Heute in den Feuilletons

Unfähigkeit zum Mitmachen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.06.2012. In der FR denkt Armin Nassehi über die Intellektualisierung des Fußballs und die Bedeutung des Augenblicks nach. Der SZ graut es vor den kommenden Cyberkriegen. Die NZZ warnt: Üppiger Barock gefährdet die tektonische Stabilität. Die Welt untersucht sich häufende Unpässlichkeiten im Opernbetrieb. Und die FAZ geht in Habacht vor dem "Soldaten des Kinos", Werner Herzog.

FR/Berliner, 11.06.2012

Die mittlerweile lange Geschichte der "Intellektualisierung des Fußballs" verrate weniger über den Sport, als über die "Konjunkturen des Denkens" in den Kulturwissenschaften, behauptet der Soziologe Armin Nassehi, der auch gleich die wichtigsten Wegmarken von kritischer Abwehr bis zu heutigen ästhetisch motivierten Umarmungen referiert. Worin bestehe dann aber das Faszinationspotenzial? "Vorgeführter Sport stellt eine der wenigen offenen Situationen dar, in denen es wirklich auf den Augenblick ankommt, in dem geschieht, was geschieht. Hier kann sich auch eine komplizierte Gesellschaft Einfachheit leisten. Vielleicht ist das Attraktive des Sports, dass auch die größten Geldmittel und die professionellste Vorbereitung in der Situation des Spiels nichts mehr bedeutet. ... Hier ist Unbestimmtheit erlaubt."

Außerdem sah Daniel Kothenschulte beim Animationsfilmfestival in Annecy neue Trickfilme, von denen ihm besonders der koreanische Film "The Dearest" von Sun-Ah Kim und See-Hee Park gefallen hat. Einige der Filme aus dem Kurzfilmprogramm sind im übrigen derzeit in der arte-Mediathek zu sehen, bei Youtube finden wir noch den bezaubernden "Pythagasaurus":



Besprochen werden die Ausstellung "Choreografie der Massen" in der Akademie der Künste in Berlin, die von Alain Platel choreografierte Show "C(h)oeurs" im Forum in Ludwigsburg und eine Biografie über Wolfgang Huber (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

NZZ, 11.06.2012

Nach den Schäden, die mehrere Erdbeben in der Emilia Romagna und der Lombardei auch an Kunstwerken und Architekturmonumenten verursacht haben, beschäftigt sich Gabriele Detterer mit Risikobewertung und Prävention. Vor allem Stilwechsel wie "Umbauten der mittelalterlichen Bausubstanz und Überladung der Raumstruktur mit üppigem Barock" seien einer stabilen Tektonik wohl "nicht immer zuträglich" gewesen. "2008 erstellte das italienische Kultusministerium normative Leitlinien, die das Risiko von Erdbebenschäden am Patrimonio Culturale verringern sollen. In der Emilia Romagna und der Lombardei hatte man sich bisher jedoch sicher gefühlt, denn auf der staatlichen Erdbebenkarte ist die Poebene hell markiert, im Gegensatz zum tiefrot gekennzeichneten Apennin. Jetzt muss die Risikobewertung neu durchgeführt werden. Insgesamt gilt, dass eine Vielzahl von Kulturstätten und historischen Architekturdenkmälern auf wenig festem Grund steht; vom Alpenrand bis hinunter in die Stiefelspitze ist die seismische Gefahr sehr hoch."

Außerdem: Miriam Meckel fragt, ob wir bald Teil der Maschine werden, also der Suchmaschine. Hans-Christoph Zimmermann berichtet vom "Stücke"-Festival in Mühlheim.

Welt, 11.06.2012

Der Opernbetrieb scheint sich überhitzt zu haben, beobachtet Manuel Brug, der nachrecherchiert hat, wer und warum in letzter Zeit so abgesagt hat: "Anna Netrebko lässt die Berliner und die Bayerische Staatsoper sowie die Salzburger Pfingstfestspiele sitzen, Renée Fleming erscheint nicht als monatelang erwartete Arabella in Wien. Jonas Kaufmann fällt ochenlang aus - angeblich wegen eines Pilzes auf dem Stimmband, nur wenige im Opernbetrieb haben von so was schon mal gehört."

Weiteres: Richard Herzinger berichtet sehr beeindruckt von einem Gespräch zwischen Herta Müller und Liao Yiwu über die Freiheit und die geradezu "instinktive Unfähigkeit zum Mitmachen". Christina Hoffmann stellt Oliver Kluck als aufregenden und aufgeregten Autor böser Theaterstücke vor. Anne Waak empfiehlt Hot Chip als Boyband für Erwachsene. Alan Posener gratuliert Gunter Gabriel zum Siebszigsten.

TAZ, 11.06.2012

"Höllisch schwierig" sei es, resümiert Paul Hockenos anlässlich eines Besuchs von Roma-Dörfern in der Ostslowakei, frei von Stereotypen und Klischees über Roma zu schreiben. Journalisten bedienten meist das des singenden, tanzenden Armen oder beschrieben vor allem die Missstände. Eine weitere Hürde sei die Redaktion. "Zwanzig Jahre nach dem Zusammenbruch des Kommunismus haben wir alle immer wieder die gleichen Artikel über Roma gelesen. 'Was ist daran neu?', würde mich die Redaktion fragen. Inwiefern hebt sich diese Geschichte über slowakische Roma von denen ab, die ich über Roma in Transsylvanien 1991 oder über ungarische Roma vor zehn Jahren oder tschechische Roma vor ein paar Jahren geschrieben habe? ... Ich könnte ehrlich sagen, dass es praktisch das Gleiche ist; oder lügen und über einen glücklichen Roma-Musiker oder eine erfreuliche NGO-Geschichte schreiben."

Weiteres: Sonntagsreden von Leuten, die sich "im Ernstfall keinen Deut um die kritischen Erkenntnisse der Kunst scheren" hörte Ingo Arend bei der Eröffnung der 13. Documenta in Kassel, die aber trotzdem "ja - politisch" sei. Erst Abriss, anschließend Teilwiederaufbau als Fake: Jürgen Gottschlich informiert über die "Ensembleschutzmaßnahmen" im heruntergekommenen und bisher überwiegend von Kurden bewohnten Istanbuler Stadtviertel Tarlabasi, deren Umsetzung in die Hand eines privaten Großinvestor gelegt wurde. Kristof Schreuf beobachtet Klaus Lemke in Kreuzberg beim Drehen seines neuen Films "Berlin Texas".

Und Tom.

FAZ, 11.06.2012

Verena Lueken hat sich mit Werner Herzog in den USA getroffen, mit dessen stetig umfangreicher werdendem Werk man kaum Schritt halten kann, obwohl es hierzulande kaum mehr abgebildet werde. Den vielbeschäftigten Exil-Baiuwaren ficht dies und vieles andere freilich nicht an: "Die Installation im Whitney Museum in New York - wie es dazu kam, dass Herzog überhaupt an dieser Ausstellung teilnahm, hört sich in seinen Worten so an: 'Das Whitney Museum lud mich ein, für die Biennale eine Installation zu machen. Ich sagte: Ich kenne das Whitney nicht. Und die: Ja, gehen Sie denn nicht in Museen? Nein, sagte ich. Sie sind doch Künstler! Ich sagte: Nein, ich bin kein Künstler, ich bin Soldat.'" Freilich nur, wie Herzog anmerkt, ein "Soldat des Kinos".

Außerdem: Beim Comic-Salon in Erlangen bemerkt Thomas Vorwerk nicht nur ein aus allen Nähten platzendes Programm, sondern auch einen "Trend zu harten Themen, die oft mit viel Schwarz (...) gezeichnet werden." Wolfgang Schneider verfolgt an der Schaubühne in Berlin eine Abendveranstaltung über Schreiben in Unfreiheit mit Herta Müller und Liao Yiwu. Sabine Frommel begeht das Bahnhofsgebäude der Stazione Tiburtina in Rom. Rainer Meyer besucht Erdbebenruinen in Norditalien. Hans-Christian Rössler übermittelt Notizen vom Israelischen Opernfestival.

Besprochen werden Achim Freyers Inszenierung von "Rappresentatione di anima et di corpo" in der Berliner Staatsoper und Bücher, darunter Stefan Andres' Roman "Der Knabe im Brunnen" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

SZ, 11.06.2012

Dass nicht die Israelis, sondern die USA mit der Schadsoftware Stuxnet den Cyberangriff gegen das iranische Atomprogramm lanciert haben, sieht Andrian Kreye durch David E. Sangers Buch "Confront and Conceal" bestätigt, dass "Obamas geheime Kriege" unter die Lupe nimmt. Und macht sich Sorgen: "Wenn Stuxnet so etwas wie der digitale Erstschlag war, dann wird sich die Cyberwar-Debatte in den nächsten Jahren mit jedem neuen Fall verschärfen. Die Szenarien in den Planspielen staatlicher Nachrichtendienste und phantasievoller Buchautoren sind jedenfalls so dramatisch, dass man sich bald schon nach den Zeiten zurücksehnen dürfte, als sich Zivilisten noch um Filmtauschbörsen und heruntergeladene Popsongs stritten."

Weitere Artikel: Hans-Peter Kunisch berichtet von Auftritten arabischer Dichter beim Berliner Poesiefestival. "Angemessen größenwahnsinnig" seien die letzten beiden Projekte, darunter eine Adaption von David Foster Wallaces Roman "Unendlicher Spaß", mit denen sich Matthias Lilienthal von seinem Chefposten am HAU-Theater in Berlin verabschiedet, findet Peter Laudenbach. Comics aus dem arabischen und südostasiatischen Raum bildeten einen Schwerpunkt beim Comic-Salon in Erlangen, beobachtet Christoph Haas.

Besprochen werden neue DVDs, der Film "Wolfsbrüder", Achim Freyers Inszenierung von "Rappresentatione di anima e di corpo" an der Berliner Staatsoper und ein neues Buch des Biologen Edward O. Wilson, der darin umstrittene (vergleiche etwa diese vernichtende Kritik von Richard Dawkins) Thesen zur Sozialbiologie artikuliert (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).