Heute in den Feuilletons

In Grün und Orange, in Rot, Blau und Gelb

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.05.2013. Ja, ist es etwa das Empire latin, in dem wir zu posthistorischen Tieren werden, fragt die NZZ. Die Welt trifft Urs Widmer zum Werkstattgespräch. Die SZ feiert den Maler Hans Hofmann. Die FAZ wirft Georg Baselitz vor, den Wirtschaftseliten nahe zu stehen. Viele Zeitungen (und der Perlentaucher) berichten aus Cannes über Claude Lanzmanns Film "Le dernier des Injustes". Und wir zünden ein Licht an für Ray Manzarek.

NZZ, 21.05.2013

Die derzeitige Debatte um ein "Empire latin" als europäisches Gegengewicht zur deutschen Dominanz geht zurück auf einen im Auftrag Charles de Gaulles verfassten Text des russisch-französischen Philosophen Alexandre Kojève aus dem Jahr 1945, berichtet Uwe Justus Wenzel. Das "dolce far niente", das Kojève darin als das Lebensgefühl dieses "lateinischen Reiches" vorsieht, erinnert Wenzel stark an den "posthistorischen Endzustand der Zeitläufte, wie ihn der Geschichtsmetaphysiker in seinen (späteren) Hegel-Auslegungen mit einer freilich ganz anderen Völkerpsychologie phantasiert hat (...). Ist die 'lateinische' Lebensart (an der der Kojève-Leser Agamben großzügig auch 'den Griechen' teilhaben lässt) der Vorschein des 'amerikanischen' Paradieses, in dem dereinst alle Menschen (also auch 'der Deutsche'), zu 'posthistorischen Tieren' geworden, beieinander auf der - dann doch - faulen Haut liegen wie der Löwe beim Lamm?"

Weiteres: Die Frühjahrstagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung fand diesmal im estnischen Tartu statt und wird "sicher als eine der schönsten in die Annalen der Deutschen Akademie eingehen", informiert Joachim Güntner. Dirk Pilz zieht eine durchwachsene Bilanz des 50. Berliner Theatertreffens und stellt fest: "Die Hauptpersonen waren die Schauspieler, nicht die Regisseure."

Besprochen werden Inszenierung von Bellinis "Norma" mit Cecilia Bartoli bei den Salzburger Pfingstfestspielen (die Daniel Ender als "keineswegs ideal, sondern bestenfalls Kunsthandwerk" einstuft) und von Mozarts "Don Giovanni" mit Anna Netrebko bei den Pfingstfestspielen in Baden-Baden ("eine lauwarme Produktion", urteilt Lotte Thaler) sowie Bücher, darunter Adam Johnsons phantastischer Nordkorea-Roman "Das geraubte Leben der Waise Jun Do" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Perlentaucher, 21.05.2013

Lutz Meier berichtet für den Perlentaucher aus Cannes - unter anderem über Claude Lanzmanns Film "Le dernier des injustes", in dem Lanzmann - mit Material aus den siebziger Jahren - den ehemaligen Judenrat Benjamin Murmelstein porträtiert und die Frage nach der Rolle der Judenräte stellt: "Lanzmann gelingt es, die Frage zu beantworten, ohne sie eindeutig zu beantworten. Aber erst einmal schaut man atemlos zu, wie sich Murmelstein auf seiner römischen Terrasse mit seiner Mischung aus Eitelkeit, urdeutschem Pflichtbewusstsein, Wiener Geschmeidigkeit und Charme an die Frage annähert, sich von ihr entfernt, wie er verführt, verklärt, reflektiert, redet, wie ein Wasserfall."

TAZ, 21.05.2013

Cristina Nord sah in Cannes Claude Lanzmanns "Le dernier des injustes", ein Film über den Rabbiner Benjamin Murmelstein, der von September 1944 bis zum Mai 1945 dem Judenrat in Theresienstadt vorstand: "Er ist ein überaus gewandter, kluger, nie um eine passende Metapher verlegener Mann. Man glaubt ihm bereitwillig und reibt sich dann doch verblüfft die Augen angesichts gespenstischer Augenblicke. Über die Zeit vor Kriegsausbruch, als er mit der 'Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Wien' kooperierte, sagt er zum Beispiel: 'Eichmann hat bei mir Auswanderung studiert.'"

Weiteres: Katrin Bettina Müller berichtet vom Berliner Theatertreffen. Daniel Schreiber entsagt dem Alkohol. Christian Werthschulte hörte John Zorn mit Mike Patton beim Moers Jazzfestival. Sonja Vogel berichtet über die Berliner Konferenz "Judgement in Extremis", die über Hannah Arendts Begriff der Banalität des Bösen diskutierte. Rudolf Walther schreibt den Nachruf auf den Historiker Ernst Klee.

Und Tom.

Welt, 21.05.2013

Richard Kämmerlings trifft Urs Widmer, der in diesen Tagen 75 Jahre alt wird, zum Werkstattgespräch. Widmer erinnert sich auch an seinen Vater, den Übersetzer Walter Widmer: "Er ist für mich mit zwei Gegenständen verbunden, als wären es Körperteile: seine Zigarette und seine Schreibmaschine. Mein Vater hat 17 Stunden am Tag geraucht und 17 Stunden am Tag getippt."

Weitere Artikel: Matthias Heine lässt das Theatertreffen Revue passieren und beklagt eine allgemeine Geschichtslosigkeit der jüngsten Inszenierungen. Hanns-Georg Rodek hat in Cannes Claude Lanzmanns Film "Le Dernier des Injustes" gesehen, in dem - mit Material, das in Lanzmanns "Shoah"-Film nicht verwendet wurde - der Wiener Rabbiner Benjamin Murmelstein porträtiert wird. Matthias Kamann empfiehlt eine schon nicht mehr ganz aktuelle Dokumentation über Joschka Fischer heute Abend auf Arte.

Besprochen werden eine Choreografie von Billy Forsythe im Festspielhaus Hellerau und das Christoph Marthaler-Spektakel "Letzte Tage - Ein Vorabend" bei den Wiener Festwochen.

FAZ, 21.05.2013

Julia Voss, Kunstkritikerin jener Zeitung für Deutschland, die der Wirtschaft fernsteht wie keine andere, bringt eine ganzseitige Polemik gegen den Malerfürsten Georg Baselitz und lässt sie in der Frage gipfeln: "Was sagen Baselitz' gute Beziehungen zur Finanz- und Wirtschaftselite über seine Kunst aus?" Ihre Antwort: Sein Außenseitertum ist nur eine Pose, die sich gut verkauft. "Die in Form und Inhalt zelebrierte Rohheit, die bei der 'Großen Nacht im Eimer' noch ein Novum war, wurde schnell vom Regelbruch zum anerkannten Stil, zum Symbol der Macht, ein Kult von Aggression für diejenigen, die sich Rücksichtslosigkeit erlauben können."

Weitere Artikel: Sandra Kegel begleitete Mitglieder der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung zu einer Tagung in die estnische Universitätsstadt Tartu, wo die schmerzhafte Geschichte der deutsch-baltischen Beziehungen zur Sprache kam (und Ralph Dutli an Joseph Brodskys Zeit in Estland erinnerte). Verena Lueken berichtet in ihrer Cannes-Kolumne über die neuen Filme von Asghar Farhadi und der Coen-Brüder. Oliver Tolmein schreibt den Nachruf auf den Historiker Ernst Klee.

Besprochen werden Anton Tschechows "Möwe" im Frankfurter Schauspiel, die Ausgrabung von Carlo Pallavicinos Barockoper "La Gerusalemme liberata" am Staatstheater Mainz und die ebenfalls wiederentdeckte Oper "Amadis de Gaule" von Johann Christian Bach auf CD.

SZ, 21.05.2013

Sehr gerne nimmt Georg Imdahl das Angebot der Pfalzgalerie Kaiserslautern in Anspruch, den wenig besungenen, im Fränkischen geborenen Maler Hans Hofmann in einer Ausstellung (mehr Eindrücke in diesem Video) als Speerspitze der Avantgarde wiederzuentdecken: "Dieser Maler langte beherzt in den Farbtopf. ... Über das schwere Impasto legt er abgezirkelte, gespachtelte, monochrome Rechtecke ('slabs') in Grün und Orange, in Rot, Blau und Gelb, die aus den Farbteppichen in den Vordergrund drängen oder in die Tiefe zurückweichen. Damit erkundet er eine Alternative zum perspektivischen Raum."

Weiteres: Steven Uhly spricht mit Regisseur Michael Verhoeven über die geplante Verfilmung seines Romans "Glückskind". Tobias Kniebe macht beim Filmfestival in Cannes bereits erste Muster aus: "Wo auf der Leinwand Reichtum zu sehen ist, verfallen nicht nur die Luxuswerte, sondern auch alle Sitten und Sicherheiten; bei den Armen dagegen erreicht der Existenzkampf eine neue, fast neorealistische Härte und Dringlichkeit." Ebenfalls in Cannes sieht Susan Vahabzadeh "Le dernier des injustes", den neuen Film von Claude Lanzmann. Höchst bedauerlich findet es Burkhard Müller, dass die Kultur gesellig gesungener Lieder hierzulande im Eingehen begriffen ist.

Besprochen werden Bellinis bei den Salzburger Festspielen aufgeführte "Norma" ("Hart, dringlich, fast nicht mehr schön und doch grandios", würdigt Egbert Tholl die Sangeskunst von Cecilia Bartoli), Christoph Marthalers "Letzte Tage" in Wien und autobiografische Skizzen von Virginia Woolf (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).