interessante Geschichte des Prozesses gegen eine Frau, die sich gegen die sexuellen Zudringlichkeiten eines Regierungsbeamten mit einem tödlichen Messerstich zur Wehr setzte. Blogger haben dafür gesorgt, dass die Angelegenheit nicht stillschweigend erledigt werden konnte. Siemons' Resümee: "Der Fall zeigt ein weiteres Mal, wie die Öffentlichkeit, die das Internet in China herstellt, zur Öffnung und wachsenden Zurechenbarkeit der staatlichen Institutionen beiträgt." (Während man in Deutschland in den nächsten Tagen ein Zensurgesetz verabschieden wird!)

Weitere Artikel: In der Glosse empört sich Jordan Mejias über die Dreistigkeit, mit der in Brooklyn ein ambitioniertes und nur wegen Frank Gehrys Entwurf akzeptiertes Bauprojekt in der Krise nun in einer abgespeckten Version ohne Gehry, Ambition und Charme durchgesetzt wird. Auf das "Dilemma des Heimpersonals" im Streit um Patientenverfügungen weist Oliver Tolmein hin. Martin Lhotzky zieht eine insgesamt freundliche Bilanz der Wiener Festwochen. Patrick Bahners berichtet von einer Veranstaltung der rheinischen Kirche zur Erinnerung an Johannes Rau. Angelika Heinick informiert über Bemühungen des französischen Staats, verschwundene Kunstleihgaben aufzuspüren.

Besprochen werden die im Handstreich eingerichtete Banksy-Ausstellung in Bristol (Bilder), Maren Ades Silberner-Bär-Gewinner-Film "Alle Anderen" und Bücher, darunter Mahmud Doulatabadis Roman (hier eine Leseprobe) "Der Colonel" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 17.06.2009

Das SZ-Feuilleton glänzt heute durch zwei Reden, die nachgedruckt werden: Monika Maron erklärt in ihrer Dankesrede zum Preis der Deutschen Nationalstiftung, warum sie das Wort "DDR-Literatur" nicht mehr hören kann. Und Martin Walser erklärt in seinem Beitrag zur Festschrift "200 Jahre Sparkassen", dass die Landesbanken viel Unheil von sich hätten abwenden können, hätten sie Mikko Kleins 2003 erschienene Dissertation gelesen.

Außerdem: Thomas Steinfeld sinniert über Komatrinker. Jens Bisky stellt Pläne für eine Berliner Kunsthalle vor. Eye schreibt zum Tod des Saxophonisten Charlie Mariano.

Besprochen werden Maren Ades Film "Alle Anderen" (hier unsere Berlinale-Kritik), eine Ausstellung über deutsche Juden in New York im Jüdischen Museum München, einige CDs, zwei venezianische Schauen mit neuer Kunst in alten Museen - Mona Hatoum im Palazzo Querini Stampalia und Axel Vervoordt im Palazzo Fortuny, Nicholas Hytners Inszenierung von Racines "Phädra" am Londoner National Theatre mit der großartigen Helen Mirren, eine Ausstellung zu Bach und Mendelssohn im Dritten Reich im Eisenacher Bachhaus ("Das kleine Eisenach und nicht das große Leipzig, die Stadt des großen Bachfestes, hat eine Ausstellung zustande gebracht, in deren äußerer Unscheinbarkeit dennoch viel Zündstoff steckt", lobt Wolfgang Schreiber) und Bücher, darunter Stefan Rehders Band über Euthanasie "Die Todesengel" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).