Heute in den Feuilletons

Tänzelnd, schwebend, federleicht

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.07.2013. Die Enthüllungen über die versammelten Geheimdienstaktivitäten gehen weiter. In der FAZ fordert Georg Mascolo ein internationales Freiheitsabkommen. Auf Spiegel Online erklärt Hamed Abdel-Samad, warum die Muslimbrüder in Ägypten zurecht geschasst wurden. Aber auch die Opposition auf dem Tahrirplatz hat bezüglich des Verhältnisses von Mann und Frau noch einges zu lernen, zeigt der Guardian. Der Bachmann-Wettbewerb ist überstanden und gerettet. Die "bezaubernde Katja Petrowskaja" trifft mit ihrer Holocaust-Geschichte den allgemeinen Konsens.

Welt, 08.07.2013

Wer hätte auch gedacht, dass sich je etwas verändert: Der Bachmann-Wettbewerb bleibt erhalten, und literarisch war auch alles in Ordnung, meldet Jan Küveler mit Blick auf die Preisträgerin: "Es war ja wirklich alles gut. Die bezaubernde Katja Petrowskaja gewann den Hauptpreis. Mit einer, wie es immer wieder und völlig zu Recht hieß, 'tänzelnden', 'schwebenden', 'federleichten' Geschichte über das denkbar schwerste Thema: die Erschießung der eigenen Urgroßmutter 1941 durch die Nazis in Kiew." Hier der Preisträgertext der 43-jährigen Debütantin.

Im Interview erzählt Petrowskaja, warum es für sie eine Befreiung war, auf deutsch zu schreiben: "Wenn man über diese Zeit auf Russisch schreibt, ist man unweigerlich in einem moralischen Diskurs von Sieg und Opferbereitschaft gefangen. Von der gleichen Begebenheit auf Deutsch zu berichten bedeutete hingegen, sich ein deutsches Gegenüber zu imaginieren. So konnte ich davon erzählen, dass die Geschichte von Opfer und Täter für mich passé ist."

Terezia Mora kommentiert eine vom Goethe-Institut erstellten "europäischen Kulturkanon". In seiner Feuilleton-Kolumne denkt Marc Reichwein über den tieferen Sinn des Schwurbelns im Feuilleton nach (und greift eine in der Medienwoche veröffentlichte Polemik von Fabian Baumann auf, auf die es inzwischen auch eine Erwiderung gibt). Im Forum denkt Richard Herzinger über Ägypten nach Mursi nach.

Weitere Medien, 08.07.2013

Auf Spon erklärt Hamed Abdel-Samad, warum der ägyptische Präsident Mursi seiner Ansicht nach gestürzt werden musste: Die Muslimbrüder "haben den Zeitgeist nicht verstanden. Sie konnten nicht begreifen, dass sie im Zeitalter der globalen Kommunikation keine neue Diktatur aufbauen können. Sie nutzten die Demokratie als Trojanisches Pferd, um an die Macht zu kommen, dann versuchten sie, die Demokratie von innen zu zerstören. Wie Mubarak wollten sie in rasantem Tempo die Kontrolle über alle Institutionen des Landes erlangen. Ihre Allianz mit der Hamas war eine Bedrohung für die Sicherheit auf der Halbinsel Sinai und kostete 16 ägyptische Soldaten das Leben. Ihre amateurhafte Wirtschaftspolitik führte das Land in den Ruin."

Warum ausgerechnet die Demonstranten auf dem Tahrir-Platz bei den Jubelfeiern zur Absetzung Präsident Mursis einen Vergewaltigungsrekord aufstellten, versucht Patrick Kingsley im Guardian herauszufinden. Mehr als achtzig Frauen seien auf dem Tahrir-Platz sexueller Gewalt ausgesetzt gewesen: "Often, random passers-by join in the attacks. But all activists in the field feel sure the assaults are usually started by groups of men who go to the square together on crowded protest days with the specific intention of violating women. 'There's an absolute absence of any security forces in Tahrir,' explained Bahgat, who no longer runs the group. 'And also the crowd seems to have become conditioned to it.' Such indifference is not specific to Tahrir. While in the past year many more people have begun to mobilise against it, sexual harassment still remains an accepted part of Egyptian life. According to a UN survey released this April, 99.3 % of Egyptian women reported being sexually harassed, with 91% saying they feel insecure in the street as a result."

Die Idee Google oder Facebook zu boykottieren, um den Geheimdiensten ein Schnippchen zu schlagen, findet Christian Jakubetz bei Cicero.de absurd. Denn das Problem sei ein politisches: "Verursacher sind doch nicht, die Daten ins Netz stellen. Sondern die, die unberechtigt darauf zugreifen. Wenn man über die wirksamsten Konsequenzen gegen Einbrecher spricht, wird man natürlich irgendwann auf die Idee kommen, dass man sich gegen Einbrecher schützen sollte. Aber das Problem sind immer noch die Einbrecher, nicht die Menschen in ihren Häusern oder Wohnungen."

Im Interview mit Spon erzählt die Illustratorin Birgit Schössow, wie sie ihr erstes Cover für den New Yorker zeichnete: "Am Silvestertag habe ich am Schreibtisch über einem Wintermotiv gegrübelt. Da kam mir die Idee mit der aufgerissenen Zeitschriftenseite. Nach einer Woche war das Bild in der engeren Wahl, schließlich kam von Françoise Mouly der Anruf, dass auch der Chefredakteur es gut findet. Da stand ich dann mit meinem radebrechenden Englisch und versuchte, andere Worte als 'thank you" und 'fantastic' zu sagen."

TAZ, 08.07.2013

Angela Leinen resümiert den Bachmann-Wettbewerb und findet die Begeisterung für Katja Petrowskajas Erzählung "Vielleicht Esther" über Babij Jar berechtigt, wenn auch etwas zu einmütig: "Die Jury war fast einhellig begeistert. Die Autorin wies nach der Preisverleihung auf das 'Betroffenheitsmoment' durch den Stoff hin: 'Es fehlte mir ein wenig an Kritik.'"

Weiteres: Oranus Mahmoodi berichtet von einem integrativen Musikprojekt für hörgeschädigte Jugendliche in Hamburg. Besprochen werden die Ausstellung "Beat Generation/Allen Ginsberg" im ZKM Karlsruhe, Pia Marais' südafrikanischer Film "Layla Fourie" und Mark Fishers Essay "Kapitalistischer Realismus" (siehe auch ab 14 Uhr unsere Bücherschau des Tages).

Und Tom.

NZZ, 08.07.2013

Als ein Lehrstück von Verblendung und Gier beschreibt die ägyptische Schriftstellerin und Journalistin Mansura Eseddin die Herrschaft des gestürzten Präsidenten Mursi: "Beizufügen bleibt, dass es angesichts der zunehmenden Gewalt in dieser Geschichte nur Verlierer geben wird. Die Muslimbrüder haben infolge ihres Starrsinns und ihrer Radikalisierung binnen eines einzigen Jahres mehr verloren als zuvor in zwei Jahrzehnten erlittener Repression. Den Preis dafür bezahlen in erster Linie die Basis und die jungen Mitglieder der Organisation, denn sie sind es, die nun bewaffnet zum Kampf gegen ihre Mitbürger vorgeschickt werden und die ihrerseits ins Visier des öffentlichen Zorns geraten."

Michael Marek und Sven Weniger statten dem Luxushotel Meliá Panamá Canal einen Besuch ab, das einst die vom Pentagon betriebene Schule der Amerikas beherbte und die Militärdiktatoren Lateinamerikas mit dem nötigen Know-How versorgte: "Verhör- und Foltertechniken, Dschungelkrieg und Gegenspionage standen damals auf dem Unterrichtsplan."

Weiteres: Roman Bucheli hält fest, was für eine klägliche Figur der ORF in Klagenfurt gemacht hat, zeigt sich ansonsten aber sehr zufrieden mit dem diesjährigen Wettbewerb und seiner Gewinnerin Katja Petrowskaja. Markus Ganz berichtet von Volkskulturfest Obwald.

Weitere Medien, 08.07.2013

Geheimgerichte gibt es nicht nur in den USA. Darüber informierte Fritz Glunk letzten Freitag in der SZ in einem Artikel zum geplanten Freihandelsabkommen der USA mit Europa. "Der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt sind die sogenannten Schiedsgerichte. Sie gibt es in allen Freihandelsabkommen. Vor einem solchen Schiedsgericht kann der Investor gegen einen Staat wegen Benachteiligungen aller Art klagen; der umgekehrte Weg, Staat gegen Investor, ist nicht möglich. Der Investor kann schon klagen, wenn der 'volle Schutz' der Investition etwa durch neue Umweltgesetze nicht mehr garantiert ist." So konnte etwa Vattenfall 2009 Umweltschutzgesetze beim Bau eines Kohlekraftwerks bei Hamburg nach einer erfolgreichen Klage ignorieren. "Die Verhandlungen vor dem Schiedsgericht sind geheim, wie die Bundesregierung erst neulich auf eine Anfrage der Grünen hin bestätigte." Gegen die Steuerzahler können somit Strafen verhängt werden, ohne dass sie den geringsten Einblick in das Geschehen bekommen.
Stichwörter: Freihandelsabkommen, Hamburg, USA

Aus den Blogs, 08.07.2013

(Via hemartin) Paul St John Mackintosh stellt auf teleread eine Studie des Urheberrechtsexperten Paul J. Heald vor, wonach Bücher "durch das Copyright verschwinden". Auf Amazon würden wesentlich mehr Bücher von Autoren zum Kauf (angeboten, die mehr als siebzig Jahre tot sind, als von Autoren, deren Schutzfrist noch gilt: "Heald demonstrates that publishers are only damaging their own businesses by delaying the admission of works into the public domain. Even copyright-free, such works actually get sold, as his data proves. These are not Project Gutenberg freebies: Those works are offered on the Amazon shelves for sale. But publishers lack incentive to shift long-tail backlist titles, which tend to languish neglected in the copyright warehouse. Once in the public domain, however, they flourish."

FAZ, 08.07.2013

Nach den jüngsten Enthüllungen im Spiegel, wonach der BND viel enger mit der NSA zusammengearbeitet hat, als er bisher zugab und dem Aufmacher der FAZ am Sonntag, wonach Deutschland geheimdienstlich noch gar nicht aus dem Besatzungsstatus entlassen ist, schlägt Georg Mascolo vor, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel und Barack Obama ein transatlantisches Freiheitsabkommen abschließen. Europa, vor allem aber die Bundesregierung sollte dabei den ersten Schritt tun: "Sie könnte den BND anweisen, dass der Grundgesetzartikel 10, der Schutz des Fernmeldegeheimnisses, künftig für jeden Bürger Europas gelten soll. Überwacht werden dürften EU-Bürger nur dann, wenn es auch gegen einen deutschen Staatsbürger zulässig wäre. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union könnte dann durch eine entsprechende Schutzvorschrift ergänzt werden. Es wäre ein großer, vielleicht sogar ein historischer Moment für Europa, wenn sich 28 Nationen verpflichteten, auf gegenseitige Ausspähung zu verzichten."

Weitere Artikel: Sandra Kegel berichtet vom Bachmann-Wettbewerb, der "spielend ... das Niveau der vergangenen Jahre" übertraf und dessen Fortbestand jetzt offenbar gesichert ist (gewonnen hat die in Berlin lebende Autorin Katja Petrowskaja). Jürg Altwegg skizziert den Streit um Frankreichs Kulturministerin Aurélie Filippetti. Michael Knoche schreibt den Nachruf auf den Bibliothekar Paul Raabe.

Besprochen werden ein Konzert der Rolling Stones im Londoner Hyde Park, die Uraufführung von Günter Senkels und Feridun Zaimoglus "Moses" in Oberammergau und Bücher, darunter Miklos Banffys Roman "Verschwundene Schätze" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 08.07.2013

Christopher Schmidt im Glück: Zum einen kann er die in letzter Sekunde erfolgte Rettung des Lesewettbewerbs in Klagefurt verkünden, zum anderen, dass er sich in diesem Jahr vor Ort weder überraschen lassen noch anstrengen musste. Ringsum alles wunderbar lauwarm, wenn man ihn richtig versteht: "Erstaunlich breit gefächert und auf unangestrengte Weise kunstvoll."

Andreas Zielcke fasst die Situation in der Causa Suhrkamp nach den jüngsten Entwicklungen zusammen: Der Plan der Familienstiftung, den Verlag mittels des Schutzschirmverfahrens zu retten, dürfte wohl gute Chancen haben, während Barlach verständlicherweise zürnt. Jedoch: "Entgegen Gerüchten, die im Umlauf sind, kann dies keinesfalls darauf hinauslaufen, Barlachs Medienholding zu 'enteignen', um ihn so loszuwerden. Das wäre nicht nur rechtswidrig, sondern dumm."

Außerdem bringt die SZ zwei Seiten zur Ruhrtriennale: Holger Pauler besucht eine Wasserskulptur und das vierstündige, von Intendant Heiner Goebbels inszenierte Stück "Stifters Dinge", Martin Kuhna eine Opernadaption vom "Mädchen mit den Schwefelhölzern" in der Inszenierung von Robert Wilson und André Mumot eine Aktion des Rimini Protokoll.

Besprochen werden neue DVDs, der israelische Film "An ihrer Stelle", Christian Stückls im Oberammergauer Passionstheater aufgeführte Inszenierung von Feridun Zaimoglus und Günter Senkels "Moses", ein Konzert von Fleetwood Mac und Steven Johnsons Buch darüber, "Wo gute Ideen herkommen" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).