Heute in den Feuilletons

Haltung der kultischen Ambivalenz

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.12.2011. Totale Klaustrophobie: 2011 war das Jahr, in dem die Kunst die Räume eng machte, meint der Tagesspiegel. Und es war ein Jahr des Protestes. Das Blog Buzzfeed bringt die vierzig besten Protestplakate des Jahres. Die taz ist auf Drogen. Die NZZ erzählt aus der Zeit, als angehende Künstler es sich noch leisten konnten, in New York zu wohnen. Besorgt sind die Zeitungen über ein Urteil, das Fotos von Kunstwerken die künstlerische Eigenständigkeit abspricht. Beuys' Witwe freut sich aber. Ihr und allen lebenden Künstlern - und vor allem unseren Lesern! - wünscht der Perlentaucher guten Rutsch.

Tagesspiegel, 31.12.2011

Für Christiane Peitz trifft Roman Polanskis Verfilmung von Yasmina Rezas Stück "Der Gott des Gemetzels", aus dessen Privathölle es kein Entrinnen gibt, die klaustrophobische Stimmung dieses Jahres am besten: "2011 ist das Jahr, in dem die Kunst und das Kino, die Literatur und das Theater die Räume eng machten. Eine Saison voller Kammerspiele und Nabelschauen. Die Welt steckt derart in der Krise, dass einem bang werden kann. Da bleibt man lieber zu Hause, kapselt sich ab, duckt sich weg. Es herrscht Bunkermentalität."

Aus den Blogs, 31.12.2011

Buzzfeed bringt die 40 besten Protestschilder dieses an Protesten weißgott nicht armen Jahres. (via)
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TAZ, 31.12.2011

Ralf Hanselle hofft mit deutschen Fotografen, dass das Urteil des Düsseldorfer Landgerichts im Streit darüber, ob Fotografien einer Kunstaktion von Joseph Beuys lediglich eine "Umgestaltung" des ursprünglichen Werkes darstellen, nicht endgültig ist: Ansonsten müssten etwa auch "Aufnahmen von Theateraufführungen oder Tanzveranstaltungen (...) zukünftig ganz neu eingeschätzt werden. Einst war jedes Bild eine Interpretation von einer vorgefundenen Wirklichkeit. In Düsseldorf aber ist das Bild selbst zur Wirklichkeit erklärt worden. "

Weitere Artikel: Am Joseph Vilsmaiers neuem ZDF-Zweiteiler "Russisch Roulette" findet Jens Müller immerhin den Vorspann recht sehenswert. Abgedruckt sind einige Berliner Silvesterepisoden aus Lea Streisands Buch "Wahnsinn in Gesellschaft". Meike Laaff berichtet vom 28. Kongress des Chaos Computer Clubs, der sich schwerpunktmäßig mit dem Einsatz westlicher Software in autoritären Regimen befasste. Den von ihr besonders hervorgehobenen Vortrag über das Anonymisierungstool Tor kann man online sehen:



Ansonsten gibt sich die sonntaz zum Jahreswechsel ganz verdrogt: Cristina Nord überlegt, welche tragende Rolle Drogen in amerikanischen Qualitätsserien wie "Breaking Bad" oder "The Wire" spielen, während Ulrich Gutmair dasselbe für die jüngere deutsche Popliteratur leistet. Im deutschen Fernsehen stößt Jenni Zylka unterdessen auf eine "der Realität arg hinterherhinkende Sauberkeit". Christian Werthschulte stellt die Reality-TV-Sendung "Celebrity Rehab" vor, die abgehalfterte Popstars beim Drogenentzug zeigt. Bernd Pickert schreibt über die Auswirkungen des US-Drogenverbots auf die Politik in Lateinamerika. Arno Frank skizziert die Geschichte von Speed, das im Zweiten Weltkriegs als Aufputschmittel allgegenwärtig war. Patricia Hecht spricht mit Don Winslow, Autor des Drogen-Politthrillers "Die Tage der Toten" (hier unsere Rezension), über die Brutalität des Drogenhandels und dessen Verflechtungen mit der Wirtschaft. Dietrich Kuhlbrodt war auf dem Cannafest in Prag. Shelley Masters liest eine Studie über geschlechtsspezifisches Drogenverhalten. Philipp Brandstädter beschreibt den steten Wettlauf zwischen Chemielabors und Gesetzsprechung beim Entwickeln und Verbieten neuer Designerdrogen. Mathias Bröckers referiert neuere Studien über Cannabis als Heil- und Linderungsmittel. Jan Feddersen und Martin Reichert unterhalten sich mit dem selbst leicht verstrahlt wirkenden Ethnopharmakologen Christian Rätsch über Rausch und Schamanismus. Alem Grabovac berichtet vom cleanen Rausch des Vaterwerdens.

Besprochen werden auch Bücher zum Thema, nämlich zwei neue Veröffentlichungen, die sich mit Gonzo-Ikone Hunter S. Thompson befassen, und Ronald Tavels Roman "Die Straße der Stufen", der im Marokko der Sechziger von einer homoerotischen Liebesgeschichte erzählt und dabei "Assoziationen weckt, die der Roman tatsächlich bedient: Drogen, Andre Gide, Bowles & Burroughs, Beat und Sex unter Männern" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Schließlich Tom.

FR/Berliner, 31.12.2011

Durch die Entscheidung des Oberlandgerichts Düsseldorf im Streit zwischen dem Museum Moyland und Eva Beuys, das es dem Museum untersagt, Fotografien von Joseph Beuys' Live-Aktionen auszustellen, da sie nicht als eigenstände Werke, sondern als "Umgestaltungen" des Kunstwerks anzusehen seien, sieht Sebastian Preuss "eine ungute Rechtslage zementiert": "Die mit dem Beuys-Mandat betraute VG Bild-Kunst hat jetzt Macht wie ein künstlerisches Jugendamt, sie kann künstlerische Erzeuger entmündigen und ihnen die eigenen Zöglinge wegnehmen."

Weitere Artikel: Vera Kattermann denkt in ihrem "Rückblick auf ein Jahr der Gewalt" über das Wesen der Rache nach. Christian Schlüter schreibt über Las Vegas, "wo die konkrete Utopie des so zweckfreien wie rückhaltlosen Feierns aus ihrem nur wenige Stunden währenden Jahresendgefängnis befreit und auf Dauer gestellt."

Besprochen werden Nora Schlockers Inszenierung von Friedrich Hebbels "Gyges und sein Ring" am Münchner Residenztheater und Bücher, darunter ein Band mit neuen Erzählungen von Nick Hornby (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

NZZ, 31.12.2011

In Literatur und Kunst erzählt Andrea Köhler von Brooklyn Heights, als dort noch Immigranten und Künstler leben konnten. Da gab"s zum Beispiel das Mitte der Vierziger abgerissene "Februar-Haus", dem Anais Nin seinen Namen gegeben haben soll, weil fast alle Bewohner im Februar geboren worden waren: "Der Begründer des Februar-Mythos aber war der einflussreiche Literaturredaktor George Davis, ein kleiner, schlampig gekleideter Mann mit einem unbestechlichen literarischen Urteil. Davis, der ein von Harper"s Bazaar großzügig finanziertes Spesenkonto besaß und junge aufstrebende Talente druckte und förderte, genoss den Ruf, "der witzigste Mann von Amerika" zu sein. Zusammen mit der 23-jährigen hochbegabten Schriftstellerin Carson McCullers, die mit dem Südstaaten-Roman "Das Herz ist ein einsamer Jäger" gerade ihren ersten großen Erfolg feierte, mietete er eine dem Zerfall anheimgegebene Arme-Leute-Pension und überredete den damals bereits berühmten britischen Lyriker W. H. Auden, einen gemeinsamen Hausstand zu gründen." Später kamen noch Gypsie Rose, Benjamin Britten und Kurt Weill dazu.

Weiteres: Thomas Hermann zitiert Fritz Senn über P.G. Wodehouse, von dem gerade ein weiterer Jeeves-Roman neu ins Deutsche übersetzt wurde. Urs Schoettli empfiehlt der fünften Führungsgeneration in Chinas KP Sun Yat-sen, den ersten Präsidenten der Republik China zum Vorbild. Besprochen werden Uno Chiyos Roman "Ohan" und Yiyun Lis Erzählband "Tausend Jahre frommes Beten" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Im Feuilleton erinnert der Kulturwissenschaftler Thomas Macho daran, dass der Fleischverzehr zu Silvester mal "eine Haltung der kultischen Ambivalenz gegenüber Tieren" voraussetzte, die im Zeitalter der Massenschlachtung verschwunden ist. Die Redaktion stellt ihre kulturellen Höhepunkte des Jahres 2011 zusammen. Besprochen wird eine Ausstellung zu Valie Export im Kunsthaus Bregenz.

FAZ, 31.12.2011

Die Redaktion blickt zurück auf kulturelle Höhepunkte des Jahres 2011. Julia Seeliger berichtet vom Jahreskongress des Chaos Computer Clubs. Jürgen Dollase schmeckt ungewöhnlichen Beziehungen nach in Jean-Georges Kleins Restaurant "Arnsbourg" in Baerenthal. Auf der letzten Seite hält Marcus Jauer Jahresrückblick. Dieter Bartetzko berichtet erschüttert von der Beerdigung Johannes Heesters' in München. Martin Thoemmes schreibt zum Tod Leopold Hawelkas, dessen Wiener Cafe eins der berühmtesten in Europa überhaupt war: "Heimito von Doderer, ein Stammgast, kannte ein Rezept: 'Weil Herr Hawelka nicht renoviert.'"

Eine Meldung informiert die Leser, dass Nils Minkmar ab morgen neuer Feuilletonchef der FAZ ist. Edo Reents und Jürgen Kaube werden neben Verena Lueken stellvertretende Feuilletonchefs (mit Felicitas von Lovenberg als Literaturchefin und Frank Schirrmacher hat die FAZ-Kultur dann sechs Chefs!).

In Bilder und Zeiten plaudern Slavoj Zizek, Daniel Cohn-Bendit und Dietmar Dath über die Weltlage. Hannelore Schlaffer denkt über den Unterschied zwischen Innenstadt und City nach. Cord Riechelmann rühmt die Intelligenz der Krähen. Hans Zimmer erzählt im Interview von seiner Karriere als Filmkomponist in Hollywood.

Besprochen werden Martin Kusejs Inszenierung zweier Opernfarcen von Donizetti in Zürich, einige CDs, darunter eine Sibelius-Edition mit 68 CDs und das neue Werk von The Kooks, sowie Bücher, darunter Jo Lendles Roman "Alles Land" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

In der Frankfurter Anthologie stellt Uwe Wittstock ein Gedicht von Jan Wagner vor:

"chamäleon

älter als der bischofsstab,
den es hinter sich herzieht, die krümme
des schwanzes. komm herunter, rufen wir
..."

SZ, 31.12.2011

Für die SZ am Wochenende besucht Tobias Moorstedt die Dreharbeiten zur 5. Staffel der derzeit meistgehypten Serie "Breaking Bad" und staunt dort nicht schlecht: Deren Produzent Vince Galligan lässt "schon mal zwei Dutzend 'Takes' drehen, verwendet 35 Millimeter-Film und gibt pro Folge geschätzte drei Millionen Dollar aus. Die kreative und ökonomische Freiheit merkt man 'Breaking Bad' und Serien wie 'Mad Men' oder 'Boardwalk Empire', die einen ähnlich hohen Production Value besitzen, in jeder Einstellung an."

Weitere Artikel: Am Vorabend des "Friedrich-Jahrs" überlegt der Historiker Michael Wolffsohn, warum Friedrich der Große so hoch im Kurs steht, während von dessen Hohenzollern-Dynastie kaum einer was wissen will. Christine Brinck unterhält sich mit Matt Ridley über Optimismus, über den Ridley gerade ein ganzes Buch geschrieben hat. Dirk Peitz legt ausführlich dar, wie strapaziös das "Freundesfest" Silvester im Vergleich etwa zu Weihnachten ist. Abgedruckt ist außerdem die Erzählung "Angry Monk und das Erdgeschoss" von Daniel Alarcan.

Im Feuilleton unterhält sich Johan Schloemann mit dem heute seinen 85. Geburtstag feiernden Philosoph Hermann Lübbe unter anderem über Technokratie und Vorzüge unserer Zivilisation. Burkhard Müller steuert Kurioses und Interessantes zum Wörtchen "Du" und dessen Konventionsgeschichte bei. Franziska Schwarz stellt den Twitteraccount @RealTimeWWII vor, der den Zweiten Weltkrieg anhand von Zeitzeugenberichten in Echtzeit nachzeichnet. Helmut Böttiger gratuliert der Schriftstellerin Anne Duden zum 70. Geburtstag. Karl Bruckmaier schreibt den Nachruf auf den Songwriter Country Joe McDonald. Außerdem steuern die Feuilletonredakteure der SZ zum Jahreswechsel Notizen zum Thema "Fünf vor Zwölf" bei.

Besprochen werden die norwegische Filmkomödie "Ich reise allein" und Tim Butchers Reisebericht von Wanderungen durch Sierra Leone und Liberia (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).