Heute in den Feuilletons

Grenzgenial

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.09.2011. Die Welt erklärt Günter Grass: Deutsche Kriegsgefangene wurden in der Sowjetunion nicht liquidiert. In der taz prophezeit "The Wire"-Autor David Simon: Ein Aufstand naht. Die NZZ analysiert Damenhandtaschen. Netzpolitik hält fest, dass nicht Wikileaks, sondern Journalisten vom Guardian und Freitag das Passwort für die unredigierten Depeschen öffentlich gemacht haben. Die FAZ verabschiedet sich vom deutschen Alleinrichtigmachungsanspruch.

Welt, 02.09.2011

Sven Felix Kellerhoff nimmt Günter Grass nach dessen Haaretz-Interview gegen allzu heftige Vorwürfe der Geschichtsklitterung in Schutz, stellt aber auch klar, dass keine sechs Millionen deutsche Soldaten von den Sowjets ermordet wurden: "In sowjetischem 'Gewahrsam', so der völkerrechtliche Begriff, gerieten zwischen 1941 und 1945 rund 3,15 Millionen deutsche Soldaten. Bis 1955 starb rund jeder Dritte von ihnen, nämlich 1,1 Millionen. Die Männer wurden in Lagern meist in unwirtlichen Gebieten gehalten und mussten schwerste Arbeit leisten - aber 'liquidiert', also vorsätzlich umgebracht, wurden sie nicht."

Total retro findet Andreas Rosenfelder die Kapitalismuskritik, die im Feuilleton wieder Konjunktur hat: "Irgendetwas läuft falsch, wenn die an verschiedenen Fronten von sehr unterschiedlichen Problemen herausgeforderte Gegenwart in den Zeitungen plötzlich wieder so einleuchtend bedenklich aussieht wie ein Bühnenbild des Grips-Theaters." (Unbeeindruckt von der Kritik am entfesselten Kapitalismus zeigt sich auf dem Forum auch Cora Stephan und warnt die Deutschen davor, sich von Schuldnerstaaten "moralisch erpressen" zu lassen: "Am Ende sind alle gleich arm.")

Weiteres: Als "einziges Fest" feiert Peter Zander Roman Polanskis in Venedig gezeigten Film "Gott des Gemetzels". Manuel Brug schreibt den Nachruf auf die kühle Rosel Zech. Doris Day hat dagegen mit ihren 87 Jahren ein neues Album herausgegeben, "My Heart" heißt es, und Dirk Pilz fühlte sich sofort sehr wohl und sehr sauber.

NZZ, 02.09.2011

Die Handtasche ist das ikonische Accessoire der Weiblichkeit. Andrea Roedig fragt sich deshalb, ob sich an deren zunehmenden Größe auch der Machtzuwachs der Frau ablesen lässt und hat einen Blick in die Werbegeschichte geworfen: "In den unglaublichsten Szenarien der Flucht, des Aufbegehrens und der Verführung mutiert das liebste Accessoire der Dame wahlweise zum Spielgefährten einsamer weiblicher Ekstase, zum geheimnisvollen Schatzkästchen, zum Schutzschild oder zum Kampfinstrument. Zudem wird es immer größer. Die Designs der Handtaschen haben sich in den letzten Jahrzehnten extrem vervielfältigt, dennoch dominiert der weiche Beutel, der so üppig dimensioniert ist, dass er zugleich als allzeit bereite Reisetasche oder als aufnahmefähiger Einkaufssack dienen könnte. Die Handtasche ist zum Monument geworden."

Weiteres: Urs Steiner hat die Ausstellung "Hochhaus - Wunsch und Wirklichkeit" in Zürich besucht. Eine Sammlung mit Werken von van Gogh, Bonnard und Vallotton hat sich Hans Christoph von Tavel in Lausanne angesehen. Besprochen werden zwei Dokumentationen über den Dirigenten Carlos Kleiber, die jetzt auf DVD erschienen sind, und eine CD mit vier Sinfonien von Johannes Brahms.

FR/Berliner, 02.09.2011

Der Arabist Thomas Bauer wirft im Interview Islamisten und Islamkritikern vor, sie hätten "weitgehend das gleiche Islambild". Christian Thomas fragt sich in einem Times Mager anlässlich des Grass-Interviews in Haaretz, "was Grass, das gebrannte Kind, mit seiner geschichtspolitischen Gegenrechnung, einer wahrhaftig monströsen Milchmädchenrechnung, insinuieren wollte?" Anke Westphal sah in Venedig mit großer Begeisterung Roman Polanskis Film "Carnage". Christoph Schröder berichtet vom Auftritt des Autors Michael Greenberg beim Frankfurter Literaturfest Metropolitan. Klaudia Wick schreibt zum Tod der Schauspielerin Rosel Zech.

Besprochen werden Sabine Grubers Roman "Stillbach oder die Sehnsucht" und Heinz Budes Buch "Bildungspanik" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 02.09.2011

Simon Rothöhler berichtet über einen Auftritt von David Simon, Autor der vielgelobten HBO-Serie "The Wire", der in New York düstere Prognosen über die Zukunft der postindustriellen amerikanischer Städte abgab: "Bald werden die ersten Steine in Städten wie Cleveland fliegen; ein Aufstand naht."

Auf der Medienseite erklärt Ahmet Külahci, Chef der Hürriyet in Berlin, warum die türkische Zeitung den umstrittenen Bestsellerautor Thilo Sarrazin kaum beachtet hat: "Die Menschen [in der Türkei] kümmern sich nicht um sein Geschwätz. Er kann der deutsch-türkischen Beziehung nicht schaden, dass können nur die Regierungen."

Weitere Artikel: Cristina Nord sah bei den Filmfestspielen in Venedig Madonnas "betulichen" Spielfilm "W.E.", der außer Konkurrenz lief, und Roman Polanskis "handwerklich gut gemachten und geschickt getimten", nur 79 Minuten langen Wettbewerbsbeitrag "Carnage", die Adaption von Yasmina Rezas Theaterstück "Der Gott des Gemetzels". Katrin Bettina Müller würdigt im Nachruf die verstorbene Schauspielerin Rosel Zech.

Besprochen werden zwei Alben von Marilyn Crispell & Gerry Hemingway sowie Sylvie Courvoisier und dem Mark Feldman Quartet sowie Götz Alys Studie "Warum die Deutschen? Warum die Juden?", die der Historiker Ulrich Herbert "aufschlussreich" findet, gegen die er aber doch drei Einwände erhebt (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)

Und Tom.

Aus den Blogs, 02.09.2011

Bei Netzpolitik erinnert Linus Neumann daran, dass es Journalisten vom Guardian und vom Freitag waren, die das Passwort für die ungeschwärzten Wikileaks-Dateien bekannt gemacht haben: "Die Berichterstattung fokussiert auf Wikileaks, und nicht auf den Deppen Leigh, der das Passwort veröffentlicht hat, und sich nun mit der Behauptung aus der Affäre ziehen möchte, er habe das Passwort für temporär gehalten. Das ist natürlich kappes - und selbst wenn es das gewesen wäre: Passwörter zu verraten ist nie eine gute Idee." (Mehr dazu bei BoingBoing hier und hier.)
Stichwörter: Guardian, Netzpolitik

SZ, 02.09.2011

In Venedig genießt Tobias Kniebe die Yasmina-Reza-Verfilmung von Roman Polanski, sieht beim Popstar Madonna dagegen geradezu "jämmerliches" Versagen als Regisseurin. Volker Breidecker sieht zum 125. Geburtstag des Verlages S. Fischer durch die erfolgreiche Arbeit des unauffällig arbeitenden Teams den Beweis erbracht, "dass es weder eines charismatisch schaltenden Hierarchen noch des Korpsgeistes seiner Angestellten als der Kehrseite bedarf, um ein intellektuell anspruchsvolles Programm zu machen". Fritz Göttler sieht die Comics für den Gedenktag 11. September gerüstet. Über das Dilemma der Grünen zwischen Hausbesetzung und Ökosanierung denkt Felix Stephan anlässlich einer kleinen Aussstellung in der Heinrich-Böll-Stiftung nach. Von der Eröffnung des National Museum of Scotland in Edinburgh berichtet Alexander Menden. Den Streit um die Rechte an der Golden-Globe-Show schildert Susan Vahabzadeh. Susanne Gmür liest das aktuelle Heft der in diesem Jahr zum Schweizer Monat umbenannten einstigen Schweizer Monatshefte. Christine Dössel schreibt zum Tod der Schauspielerin Rosel Zech.

Besprochen werden ein von Rainald Grebe inszenierter Wahlkampfabend am Berliner Maxim-Gorki-Theater, eine Ausstellung mit Werken des Fotografen Joel Sternfeld in Essen, eine Gesamtausgabe der Werke von Peter Tschaikowsky, Ruba Naddas Film "Cairo Time" und Bücher, nämlich die jetzt in Frankreich veröffentlichten Kriegstagebücher Julien Gracqs und Albrecht Selges Romandebüt "Wach" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 02.09.2011

Frank Lübberding fragt sich, was vom Erfolgsmodell Deutschland noch übrig ist. Und er sieht eigentlich nur eine Möglichkeit, den längst eingetretenen Veränderungen eine politische Gestalt zu geben: "Ist dieses Deutschland noch demokratisch, deutsch und republikanisch? Dafür muss sie sich zuerst vom Selbstbetrug der vergangenen Jahrzehnte verabschieden: Dass allein Deutschland alles richtig gemacht habe. Die Transferunion ist unausweichlich, wenn Europa als politische Option nicht aufgegeben werden soll. Sie verliert aber ihren Schrecken, wenn die Deutschen wieder das Gefühl bekommen, dass es in Deutschland selbst fair zugeht."

Weitere Artikel: Dietmar Dath weiß in Venedig den Witz von Roman Polanskis "Carnage" zu schätzen und würdigt sogar Madonnas rundherum ziemlich verrissenen Wallis-Simpson-Film "W.E." als jedenfalls im Musikeinsatz grenzgenial. Den wachsenden "zivilen Widerstand" österreichischer Priester gegen Rom schildert Dirk Schümer. In ihrer "Aus dem Maschinenraum"-Kolumne erklärt Constanze Kurz, warum verschlüsselte Verbindungen im Netz keineswegs zu hundert Prozent verlässlich sind. Wojciech Czaja staunt über ein gewaltig dimensioniertes Opernhaus (mit Konferenzzentrum) in Reykjavik. In seiner Kunstkolumne denkt Eduard Beaucamp über Dürer und Picasso als Sammler und überhaupt über sammelnde Künstler nach. Vom ersten Tag im Fälschungsprozess um die "Sammlung Jägers" berichtet Niklas Maak. Der Revolution in Bayreuth - Tickets für die Festspiele kann man ab dem 15. September im Internet reservieren - glossiert Hubert Spiegel. Gerhard Stadelmaier schreibt zum Tod der Schauspielerin Rosel Zech.

Besprochen werden eine Ausstellung zum Werk des Modemachers Hussein Chalayan im Musee des Arts decoratifs in Paris und Bücher, darunter Antonio Munoz Molinas Bürgerkriegsroman "Die Nacht der Erinnerungen" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).