Heute in den Feuilletons

Demo 24

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.12.2011. In der FAZ verrät Seamus Heaney das Geheimnis seiner Dichtkunst: Einfach mit Begeisterung loslegen. Außerdem berichtet sie von türkischen Reaktionen auf die französische Entscheidung, das Leugnen von Völkermorden unter Strafe zu stellen. In der taz erzählt Sibylle Berg von Weihnachten in Sankt Moritz - mit 60 Millionen Euro in der Urlaubskasse. Die SZ stellt fest, dass in England wieder Werte zählen, und Klasse. Die FR sorgt sich um die unterdrückten Völker Europas. Die Blogs stimmen sich mit Terry Gilliam und Charles Dickens auf die Feiertage ein. Und auch wir wünschen schöne Weihnachten!

TAZ, 24.12.2011

Sibylle Berg schickt eine Kurzgeschichte zu Weihnachten. Die beginnt so: "Es ist Weihnachten, das ist furchtbar, in den Tiefebenen ist es grau, aushalten kann man diese tristen Tage eigentlich ausschließlich in St. Moritz. Aus Gründen, die ausschließlich kapitalistischer Natur sind, wie das Testen von Eiderdaunenbetten, die Erprobung schwarzer Kreditkarten oder das Erschießen von Polopferden, halte ich mich beinahe jedes Jahr dort auf und kann zu Recht behaupten: meine Güte."

Jan Feddersen unterhält sich mit dem Sternekoch Rene Redzepi, dessen Restaurant "Noma" in Kopenhagen als das beste der Welt gilt. Worum geht's in seiner Küche? "Ein Smörrebröd, ein Butterbrot, wie es auf Deutsch heißt, verführt mit dem Geschmack, den wir kennen. Wir hingegen versuchen, den Rahmen umzugestalten: auf dass andere Geschmackserinnerungen sich bilden. Etwa wenn wir nicht den klassischen Rotkohl anbieten, sondern Zwiebeln, die in geräucherter Butter gebraten werden, abgelöscht mit Stachelbeersaft. Aber ist das mit Schweinefleisch verträglich? Ich hoffe!"

Außerdem: Barbara Oertel unterhält sich mit Mikita Lichawid, einem weißrussischen Dissidenten, der Wirtschaftssanktionen gegen Weißrussland fordert. Jiri Pehe hält eine letzte Laudatio auf Vaclav Havel. Trotz Eurokrise geht die Welt nicht unter, mahnt Gert G. Wagner vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in einem Artikel, der kaum von seinem Anfang Dezember in der Süddeutschen veröffentlichten Text zu unterscheiden ist. Julian Weber porträtiert Marga Glanz, die Inhaberin des Hamburger Plattenladens Groove City. Julia Große schaut sich im nach Renovation wiedereröffneten Exklusiv-Club "The Arts Club" in London um. Torsten Kleinz stellt die Website Youhavedownloaded vor, die einen Überblick darüber bietet, welche IP-Adressen welche Dateien heruntergeladen haben.

Besprochen werden Bücher, darunter die Studie des Kulturhistorikers Thomas Macho über Vorbilder (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Und TOM.

Aus den Blogs, 24.12.2011

Das Team des Machtdose-Musikblogs hat in den vergangenen Tagen eine schöne, umfangreiche Liste mit Lieblingsmusik des Jahres zusammengetragen - jetzt ist die Sammlung komplett und lädt dank vieler YouTube- und anderer Verlinkungen zum Stöbern und Forschen während der Feiertage ein: Hier!

Bei den Fünf Filmfreunden finden wir einen Weihnachts-Animationsfilm von Terry Gilliam:



Santa Claus is coming to town - eine leicht groteske Strecke von In Focus.

Kein geringerer als der unvergleichliche Vincent Price liest Charles Dickens' Weihnachtsklassiker A Christmas Carol in dieser TV-Präsentation von 1949 (via):

FR/Berliner, 24.12.2011

Christian Esch erinnert an das Ende der Sowjetunion vor 20 Jahren (siehe auch diese Fotostrecke) und findet, dass es endlich an der Zeit sei, "die Leistungen dieses Staates anzuerkennen", nicht ohne dabei menetekelnd in Richtung EU zu raunen, dass das Ende der Sowjetunion zeige, "dass sie die Völkerschaften nicht mehr zusammenhalten konnte, als sie auf Unterdrückung verzichtete. Insofern war der sowjetische Weg, die Völker zu einen, eine historische Sackgasse - es gab keinen friedlichen Ausweg, auch wenn Gorbatschow sich im Dezember 1991 schwer tat, das zu begreifen. Aber wer weiß, wie die Nachwelt über die europäische Einigung denken wird?" (Ähm, welche Völker werden in der EU unterdrückt?)

Weitere Artikel: Arno Widmann berichtet, dass in den USA höfliche Atheisten den 25. Dezember ebenfalls feiern - als den Geburtstag von Sir Isaac Newton. Ingeborg Ruthe bedauert, dass diese Tage die Authorität zur Identifizierung echter Warhol-Werke, das "Andy Warhol Art Authentication Board", geschlossen wurde. Abgedruckt ist außerdem Kathrin Schmidts Marzahner Weihnachtsgeschichte "Heilige Abendlichtzeichen".

Besprochen werden eine Ausstellung mit Zeichnungen von Francoise Gilot in den Chemnitzer Kunstsammlungen und der 89. Karl-May-Band "Im fernen Westen", der mit zwei so bislang nicht veröffentlichten Texten Judith von Sternburg zufolge zum philologischen Vergleich einlädt (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

NZZ, 24.12.2011

"Habgier ist schlecht fürs Geschäft", konstatiert Martin Meyer in seinem Aufmacher zur Geschichte ebenjener Todsünde. Für "glatten Selbstmord" hält Joachim Güntner den im Weihnachtsgeschäft forcierten Verkauf von E-Book-Reader in Buchläden.

Besprochen werden eine Ausstellung zum Animismus in der Generali Foundation in Wien, Martin Mosebachs Essayband "Als das Reisen noch geholfen hat", Ascanio Celestinis Monolog "Schwarzes Schaf", religionsgeschichtliche Arbeiten über das Judentum sowie Angelika Neuwirths Übersetzung und Kommentierung des Korans (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

In Literatur und Kunst preist der Kunsthistoriker York-Gothart Mix mit akademischer Begeisterung Philipp Otto Runges Werk. Heinz Hofmann spürt nach, wie authentisch Petrarcas Bericht von der Besteigung des Mont Ventoux ist. Eva Dietrich besucht die Ausstellung "Danser sa vie" im Pariser Centre Pompidou.

Welt, 24.12.2011

Keine Welt heute, nur eine Welt am Sonntag als Weihnachtsausgabe. Das wäre okay, hätte man nicht die Literarische Welt weggelassen, schmoll.

Im Kulturteil erzählt der Schauspieler und Autor Joachim Meyerhoff von der Bescherung in der psychiatrischen Anstalt seines Vaters. Und: Bloß keine Revolution, meint Viktor Jerofejew mit Blick auf Russland, dann würde "eine nationalistisch Utopie über uns gespült" werden. Sarah Elsing besucht die Künstlerin Alicja Kwade in ihrem Berliner Atelier. Besprochen wird Özgür Yildirims Film "Blutzbrüdaz" mit Sido (gute Arbeit, findet Harald Peters).

SZ, 24.12.2011

Alexander Menden bemerkt in England eine Rückbesinnung auf die gute alte Ordnung: "Das äußert sich nicht allein in der Stärkung der traditionellen Familienstruktur, die David Cameron jüngst forderte, oder in der Haltung von Innenministerin Theresa May, die diese Woche nachdrücklich die ziemlich undifferenzierte Ansicht vertrat, die Londoner Krawalle im vergangenen Sommer seien ausschließlich von einem 'entfesselten Mob von Dieben' angezettelt worden. Der Blick der Engländer - weit mehr übrigens als jener der Schotten oder Waliser - richtet sich insgesamt zunehmend nach Innen und in die Vergangenheit. Als leitende Utopie dient das völlig verklärte Bild einer Klassengesellschaft, in der alles seine Ordnung hat."

Weitere Artikel: Fassungslos steht Sonja Zekri vor den Überresten aus dem historischen Archiv des Institut de l'Egypte in Kairo, das bei den jüngsten Auseinandersetzungen am Tahrir-Platz abgebrannt ist: "Ägyptens wertvollste Kollektion historischer Bücher enthielt: "Fast 200.000 Bände, darunter Zehntausende Karten, Zeitschriften aus zwei Jahrhunderten." Dorothea Baumer erzählt, wie die legendäre Kunstsammlung der Familie Pringsheim von den Nazis zerstört wurde. Johan Schloemann zerbricht sich den Kopf darüber, wie eine ideale, auf sporadische Kirchenbesucher zugeschnittene Weihnachtspredigt lauten könnte. Der Theologe Peter Lampe würdigt die vor 400 Jahren erschienene King James Bible (hier im Volltext).

Besprochen werden die Ausstellung "Franziskus - Licht aus Assisi" im Diözesanenmuseum in Paderborn, Karl-Friedrich Beringers Einspielung von Bachs Weihnachtsoratorium, Oliver Klucks Stück "Froschfotzenlederfabrik" im Wiener Kasino, Guy Ritchies zweiter Sherlock-Holmes-Film, eine Ashton- und MacMillan-Aufführung des Bayerischen Staatsballetts an der Bayerischen Staatsoper und Bücher, darunter die Neuauflage von Primo Levis Romanen "Ist das ein Mensch?" und "Die Atempause" in einem Sammelband (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

In der SZ am Wochenende witzelt sich Willi Winkler durch ein ausgedachtes Weihnachtsgespräch mit Helmut Schmidt, Giovanni di Lorenzo und anderen. Charlotte Frank wirft einen Blick in hektische Restaurantküchen von in der Mattscheibe entspannt wirkenden Fernsehköchen. Petra Steinberger streift durch die Kulturgeschichte der Weihnachtskrippe. Jonathan Fischer unterhält sich mit Sven Väth über Feiern und gesunden Lebensstil.

FAZ, 24.12.2011

Nach dem französischen Beschluss, die Leugnung von Völkermorden - also auch dem an den Armeniern - unter Strafe zu stellen, berichtet Karen Krüger von viel Getöse der Regierung Erdogan, aber auch von kritischen Stimmen: Zum Beispiel von Orhan Dink, dem Bruder des 2007 ermordeten armenisch-türkischen Journalisten Hrant Dink: "Er sieht die Türkei in der Bringschuld: 'Nicht andere Staaten, sondern das türkische Parlament sollte die Tragödie unserer Vorfahren diskutieren. Solange das türkische Volk die Armenier nicht mit offenen Armen empfängt, werden die Armenier ein Instrument der Politik bleiben', sagte er in einem Interview der Zeitung Hürriyet."

Weiteres: Emphatisch erzählt Katja Petrowskaja, wie sich Russlands Opposition im Internet für weitere Proteste rüstet, für heute wird zur "Demo 24" aufgerufen. Gil Yaron berichtet vom jahrhundertelangen Streit um die akustische Hoheit über Jerusalem, den Muslime, Juden und Christen mit Gebeten, christlichem Glockengeläut und Sabbatsirenen austragen. In seiner Geschmacksachen-Kolumne fordert Jürgen Dollase, das Essen an den Feiertagen nicht nur emotional, sondern auch kulinarisch aufzuladen. Die Tierärztin Christina Hucklenbroich widmet sich im Aufmacher dem geforderten Verbot der Großtierhaltung im Zirkus.

Besprochen werden unter anderem die große "Wunder"-Schau in den Hamburger Deichtorhallen, Josef Bierbichlers Lesung seines Romans "Mittelreich", Anne Enrights Roman "Anatomie einer Affäre" und Alain Mabanckous Roman "Stachelschweins Memoiren" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

In Bilder und Zeiten verrät der Lyriker Seamus Heaney Interviewer Thomas David ein Geheimnis: "Für einen alten Lyriker wie mich ist es am besten, auf Teufel komm raus loszulegen, sich einfach mit Begeisterung oder Vertrauen kopfüber in die Sache hineinzustürzen." Hannes Hintermeier stellt den österreichischen Architekten Matthias Mulitzer vor, der Klöster für Eremitenorden baut, gern in sensationeller Alpenlage (wie Maria im Paradies). Hubert Spiegel besucht Olafur Eggertsson, der mit seiner Familie am Fuß des Eyjafjallajökulls wohnt. Vorgestellt werden auf der Plattenseite Bachs Weihnachtsoratorium, gesungen vom Windsbacher Knabenchor, Barockkantaten von Johann Christoph Bach und Johann Ludwig Bach.

Wulf Segebrecht stellt in der Frankfurter Anthologie Marie Luise Kaschnitz' Gedicht "Dezembernacht" vor:

"Feldhüter haben in einem Geräteschuppen
(Steckrübenacker, Pflaumenbäume, Flußwind)
Eine Geburt aufgespürt, hier unzulässig
... "