Heute in den Feuilletons

Wir verorten uns anti-patriarchal und leben vegan

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.09.2012. In Berlin soll ein Drei-Religionen-Haus entstehen. Es soll 44 Meter hoch sein. Die Welt hofft, dass die Religionen darin einen Gegenentwurf zur "weitgehend laisierten Stadt" liefern. In der FAZ empfiehlt der Historiker Andreas Wirsching, dass Deutschland den Euro rettet, und zeigt schon mal die "notwendigen politischen Instrumente", auch George Soros wird zitiert, der sich mit ihm einig ist. In der FR sieht es Richard Sennett genauso. Die SZ ersehnt sich nach einem Sommer der Hektik eine langsame Erschließung von Kunst.

FR/Berliner, 12.09.2012

Begleitet von Tröten und Pfeifen wurde gestern Nachmittag in der Paulskirche der Adorno-Preis an Judith Butler verliehen, berichtet Christian Schlüter. Butler habe sich nicht beirren lassen und sei in der Dankrede bei ihrem Thema geblieben, "der allgegenwärtigen Herrschaft 'bio-politischer Regime'. Sie spricht vom 'unbetrauerbaren Leben' und damit von den politischen wie ökonomischen, nur allzu gerne auch moralisch verbrämten Ausgrenzungsregimen, die Menschen zu einem wertlosen Leben verurteilen und in die Schattenwelten verdrängen, für die sich keine Öffentlichkeit mehr zureichend interessiert: Menschen ohne Papiere, Kriegs- und Hungerflüchtlinge, Gefangene und Gefolterte.'" Schuld sei der Neoliberalismus.

Im Interview mit Michael Hesse (leider nicht online) empfiehlt der amerikanische Soziologe Richard Sennett, dass Deutschland zur Not für die Eurorettung bezahlt: "Es handelt sich auf jeden Fall nicht um einen Gegenstand von Charity, wenn von Hilfen für die Schwachen die Rede ist. Deutschland profitierte von der Schaffung der Europäischen Union."

Aus den Blogs, 12.09.2012

Original oder Fälschung? Achgut zitiert aus einer WG-Annonce von Butler-Lesenden, die jedem Zimmersuchenden erklären, mit wem sie es zu tun haben werden: "Wer wir sind: Wir verorten uns anarchistisch / linksradikal / (pro) queer-feministisch / anti-patriarchal und leben vegan. Auf struktureller Ebene sind wir alle unterschiedlich positioniert, d.h wir profitieren bzw. sind negativ von verschiedenen MachtStrukturen betroffen: hier wohnen sowohl weiblich als auch männlich erstsozialisierte Personen, einige haben einen Mittelklassebackground und andere haben Klassenwechsel erlebt."

Der Holtzbinck-Konzern verkauft die VZ-Netzwerke, meldet unter anderem heise.de: "2007 hat die Verlagsgruppe Holtzbrinck für die Übernahme des Unternehmens angeblich 85 Millionen Euro auf den Tisch gelegt. Mit der Expansion von Facebook haben die VZ-Netzwerke in den vergangenen Monaten trotz verschiedener Bemühungen massiv an Reichweite verloren."
Stichwörter: Facebook, Queer

Weitere Medien, 12.09.2012

Die FAS hat einen zornigen Artikel von Günter Franzen online gestellt, der über den Krebstod seiner Frau, Siddhartha Mukherjees informatives Buch "Krebs" und den Umgang mit Krebs in Deutschland schreibt. Hierzulande, so Franzen, höre man in Reden über Krebs leider viel zu oft den "abstoßend triumphierenden Grundton" des: selbst Schuld, eben nicht gesund genug gelebt. So in Fritz Pleitgens Vorwort zu dem Krebsbuch etwa oder in der Apotheken Umschau, wo man sich "darauf geeinigt [hat], die Kranken fühlen zu lassen, dass sie den Krebs verdient haben, und die Toten wissen zu lassen, dass sie die Wahl, an dieser Krankheit nicht zu sterben, mutwillig ausgeschlagen haben."

In einem sehr schönen, langen Interview mit Booksluts Jessa Crispin erzählt Claudio Magris von seinem Donau-Buch und dem Aufwachsen in Triest, einer Stadt, die mal italienisch, mal jugoslawisch, aber natürlich auch immer beides war: "When I was a small boy, and when I went on the Carso, the border, which was closer to my home than one part of Paris to another part of Paris, it was until a certain time, it was impossible. I saw this border, and until the rupture of Tito and Stalin and until the normalization between Italy and Yugoslavia, it was impossible. Behind this border there was a world that was for me disquieting, mysterious, the empire of Stalin, the symbol of darkness, the East. Every country in Europe has its own East to refuse. But at the same time, behind this border there was a territory I knew very well, because this territory had been Italian. I had been several times in this familiar world. This feeling of something that is both very known and unknown, it's very important for literature. Literature is a voyage from the known to the unknown, or the contrary. Something which seems very familiar reveals itself suddenly unheimlich. Or the contrary."

Welt, 12.09.2012

In Berlin soll ein Drei-Religionen-Haus entstehen, ein Bethaus für Christen, Juden, Muslime. Einen Architektenentwurf gibt es schon. Ob Gelder da sind oder woher sie kommen sollen, erzählt Lucas Wiegelmann nicht, aber er freut sich schon mal über das Zusammenrücken der Religionen: "Die Beschneidungsdebatte vermittelt eine Ahnung davon, dass die Frontlinien unserer Gesellschaft künftig nicht mehr entlang der verschiedenen Religionsgrenzen verlaufen könnten, sondern entlang der Grenze zwischen religiösen und unreligiösen Menschen. Spätestens dann wird Juden, Christen und Muslime hierzulande mehr verbinden, als sie trennt. Ein Drei-Religionen-Haus könnte diese Gemeinsamkeiten sichtbar machen und einen konkurrierenden Gegenentwurf in einer weitgehend laisierten Stadt darstellen."

Im Interview mit Hanns-Georg Rodek erzählt Tony Gilroy, Drehbuchautor und Regisseur des Films "Bourne-Vermächtnis 4", dass nicht nur die Agentenwelt seines Films, sondern auch die eigene Branche an Überwachungsparanoia laboriert - aus Angst vor Piraten: "Nehmen Sie das Drehbuch. Niemand bekommt es. Wenn ich mit Schauspielern proben will, kann ich es denen nicht geben, nicht einmal eine Szene. Ich musste eine Scheinszene proben. Ich habe 40 Seiten Drehbuch nur zur Täuschung geschrieben!" Rodek schreibt auch die zugehörige Kritik zum Film.

Weitere Artikel: Alan Posener wundert (und freut) sich, dass Angela Merkel, nachdem sie Multikulti vor zwei Jahren für tot erklärte, in der Beschneidungsdebatte zusammen mit 90 Prozent der Bundestagsabgeordneten wieder zurückruderte und die von einem Gericht erkannte Körperverletzung aus religiösen Rücksichten zulassen will.

Besprochen werden ein "Tristan" im, heroischen Mindener Wagner-Verband und eine neue CD der Two Gallants (Musik).

TAZ, 12.09.2012

Auf der Meinungsseite widerspricht Peter Franck von Amnesty International vehement den Behauptungen der Putin-Verteidiger in SZ und FAS, dass die Band Pussy Riot auch in Deutschland verurteilt worden wäre: "Freiheitsstrafen spielen bei ähnlichen Delikten in Deutschland praktisch keine Rolle."

Weiteres: Höchste Harmonie hat Ulrich Gutmair auf Jerusalems Sacred Music Festival verspürt: "Die Leute klatschen, tanzen und singen mit, bis die Sonne erste Strahlen auf allseits glückliche Gesichter wirft." Besprochen werden eine Ausstellung der kenianischen Künstlerin Wangechi Mutu in der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden und Tony Gilroys Folge des Agententhrillers "Bourne Legacy".

Und Tom.

NZZ, 12.09.2012

Michael Marek trifft den legendären Armeereporter Ronald L. Haeberle, der das Massaker von My Lai fotografierte: "Mit zwei Kameras (Farbe und Schwarz-Weiß) hielt der damals 27-jährige Armeefotograf fest, wie die Mitglieder der Charlie Company unschuldige Frauen, Kinder und Männer ermordeten, Tiere abschlachteten, Brunnen vergifteten, Häuser und Lebensmittelvorräte in Brand steckten. 'Es war alles total irreal, sogar Babys wurden massakriert', erzählt Haeberle."

Weiteres: Sieglinde Geisel begutachtet die Open-Air-Kunst im Berliner Park am Gleisdreieck. Peter Michalzik bilanziert Oliver Reeses Intendanz am Schauspiel Frankfurt. Besprochen werden unter anderem Christina von Brauns Kulturgeschichte "Der Preis des Geldes" und Stefan Merrill Blocks Roman "Aufziehendes Gewitter" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

FAZ, 12.09.2012

Die Deutschen können sich nicht mehr aus dem Euro zurückziehen, meint der Historiker Andreas Wirsching. Also müssen wir vorwärts gehen und die Probleme "mit den bereits bekannten, auf dem Pfad schon eingesetzten Werkzeugen" lösen. Von diesem Pfad abzuweichen, sei "grundsätzlich nicht mehr möglich". Und welche Werkzeuge meint er? "Eurobonds, Transfer via ESM und Staatsfinanzierung durch die EZB mögen in den Augen der Deutschen krasse Verstöße gegen die finanzpolitische Vernunft (und gegen das nationale Interesse) sein; aber aus europäischer Sicht werden sie mehr und mehr zu notwendigen politischen Instrumenten." Dies, so Wirsing, könnte vielleicht die "spekulationsorientierte Aufmerksamkeit der Finanzmärkte" von Europa ablenken.

Man fragt sich, warum dann ausgerechnet einer der größten Spekulanten der Welt, George Soros, ebenfalls dafür plädiert, dass die Deutschen endlich die Eurorettung bezahlen. "Das Land müsse sich entscheiden, zu führen oder den Euroraum zu verlassen, 'to lead or to leave'", sagte Soros laut Marcus Jauer auf einer Veranstaltung in Berlin (wie in seinem Text in der NYRB).

Weitere Artikel: Der Altbürgermeister von Sankt Veit, Richard Donauer, erinnert sich im Interview an Thomas Bernhard, der dort im Lungensanatorium war, und erklärt, warum Bernhard-Lesungen nicht in Sankt Veit, sondern im Nachbarort Goldegg (mehr hier) stattfinden: "Das war uns zu teuer, ein guter Schauspieler kostet einfach. Außerdem verlangt der Suhrkamp Verlag Tantiemen für eine Lesung - was für mich widersinnig ist." Dieter Bartetzko stellt das vom Büro Kuehn Malvezzi entworfene, 44 Meter hohe Bet- und Lehrhaus für Juden, Muslime und Christen vor, das auf dem Petriplatz in Berlin-Mitte errichtet werden soll (allerdings ist laut BZ die Finanzierung noch nicht gesichert). Hans-Christian Rössler trifft sich mit dem israelischen Schriftsteller Nir Baram, dessen Roman "Gute Leute" über einen Mitläufer im Dritten Reich gerade auf Deutsch erschienen ist. Andreas Rossmann schreibt zum Tod der Architektin Elisabeth Böhm.

SZ, 12.09.2012

Erschöpft, pleite und mit einigem Unbehagen blickt Jörg Heiser auf den Sommer der Kunst-Großaustellungen mit Documenta, Manifesta und Triennale zurück, die in ihrer ausuferndern Megalomanie für den einzelnen längst nicht mehr bewältigbar sind: "(F)ür langsames Erschließen bleibt keine Zeit. Die Bewertung bleibt konstitutiv unabgeschlossen, wenn sie nicht ganz ad absurdum geführt ist. Die Frage 'na, wie findest du die Ausstellung?', klingt, als würde man gefragt: 'na, wie war's gestern auf Google?'.... Man spürt, dass möglichst für alle was dabei sein soll, viele widersprüchliche Facetten für viele widersprüchliche Erwartungen."

Weitere Artikel: Johan Schloemann rät in der von Manfred Spitzers umstrittenem Buch "Digitale Demenz" erhitzten Debatte um die "pädagogischen und kulturellen Herausforderungen der Digitalisierung" zu Besonnenheit. Henning Klüver berichtet vom internationalen Literaturfestival im italienischen Mantua. Wolfgang Schreiber wünscht sich von Tugan Sokhiev, den neuen Dirigenten des Deutschen Symphonie-Orchesters, eine Bereicherung Berlins, "indem er von der verlorenen Kultur des Russentums erzählt." Im neuen Album von Calexico geht es "explizit um kubanische Fluchtsehnsucht und damit auch um New Orleans", beobachtet Joachim Hentschel. Hier das aktuelle Video der Band:



Besprochen werden neue Jazzveröffentlichungen, der neue "Bourne"-Film, neue Stücke am Deutschen Theater in Berlin und Bücher, darunter eines über Irrtümer der ökonomischen Glücksforschung (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).