Heute in den Feuilletons

Die Toleranz der Hanchinesen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.07.2009. Die NZZ schlägt Alarm: Peking plant, das historische Zentrum der 2000 Jahre alten uigurischen Stadt Kashgar an der Seidenstraße abzureißen. In der FR schreibt György Dalos über den Mord an Natalja Estemirowa. Die FAZ sieht das Ende des deutschen Filmfördermodells unweigerlich herannahen. Der SZ graut vor den Kommentaren in Nachtkritik. Den Blogs graut vor den Orwellianischen Rückrufaktionen von Amazon.

Welt, 20.07.2009

Wolf Lepenies würdigt Leszek Kolakowski, der schon 1981 gegen den Kulturrelativismus anschrieb: "Die Stärke Europas, so betonte er, liegt in der Fähigkeit zur Selbstkritik. In diesem Sinn kann die europäische Kultur eine Überlegenheit beanspruchen und ihre Werte nicht nur verteidigen, sondern weltweit, wenn auch ohne Zwang, verbreiten. 'Im beständigen Zweifel an sich selbst kann die europäische Kultur ihr geistiges Gleichgewicht und die Rechtfertigung ihres Anspruchs auf Universalität finden.'"

Weitere Artikel: Eckhard Fuhr erkundet in der Glosse die Rolle des Kulturminister Bernd Neumann im Wahlkampf und fordert einen "kulturpolitischen Ideenwettbewerb der Parteien".

Besprochen werden Tschaikowsky und Rachmaninow mit Netrebko in Baden-Baden, eine Georg-Waldmülller-Ausstellung in Wien und eine Biografie über den Resistant Adam von Trott zu Solz.

NZZ, 20.07.2009

Matthias Messmer schlägt Alarm: Peking plant, das historische Zentrum der 2000 Jahre alten uigurischen Stadt Kashgar an der Seidenstraße abzureißen: "Damit verliert Kashgar nicht nur sein einzigartiges architektonisches Stadtbild, sondern auch die jahrhundertealten Lebens- und Arbeitsräume der Mehrheit seiner Bewohner. Wie schon während der Kulturrevolution würde damit ein weiteres Stück an Weltgeschichte vollständig ausgelöscht. Gemäß dem Plan der chinesischen Regierung bleiben nur ungefähr 15 Prozent der alten Häuser stehen, als eine Art Freilichtmuseum oder Themenpark, um den Touristen aus aller Welt die alte islamische Kultur und die Toleranz der Hanchinesen - die in der Bevölkerung im Allgemeinen durchaus vorhanden ist - vor Augen zu führen."

Weiteres: Vierzig Jahre nach Neil Armstrongs kleinen Schritt auf den Mond fragt sich Martin Meyer, welchen großen Sprung die Menschheit eigentlich damals getan hat: vielleicht den "Rücksprung zur Erde, die eben doch bewohnbarer ist als der öde Mond". Thomas Schacher berichtet vom recht prominent besetzten Verbier-Festival. Klaus Bartels klärt Sinn und Herkunft des Wortes "Test". Und der Historiker Michael Brenner sieht einen Zusammenhang zwischen Robert Spaemanns Forderung, das Christentum müsse auch Juden bekehren wollen, und der verhaltenen Sprache des Papstes bei seinem Israelbesuch.

FR, 20.07.2009

"Beunruhigend" findet György Dalos die Zusicherung des tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow, die Ermittlungen im Fall der ermordeten Menschenrechtlerin Natalja Estemirowa "würde man 'im Einklang mit der Traditionen der Tschetschenen' führen. Diese 'Traditionen' bedeuteten nämlich zumindest in seiner Regie bisher ausschließlich Menschenraub, Folter, Mord und Totschlag."

Arno Widmann erzählt in seinem Nachruf auf den polnischen Philosophen Leszek Kolakwoski, warum dieser nie in Frankfurt lehrte: "Als es 1970 darum ging, wer in Frankfurt/Main den philosophischen Lehrstuhl von Theodor W. Adorno übernehmen sollte, schlug Jürgen Habermas den 1927 in Radom geborenen, inzwischen in Berkeley lehrenden Leszek Kolakowski vor. Die Fachschaft des Philosophischen Seminars schickte dem Philosophen, der noch immer einen polnischen Pass hatte, daraufhin einen offenen Brief, in dem sie ihm mitteilte, dass sie ihn für ungeeignet hielt." (Und zwar wegen "mangelnder marxistischer Linientreue", wie der Spiegel weiß).

Weitere Artikel: Sylvia Staude sieht sich die neue Krimireihe von Suhrkamp an und findet - mit Ausnahme von Don Winslow - solides Mittelmaß. In Times Mager beschließt Peter Michalzik, in diesem Urlaub Unbekanntes in Frankfurt zu erkunden: die Alte Gasse. Auf der Medienseite schreibt Sebastian Moll im Nachruf auf den amerikanischen Fernsehjournalisten Walter Cronkite: "Mit Walter Cronkite wird das Ethos einer untergegangen Journalistengeneration zu Grabe getragen."

Besprochen werden die Aufführung zweier Kurzopern von Tschaikowsky ("Jolanthe") und Rachmaninow ("Aleko") bei den Festspielen in Baden-Baden (Georg Rudiger ist speziell von Anna Netrebkos Jolanthe hingerissen), Inge Jens' Erinnerungen und Dave Eggers' biografischer Roman "Weit gegangen. Das Leben des Valentino Achak Deng" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 20.07.2009

"Das Fotoalbum der Eliten ist eine Skandalchronik der Versager", schleudert Peter O. Chotjewitz der Upperclass entgegen. Und der 20. Juli macht es auch nicht besser: "Hitler erzählte der versammelten Generalität, und dies gleich nach seiner Ernennung, dass er gegen die Sowjetunion und notfalls auch gegen die Westmächte Krieg führen werde. Die Offiziere wussten, dass so ein Krieg nicht zu gewinnen war, aber sie knirschten nur mit den Zähnen. Sie zeigten Hitler ihre Verachtung. Aber sie ließen die Colts im Halfter stecken. So eilten die Eliten von einer Katastrophe zur nächsten - und das tun sie heute noch." (Aber immerhin haben wir einen Peter O. Chotjewitz, der diese Zustände benennt!)

Weitere Artikel: Barbara Kerneck erzählt von unangenehmen Vorgängen rund um die Stasi-Geschichte des Literaturzentrums Neubrandenburg. Robert Schimke freut sich über eine "Freiluftbibliothek Marke schrumpfende Stadt" in Magdeburgs abgehängtem Stadtteil Salbke. Marc Peschke schreibt den Nachruf auf den Architekturfotografen Julius Shulman.

Besprochen werden die Ausstellung der Fotografin Herlinde Koelbl im Berliner Martin-Gropius-Museum und das U2-Konzert im Berliner Olympiastadion (bei dem Daniel Bax einen Hauch von Kirchentag verspürte).

Und Tom.

Weitere Medien, 20.07.2009

(via Turi2) Der DuMont-Schauberg-Konzern, dem mit Titeln wie der FR und der Berliner Zeitung inzwischen eine Reihe mittelgroßer Zeitungen gehören, will gehörig rationalisieren, berichtet Lutz Knappmann in der Financial Times Deutschland nach einem Gespräch mit Verleger Konstantin Neven DuMont: "Neven DuMont strebt vor allem eine enge inhaltliche Verknüpfung der einzelnen Blätter an. Über sogenannte Syndication-Pools können die Titel untereinander Texte austauschen."

Aus den Blogs, 20.07.2009

Amazon hat Buchkäufern zwei Bücher (ausgerechnet von Orwell!) gelöscht, weil sie von einem Verlag verkauft worden waren, der offensichtlich keine Rechte dazu hatte. Peter Sennhauser kommentiert in Netzwertig: "Die Kunden erhielten den Kaufpreis gutgeschrieben. Was nichts an der orwellschen Horrorvision ändert, dass einem ein Verkäufer Waren, die man gekauft hat, unter irgendwelchen Begründungen nachts wieder aus dem Haus holt und einen Scheck über den Kaufpreis hinterlegt. Und das zu einem Zeitpunkt, an dem 'Digital Rights Management' oder die Verschlüsselung von digitalen Inhalten langsam aber sicher als von den Kunden nicht akzeptiertes Konzept gescheitert schien."

(Via netzpolitik) Der elektrische Reporter hat ein Videointerview mit Thomas Hoeren, Richter am OLG Düsseldorf, über das Urheberrecht online gestellt. Überschrift: "Der Kampfbegriff Geistiges Eigentum ist falsch."

"People just get pissed when you don?t shake their hand", klagt Michael Arrington in Techcrunch, dabei sei es das einzige Mittel gegen eine weitere Ausbreitung der Schweinegrippe.

Und Alexander Kissler begreift angesichts des neuen ZDF-Studios einige goldene Regeln des Fernsehens: "Einigermaßen unerheblich ist es im Reich der Tempi, zu welchen Themen sich die Effekte fügen. Am Samstag waren die drei wichtigsten öffentlich-rechtlichen Nachrichtengeschichten: ein Erdrutsch in Sachsen-Anhalt, die Schweinegrippe auf Mallorca, das Verbot der Himmelslaternen in Nordrhein-Westfalen."

FAZ, 20.07.2009

Die großen Kinoketten wollen die Filmtheaterabgabe nicht mehr zahlen - und wenn kein Wunder geschieht, meint ein apokalyptisch gestimmter Andreas Kilb, droht das Ende des deutschen Filmfördermodells und damit auch des deutschen Films, wie wir ihn kennen: "Alle haben das Unheil kommen gesehen. Viele haben geglaubt, es träfe sie nicht. Aber die Zerstörung hat längst begonnen, das Gebäude wankt, das System steht vor dem Absturz. Und so könnte es sein, dass 2008, das Jahr der Erfolge und Marktanteile, für alle das letzte gute Jahr war: das letzte gute Jahr des deutschen Films."

Weitere Artikel: Der Ökonom Viktor Vanberg denkt über die "Rahmenbedingungen" der Marktwirtschaft nach. In der Glosse beklagt Dirk Schümer den desolaten finanziellen Zustand italienischer Opernhäuser. Ingeborg Harms liest in deutschen Zeitschriften vor allem Skeptisches zu den USA und auch Obama. Christian Wildhagen berichtet vom Auftakt der Sommerfestspiele in Baden-Baden. Gemeldet wird, dass Marcus Hinterhäuser seinen Vertrag als Musikchef in Salzburg nicht verlängert. Ein Nachruf auf die US-Moderatoren-Legende Walter Cronkite kommt von Jordan Mejias und Lorenz Jäger schreibt zum Tod des polnischen Philosophen Leszek Kolakowski.

Die Montags-Geburtstagsglückwünsche für die Woche gehen an den Komponisten Gerhard Stäbler (60), die Künstlerin Judy Chicago (70), den Pianisten Alexis Weissenberg (80) und den Filmregisseur Peter Yates (80).

Besprochen werden das einzige deutsche U2-Konzert im Berliner Olympiastadion, und Bücher, darunter der Auswahlband "Visionen des Politischen" mit Aufsätzen des Philosophen Quentin Skinner und E.E. Cummings' frühe Sonette "was spielt der Leierkasten eigentlich" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 20.07.2009

Mit einer Mischung aus Bewunderung und Befremden stellt "midt" die Theaterwebseite nachtkritik vor, die immer einen Tag früher da ist als seine (oder ihre) Zeitung. Mit spitzen Fingern fasst "midt" vor allem die Kommentarmöglichkeit an, die die Seite recht lebendig machen kann: "Dass all jene, die unter einem Zuviel, häufiger aber unter zu wenig professioneller Beobachtung leiden, sich mit Hilfe von Nachtkritik revanchieren können und das Verhältnis zwischen Machern und Merkern auf den Kopf stellen, ist so problematisch wie erfrischend." (Der Nachtkritiker Nikolaus Merck hat sich übrigens vor einigen Wochen in einem Tagesspiegel-Interview erhellend darüber geäußert, wie das Netz die Kritik verändert.)

Weitere Artikel: Javier Caceres resümiert neue Erkenntnisse zum berühmten Foto "Loyalistischer Soldat im Moment seines Todes" von Robert Capa aus dem Spanischen Bürgerkrieg, das offensichtlich an einem Ort aufgenommen wurde, wo es zu dieser Zeit keine Kampfhandlungen gab, so dass die Hypothese der Fälschung immer wahrscheinlicher wird. Der Literaturwissenschaftler Manfred Geier schreibt zum Tod von Leszek Kolakowski. Alexander Menden begutachtet den Londoner Serpentine-Pavillon (Bilder) des Tokioter Büro SANAA, eine provisorische und offensichtlich äußerst zarte Architektur - aber sie muss auch nur eine Saison lang halten. Alexander Kissler kennt Interna aus der Pius-Bruderschaft, die in der Frage einer Rückkehr nach Rom gespalten ist. Laura Weißmüller berichtet von der Minibuchmesse "Kleine Verlage am Großen Wannsee".

Besprochen werden zwei kleine Opern von Rachmaninow und Tschaikowsky mit Anna Netrebko in Baden-Baden, die Ausstellung "Hermann Obrist - Skulptur, Raum, Abstraktion um 1900" in München, einige neue DVDs, internationale Theaterproduktionen des Festivals "Orient-Express" in Stuttgart und Bücher, darunter John Griesemers neuer Roman "Herzschlag" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).