Heute in den Feuilletons

Unmöglich, sich nicht beobachtet zu fühlen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.08.2010. In der NZZ trauert Roland Barthes um seine Mutter. In der SZ shootet Nicholson Baker sein Ego. Die Welt greift literaturkritische Insiderspielchen auf. Da geht's ums Gstrein und Hettche und FAZ und Zeit und SZ. Und wir setzen die Links! Die FAZ geißelt die Rolle westlicher Handy-Produzenten in den Kriegen  im Kongo. In der taz ruft Romani Rose anlässlich der Ausweisung von Roma aus Frankreich: "Die Roma sind Bürger Europas."

NZZ, 21.08.2010

Stefan Zweifel liest für Literatur und Kunst Roland Barthes' aus Tausenden von Notizzetteln nunmehr ediertes "Tagebuch der Trauer", in dem der Autor den Tod seiner Mutter reflektiert: "Einmal sogar betet Barthes: Am 9. Juni 1978 in der Eglise Saint-Sulpice. Es möge, so betet er, seine Studie 'Die helle Kammer' über die Fotografie gelingen. Der Studie war als geheime Dunkelkammer eine Fotografie seiner Mutter eingeschrieben. Die Fotografie selbst lässt er im Buch weg, beschreibt sie nur: wie die Mutter als Mädchen 1898 in einem Wintergarten steht, ein Anblick, den keine Theorie erklären, keine Theorie heilen kann - aber in der Studie wird sein hilfloses 'Schluchzen' vor der Fotografie, das er im 'Tagebuch der Trauer' bereits notiert hatte, Sprache. Und Theorie."

Außerdem: Der Althistoriker Stefan Rebenich erinnert außerdem an Alarichs Eroberung Romas im August 410 (dazu auch hier). Und Hubertus Adam unterhält sich mit der Architektin Zaha Hadid. Besprochen werden neue Bildbände über Proust.

Im Feuilleton erzählt der Biochemiker Gottfried Schatz, dessen NZZ-Kolumne "Jenseits der Gene" gerade als Buch erschien, "wie das Leben auf der Erde das Sonnenfeuer zähmte". Franz Haas flaniert durch das Dörfchen Capalbio etwa hundert Kilometer von Rom, wo das linke Establishment der italienischen Hauptstadt seine Sommerhäuser unterhält. Beat Stauffer besucht den ehemaligen Schlachthof von Casablanca, der zu einem Kulturzentrum umgewidmet wurde. Besprochen wrden Bücher, darunter Richard Powers' Reportage über die Kartierung seiner Gene (mehr hier).

Welt, 21.08.2010

Tilman Krause greift in der Literarischen Welt, ohne Namen zu nennen, einige literaturkritische Insiderspielchen der letzten Zeit auf. Einerseits wundert er sich, dass Iris Radisch einen Roman von Kristof Magnusson in ihrem Videoblog in der Zeit lobte, während sie ihn in einer Fernsehsendung verriss. Dann verstimmt ihn, dass Christopher Schmidt Thomas Hettches neuen Roman "Die Liebe der Väter" in der SZ zur Makulatur erklärte, wobei er sich besonders daran zu stören schien, dass andere Zeitungen den Roman mochten. Und schließlich erregt ihn doch sehr, wie Richard Kämmerlings in seiner FAZ-Besprechung von Norbert Gstreins Roman "Die ganz Wahrheit" entweder vor Hanser oder Gstrein "Männchen macht" und behauptet ein Gerücht zu kennen, das er aber nicht weitererzählen will - schade, sonst hätte Krause sicher den Pulitzer-Preis bekommen!

Abgedruckt wird außerdem eine bisher unbekannte Erzählung Erich Kästners. Alain Claude Sulzer liest Daniel Mendelsohns endlich übersetztes großes Buch "Die Verlorenen", in dem sich der Autor auf die Suche nach Spuren seiner in der Uklraine umgebrachten Verwandten begibt. Besprochen werden außerdem Peter Wawerzineks Roman "Rabenliebe" (den Hajo Steinert ergreifend nennt), Gregor Schöllgens Biografie über Gustav Schickedanz, die Eckhard Fuhr etwas geschönt scheint, und schließlich Vittorio Magnago Lampugnanis monumentales Werk "Die Stadt im 20. Jahrhundert".

Für das Rumpffeuilleton hat sich China-Korrespondent Johnny Erling ein Marx-Musical in Schanghai angesehen.

Aus den Blogs, 21.08.2010

Hallo Hallo! Bevor nach der Verpixelung der Fassaden auch noch eine Verhängung der Fassaden in der realen Welt und eine Datenschutzburka folgen, ruft Stefan Rosinski in Carta nochmal zur Vernunft: "Schon für die attische Demokratie war die Unterscheidung von Privat und Öffentlich konstitutiv, und eine Häuserfassade war genauso wenig privat wie das Rumlümmeln auf dem Marktplatz (man lese etwa von den Lehren der Kyniker) - immer aber hieß es: Gesicht zeigen! Was sich dagegen hinter den Fassaden abspielte, ging in der Tat niemanden etwas an als die Betroffenen."

TAZ, 21.08.2010

Die in Venedig geborene, in Berlin lebende Künstlerin Monica Bonvicini bekommt im Kasseler Fridericianum eine große Einzelausstellung. Gesine Borchardt hat die Künstlerin getroffen und porträtiert sie und ihr Werk, darunter die folgende Arbeit: "Die Schnittstelle von institutionellem, öffentlichem und privatem Raum nimmt Bonvicini immer wieder ins Visier. Dazu eignen sich Spiegelflächen besonders gut: 2004 platzierte sie mit 'Don't Miss a Sec.' ein rundum verspiegeltes Toilettenhäuschen auf dem Messeplatz vor der Art Basel. Aus dem Innenraum konnte man uneingeschränkt nach draußen sehen; unmöglich, sich nicht beobachtet zu fühlen."

"Die Roma sind Bürger Europas", ruft Romani Rose im Interview in Erinnerung. Es sei skandalös, wie sie in Europa (auch in Westeuropa) oft behandelt würden. So hat Sarkozy gerade mit der Ausweisung von 700 Roma aus Frankreich begonnen (mehr hier). Dazu Rose: "... den Abschiebungen in Frankreich ging eine hässliche Debatte voraus, in der ohne Scheu all die Klischees und Stereotype aufgerufen wurden, die wir aus unserer 600-jährigen Geschichte kennen. Man stelle sich vor, irgendwo in Westeuropa würden Politiker mit solchen Tönen gegen die jüdische Minderheit hetzen: dieses Land wäre zu Recht isoliert!"

Weitere Artikel: Das dreißig Jahre zurückblickende gesamtkunstwerkhafte krisengenealogische Projekt 80*81 von Georg Diez und Christopher Roth stellt Brigitte Werneburg vor. Heike Holdinghausen spricht mit der Ressourcenexpertin Kora Kristof über ihr Buch "Wege zum Wandel". In der "Leuchten der Menschheit"-Kolumne findet Doris Akrap, dass die Menschheit Bücher wie Gwynne Dyers Klimakatastrophenprophezeiung "Schlachtfeld Erde" sicher nicht braucht. Meike Laaf gratuliert dem Wimmelbildkünstler Ali Mitgutsch zum 75. Geburtstag.

Besprochen werden Alain Platels beim Berliner Tanz im August aufgeführte Choreografie "Gardenia" und Bücher, darunter neue argentinische Romane von Claudia Pineiro und Sergio Bizzio (Leseprobe)sowie Giorgio Agambens Genealogie christlicher Ökonomie "Herrschaft und Herrlichkeit" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Und Tom.

FR, 21.08.2010

Ein offensichtlich sehr interessantes Buch mit Interviews über die Arbeitswelten von heute bringt Harry Nutt folgende vielleicht nicht überraschenden, aber ziemlich niederschmetternden Erkenntnisse: "In nahezu allen Betrieben, das ist eine der Lehren aus den Gesprächen, sind die Arbeitsweisen hierarchisiert worden. Effizienzkriterien und Evaluationspraktiken haben in mitunter lächerlichem Ausmaß Einzug gehalten; sie werden von den Mitarbeitern schulterzuckend ausgeführt, aber kaum verstanden und akzeptiert. Oft registrieren die Mitarbeiter sehr genau, dass hier ein geliehenes Wissen aus Managerfortbildungsseminaren nach unten durchgereicht wird, ohne dass später je Rechenschaft über Funktionalität abgelegt würde. Das Wissen, der Widerspruchsgeist und die Fantasie der Beschäftigten bleiben unterdessen bestenfalls auf Standby geschaltet."

Weitere Artikel: Jürgen Otten porträtiert den Pianistin-Jungstar Lisa de la Salle. Von einer Reise an den literarisch viel ummunkelten Mummelsee im Schwarzwald berichtet Christian Thomas. In einer "Times Mager" träumt Arno Widmann von "4002 assonierenden Versen über die Auseinandersetzung um die Brennelementesteuer". Sebastian Amaral Anders informiert über eine nicht unumstrittene Studie, die zehn Prozent aller deutschen Kultureinrichtungen mittelfristig in Lebensgefahr sieht. In ihrer US-Kolumne widmet sich Marcia Pally dem "Moscheen-Schlamassel", also dem Streit um den Bau einer Moschee in nächster Nähe zum New Yorker Ground Zero.

Besprochen werden eine Ausstellung mit argentinischer Kunst im Frankfurter Kunstverein, ein Konzert von Elliott Sharp im Frankfurter Palmengarten und die Wiederauflagen von Büchern des Autors Wolfdietrich Schnurre, der dieser Tage seinen 90. Geburtstag gefeiert hätte (mehr dazu in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Tagesspiegel, 21.08.2010

In der FAZ wurde neulich, basierend auf einem Newsweek-Artikel, behauptet, dass es mit der Wikipedia und dem Engagement der Autoren bergab gehe. Das scheint nicht ganz zu stimmen, schreibt Kurt Sagatz im Tagesspiegel: "Die Statistiken von Wikimedia Deutschland gehen in eine andere Richtung. Die Zahl der neuen Autoren, die für die deutsche Wikipedia-Ausgabe Artikel verfassen, Fakten checken oder Internetverweise bearbeiten, ist in den letzten zwölf Monaten mit rund 1000 annähernd konstant geblieben, belegt Wikimedia-Sprecherin Catrin Schoneville anhand der Statistiken. Das gelte auch für die rund 1000 besonders aktiven Autoren, die jeden Monat 100 Artikel oder mehr editieren. Weltweit kommen auf 388 Millionen Nutzer knapp 100 000 Autoren."

FAZ, 21.08.2010

Im Kongo wütet nach wie vor Krieg - unter anderem um seltene Metalle, die in Handys eingebaut werden. Die amerikanische Regierung verlangt nun Zertifikate, die klarstellen, dass Handyhersteller nicht bei den Kriegsparteien kaufen. aber Oliver Jungen ist in einem langen Hintergrundartikel skeptisch und sieht den Krieg und seine extremen Grausamkeiten als "dunkle Seite der digitalen Welt": "Damit setzen die Ausbeuter fort, was mit der Versklavung und Plünderung des Landes durch Portugiesen, Niederländer und Engländer im fünfzehnten Jahrhundert begonnen hat und in der belgischen Kolonie ihren Höhepunkt fand." Jungen bezieht sich auf eine Kolumne Nicholas D. Kristofs in der New York Times, der vor Ort war.

Weitere Artikel: Andreas Platthaus freut sich über eine Performance des südafrikanischen Künstlers William Kentridge, die im Louvre auf die Rückwand des Bettes von Ludwig XIV. projiziert wird (hier ein Video zur Performance). Jürgen Dollase hat sich für seine Gastrokolumne auf eine Reise in angesagte französische Restaurants begeben, denen aber jegliche Kreativität abgeht. Jordan Mejias schreibt über "harrypotterhafte" Aufregung vor dem Erscheinen von Jonathan Franzens neuem Roman und betrachtet en attendant ein Autorenvideo, in dem der Autor sich gegen Autorenvideos ausspricht. Und Jordan Mejias begibt sich auf Erkundungsfahrt in die Ölpestgebiete am Golf von Mexiko.

Besprochen werden eine Tomi-Ungerer-Ausstellung in der Kunsthalle Würth und neue Platten, darunter die CD "Bom Tempo" von Sergio Mendes (Hörproben).

In Bilder und Zeiten gratuliert Werner Spies Dorothea Tanning, der Frau Max Ernsts, die selbst eine bedeutende Künstlerin ist (Bilder), zum Hundertsten. Der Juraprofessor Klaus Lüderssen hört Wagners "Ring" aus rechtstheoretischer Perspektive. Auf der letzten Seite unterhält sich Irene Bazinger mit der zur Zeit in Salzburg tätigen Schauspielerin Elisabeth Trissenaar. Auf der Literturseite geht?s um die neuen Romane von Martin Mosebach (der erwartungsgemäß abgefeiert wird) und Hilary Mantel (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr.

Für die Frankfurter Anthologie liest Eva Demski ein Gedicht von Peter Hacks - "Bei Arnims:

Das ist die Jahreszeit, für die nichts spricht.
Die Sonne scheint nicht, und es schneit auch nicht.
(...)"

SZ, 21.08.2010

Als Nachdruck aus dem New Yorker (der Originaltext ist nicht online) gibt es einen ellenlangen Erfahrungsbericht des Schriftstellers Nicholson Baker. Er hat, um seinen Sohn besser zu verstehen, das erste Mal in seinem Leben Videospiele gespielt, und zwar gründlich. Er zeigt sich teils abgestoßen und teils fasziniert und hält erst einmal fest: "Das war die erste Lektion, die ich lernen musste: Dass Videospiele unglaublich schwierig sind - besonders die unübersichtlichen, gewalttätigen. Sie sind einschüchternd, sie nehmen dich auseinander. Sie töten dich wieder und immer wieder." Später versucht er sich an einem Multiplayer-Spiel mit dem Sohn: "Ich verschoss meine Kugeln in einem Halbkreis, plötzlich hörte ich einen einzelnen schnellen Schuss. Dann war ich tot. 'Sorry Dad, ich wollte dich gar nicht umbringen, nur verkrüppeln.' Ich starb so oft, dass mir das Spiel einen kurzzeitigen Gesundheitsschub verlieh."

Weitere Artikel: Als "überraschend" kommentiert Till Briegleb die Ernennung des im letzten Jahr nach Misshelligkeiten in den einstweiligen Ruhestand versetzten Ex-Kulturstaatsrats Reinhard Stuth zum Hamburger Kultursenator. Jens-Christian Rabe macht sich Gedanken zu fünfzig Jahren Beatles. Laura Weissmüller gratuliert der Sammlerin Charlotte Zander zum Achtzigsten.

In der SZ am Wochenende berichtet Peter Wagner über das Phänomen der Klarträume, in denen der Träumer "bewusst" in die Wunschproduktion seiner Träume eingreifen kann: "Als Melanie vor sechs Jahren ihren ersten Klartraum hat, lässt sie zum Beispiel den amerikanischen Schauspieler Johnny Depp auftauchen. Sie dreht sich im Traum schnell zur Seite und imaginiert dort eine Tür, durch die Johnny Depp in ihren Traum tritt."

Außerdem: Nikolaus Piper erklärt im Aufmacher, warum das Stiften der US-Milliardäre nicht kritisierenswert ist, sondern "zu den guten Wurzeln des Kapitalismus zurückführt". Auf der Historienseite schildert Stefan Ulrich, wie sich Frankreich langsam die Verbrechen während des Algerienkriegs einzugestehen beginnt. Antje Wewer unterhält sich mit dem britischen Komiker Russell Brand, der sie, auf seinen Ruf angesprochen, unter anderem freundlich zurechtweist: "Baby: It's called Showbiz und nicht Imagepflege!"

Besprochen werden Claude Schmitz' Inszenierung "Mary Mother of Frankenstein" in der Young Directors Reihe in Salzburg ("Rohrkrepierer" urteilt Christine Dössel), die Ausstellung "Jeff Wall. Transit" in der Galerie Neue Meister in Dresden und Bücher, darunter sehr hymnisch die Hans-Wollschläger-Werkausgabe.