Heute in den Feuilletons

Sexiness der Intertextualität

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.08.2013. Huffington Post bringt ein erstes Interview mit David Coombs, dem Anwalt von Bradley Manning, der zu 35 Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Der schlimmste Schaden, den Manning angerichtet hat, ist die Verlegenheit vieler Amerikaner über ihr Land, meint er. Die Nachricht, dass Bild-Vizechefredakteur Nikolaus Blome zum Spiegel geht, stößt in der taz auf Befremden. Der Tagesspiegel hatte diese Meldung, bevor sie wahr wurde, schon als Satire. In der NZZ beklagt die russische Schriftstellerin Elena Chizhova die Übernahme Russlands duch alte KGBler. Der Putsch gegen die Muslimbrüder in Ägypten ist ein Putsch gegen Demokratie in islamischen Ländern, meint Ian Buruma in der Welt. Die annoncierte Neuordnung der Berliner Museumslandschaft stößt auf den lauwarmen Applaus der Feuilletons.

Aus den Blogs, 22.08.2013

Huffington Post bringt ein erstes Interview mit Bradley Mannings Anwalt David Coombs, geführt von der freien Journalistin Alexa O'Brien, die es in volle Länge hier präsentieren wird. Als einzigen Schaden, den Manning angerichtet hat, sieht Coombs "Verlegenheit": "die Verlegenheit vieler Leute, die einsehen mussten, dass wir als Vereinigte Staaten nicht immer das Richtige aus den richtigen Gründen tun, was für viele Leute eine Überraschung sein mag. Denn wenn die Leute seine Dokumente lesen, werden sie sehen, dass wir nicht immer handeln, wie wir sollten und nicht immer das Land sind, das wir erstreben sollten."

Ein alter Artikel von Glenn Grenwald in Salon bringt eine Bilanz der Enthüllungen von Bradley Manning in Form von Zeitungsschlagzeilen.

Die obszöne Schwulenpolitik Wladimir Putins und die nahende Olympiade von Sotschi bewirken eine Bewusstwerdung außerhalb Russland, meint Johannes Kram im Nollendorfblog: "Der Schock wirkt: Menschen, die noch vor wenigen Wochen so getan haben, als hätte Homo-Politik nichts mit Menschenrechten zu tun, werden nachdenklich oder passen zumindest auf, was sie sagen. Selbst die Katholische Kirche frisst Kreide und ist wohl ganz froh, dass Benedikt gerade noch rechtzeitig von der Hauptbühne verschwunden ist."

(Via Matthias Rascher) Das Blog Messynessy präsentiert Fotos der allerletzten Fotosession der Beatles.

Der Prozess gegen den gefallenen Funktionär Bo Xilai hat begonnen. Ai Weiwei präsentiert per Twitter eine Variation eines heute kursierenden Fotos.



Weitere Medien, 22.08.2013

(via Gawker) "Die NSA, die offiziell nur sehr eingeschränkt amerikanische Bürger ausspionieren darf, hat ein Überwachungsnetzwerk aufgebaut, das die Internetkommunikation amerikanischer Bürger in viel stärkerem Maß überwacht, als die Behörden bisher zugegeben haben. Das sagen gegenwärtige und ehemalige Behördenmitarbeiter", berichten Siobhan Gorman und Jennifer Valentino-Devries in einem sehr ausführlichen Artikel im Wallstreet Journal. "Das System hat die Möglichkeit, etwa 75 Prozent des gesamten inneramerikanischen Internetverkehrs zu durchforsten, einschließlich eines großen Bereichs von Kommunikation zwischen Ausländern und Amerikanern."

Bradley Manning ist kein Held, sondern jemand mit psychischen Problemen. Das haben Ärzte und Psychiater in der Gerichtsverhandlung festgestellt. Sicher haben sie Recht, meint in einem Guardian-Kommentar der Ex-Soldat Christopher Yates. "Denn die indirekte Schlussfolgerung aus all dem ist, dass ein stabilerer Gefreiter in Bradley Mannings Position das Collateral Murder Video angesehen und - nichts getan hätte. Sicher, er wäre zuerst vielleicht leicht besorgt oder geschockt gewesen. Aber er hätte die komfortablen Beschränkungen durch Regeln und Erlasse akzeptiert. [...] Das hätte ein geistig gesunder, selbstbewusster, normaler Mensch getan, jedenfalls nach der brutal schlechten Meinung des Gerichts vom menschlichen Wesen. Denn andere - viele andere - müssen dasselbe Material gesehen haben, das Manning geleakt hat."

TAZ, 22.08.2013

Auf der Medienseite informiert Jürn Kruse über eine nicht unpikante Personalie: Nikolaus Blome aus dem Hauptstadtbüro der Bild-Zeitung wird stellvertretender Chefredakteur des Spiegel. Der kommende Spiegel-Chefredakteur Wolfgang Büchner nehme offensichtlich sehenden Auges "Populismus und Überzeichnung bis zur Unkenntlichkeit" in Kauf, um die Krise des Magazins zu überwinden, schreibt er außerdem in seinem Kommentar.

Im Kulturteil unterhält sich Bert Rebhandl mit dem texanischen Independent-Filmemacher David Zellner über dessen Film "Kid-Thing", der von einer vernachlässigten Zehnjährigen handelt. Rolf Lautenschläger berichtet über ein Umdenken im Berliner Masterplan, wonach jetzt ein Neubau am Berliner Kulturforum im Gespräch ist, der Platz für die Sammlungen des 20. Jahrhunderts bieten soll. Seine Übersetzerin Kristen Riesselmann würdigt im Nachruf den amerikanischen Kultautor Elmore Leonard ("Schnappt Shorty!", "Jackie Brown").

Besprochen werden eine Retrospektive anlässlich des 100. Geburtstags von Meret Oppenheim in Berliner Martin-Gropius-Bau, der Dokumentarfilm "Apples Stories" von Rasmus Gerlach über die ausbeuterischen Arbeitsbedingungen bei der iPhone-Produktion in China, die DVD des handgezeichneten, in Teilen digital animierten Films "Ame & Yuki - Die Wolfskinder" von Mamoru Hosoda und Bücher, darunter Clemens Meyers neuer Roman "Im Stein" über die Sexindustrie im Osten (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und Tom.

Tagesspiegel, 22.08.2013

Der designierte Spiegel-Chefredakteur Wolfgang Büchner macht Bild-Mann Nikolaus Blome zum neuen Vize-Chef beim Nachrichtenmagazin. Der Tagesspiegel meldete es bereits am 9. April - als Satire: "Bei einer ersten Besprechung soll Blome eine inhaltliche Neuausrichtung bekannt gegeben haben. So wolle das Nachrichtenmagazin demnächst 'die Rubrik Hohlspiegel stärken, sie auf drei Seiten erweitern und dort auch eigene Inhalte platzieren'."

NZZ, 22.08.2013

In der aktuellen russischen Politik zeigt sich, dass die Leute, die das Land regieren, noch im Sowjetsystem ausgebildet wurden, meint die russische Schriftstellerin Elena Chizhova: "Das KGB, ihre Alma Mater, hat ihnen effizientes Handeln beigebracht. Schritt für Schritt ist es ihnen gelungen, vieles von dem, was die Geschichte, so schien es, für immer verworfen hatte, zu restituieren: Zensur im Fernsehen, unehrliche Wahlen, die absolute Vorherrschaft einer einzigen politischen Partei."

Weitere Artikel: Annegret Mathari beschreibt die Entwicklung der Medina von Tunis als vorbildlich für den Umgang mit arabischem Kulturerbe. Angesichts von Gore Verbinskis Film "Lone Ranger" denkt Björn Hayer über die Gender-Codes des Western nach.

Besprochen werden Sandra Nettelbecks Altersfilmdrama "Mr. Morgan's Last Love" (in dem Susanne Ostwald einen "Michael Caine in Bestform" erlebt) und Bücher, darunter Susanne Schandas Studie "Literatur der Rebellion" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Perlentaucher, 22.08.2013

In unserer Kinokolumne nimmt sich Lukas Foerster Michael Bays selbstironischen Blockbuster "Pain and Gain" vor. Dass dieser mit 25 Millionen Dollar für Michael-Bay-Verhältnisse ein Low Budget-Film ist, heißt nicht, dass er mit den anderen Filmen des Regisseurs nichts zu tun hätte, meint Foerster: "Jene Mischung aus Zynismus und Größenwahnsinn, mit der im Box-Office-Alltag megalomanisch büdgetierte Filme wie 'Transformers 3' oder 'Bad Boys 2' am Markt platziert werden, wird in 'Pain and Gain' thematisch."

Außerdem schreibt Elena Meilicke über Keith Millers "Welcome to Pine Hill".

Welt, 22.08.2013

Was in Ägypten geschehen ist, ist schlimmer als eine Herrschaft der Muslimbrüder, meint Ian Buruma in einem aus Project Syndicate übernommenen Artikel: "Es besteht kein Zweifel, dass Mursis Regierung unerfahren und inkompetent war und wenig Interesse zeigte, anderen Ansichten als jenen ihrer eigenen Anhänger zuzuhören. Aber weder sind Mursis Leute vom Ausland unterstützte Terroristen, noch war Mursi eine ägyptische Version des iranischen Ajatollahs Khomeini."

Außerdem begrüßt Torsten Krauel die 35 Jahre Gefängnis für den Whistleblower Bradley Manning, der unter anderem auf Massaker amerikanischer Soldaten im Irak aufmerksam gemacht hatte.

Im Feuilleton beschreibt Tim Ackermann die gestern vorgestellten Pläne für die Berliner Museumslandschaft - die gefürchtete "Museumsrochade" findet nicht statt, die alten Meister bleiben in der Gemäldegalerie, und für die Kunst des 20. Jahrhunderts wird nicht an der Museumsinsel neu gebaut, sondern bei der Neuen Nationalgalerie - was erheblich billiger sein soll. Ackermann und Cornelius Tittel in der Leitglosse begrüßen die Lösung als rational und pragmatisch. Außerdem begutachtet Matthias Kamann jüngst aufgefundene Notizen des jungen Luther.

Besprochen wird der Actionfilm "Pain & Gain".

FAZ, 22.08.2013

Guardian-Chefredakteur Alan Rusbridger erklärt im Gespräch mit Gina Thomas auf der Medienseite, dass sich sein Blatt nach den Gängeleien durch den britischen Geheimdienst nicht unterkriegen lässt und stellt dabei dem eigenen Land en passant ein Armutszeugnis in Sachen Pressefreiheit aus: "Wir berichten einfach weiter. ... Der amerikanische Justizminister hat gesagt, er werde nicht gegen Journalisten vorgehen, die Journalismus betrieben. Ich will nicht selbstgefällig sein, aber es beruhigt mich mehr, aus Amerika zu berichten, als aus dem Vereinigten Königreich."

Im Feuilleton sieht Andreas Kilb die Stiftung Preußischer Kulturbesitz mit der Ankündigung eines Neubaus neben der Neuen Nationalgalerie als die eigentliche Verliererin aus dem Berliner Museumsstreit hervorgehen und freut sich über eine "Rückkehr zu alten Ideen". Jordan Meijas hat sich den ersten Sendetag von Al Jazeera America (Website) angesehen, mit dem der arabische Muttersender den amerikanischen Nachrichtensendern Konkurrenz machen will. Morten Freidel berichtet von seinem zunehmenden Grausen vor Facebook und der dort grassierenden Manie, sich digital möglichst herauszuputzen: "Die Kontrolle droht uns mit dem verführerischen Lächeln des digitalen Dorian Gray zu entgleiten." (Vielleicht sollte er eine Grungephase einläuten?) Bastian Strauch berichtet aus Sri Lanka über die Lage der von Konzernen ausgebeuteten Teepflücker. Eleonore Büning hört in Salzburg "streitbare Kirchenmusik".

Besprochen werden eine Ausstellung über die Ursprünge des deutschen Zeichentrickfilms in Dresden und Bücher, darunter Clemens Meyers Roman "Im Stein" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

SZ, 22.08.2013

Der Berliner Museumsstreit des letzten Sommers ist mit der nun vorgelegten Machbarkeitsstudie (mehr) vom Tisch, als Lösung wird nun ein Neubau nahe der Neuen Nationalgalerie angestrebt. Per se kann Stephan Speicher mit diesem Kompromiss gut leben, doch wittert er eine architektonische Herausforderung, da der Neubau in die Höhe muss, wo Mies van der Rohes Nationalgalerie auf Distanz und Offenheit angelegt ist: "Sie ist Berlins wichtigstes, schönstes Gebäude der Nachkriegszeit, sie erreicht, wie Neumeyer schreibt, 'durch das Wenige und Große klassische Schönheit und Eleganz'. Ihr nun so nahe zu rücken wie geplant, muss nicht ins Unglück führen. Aber es bedeutet eine sehr schwierige Bauaufgabe."

Außerdem: Volker Breidecker erinnert an die heute vor 69 Jahren von den Nazis zerstörte Schwebefähre Marseilles. Fritz Göttler resümiert das Filmfestival von Locarno, dessen ungebrochene Offenheit er sehr bewundert. Außerdem verabschiedet er sich vom gerade verstorbenen Krimiautor Elmore Leonard.

Besprochen werden die Porträtausstellung "Vier Augen" in der Kunsthalle Karlsruhe (Bild: Wladimir Lukianowitsch von Zabotin, Mädchen im Spiegel, um 1922/27), Michael Bays Gaunerkomödie "Pain & Gain", Sandra Nettelbecks neuer Film "Mr. Morgan's Last Love", in dem Michael Caine die Hauptrolle spielt, das Debütalbum von King Krule, das auf der Website des Musikers im Loop duchläuft, und Friedrich von Borries' kapitalismuskritischer, von Occupy inspirierter Roman "RLF", den Thomas Steinfeld für ziemlich ungefährlich hält (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Zeit, 22.08.2013

Das harte Vorgehen des britischen Geheimdienstes gegen den Guardian und den Ehemann des Reporters Glenn Greenwald beweist, dass Edward Snowden zurecht davor warnte, wie schnell die westlichen Länder ihre Grundrechte verraten, meint Khué Pham in ihrem Aufmacher zum NSA-Skandal: "Damit bestätigen sie, was er ihnen von Anfang an vorgeworfen hat: dass sie Bürgerrechte aushöhlen, wenn sie sich angegriffen fühlen... Dass sie jeden überwachen, schikanieren und verfolgen, der sich mit ihnen und ihrem Überwachungsapparat anlegt. Snowdens Vorwurf ist zu ihrem Verhalten geworden, seine Verschwörungstheorie zu unser aller Wahrheit."

Das Feuilleton wird von Begegnungen mit bedeutenden Künstlerpersönlichkeiten dominiert: Adam Soboczynski trifft Daniel Kehlmann, dessen neuer Roman "F" nächste Woche erscheint, in Paris und Berlin. Volker Hagedorn besucht Pierre Boulez aus Anlass des zehnjärigen Jubiläums der von ihm gegründeten Lucerne Festival Academy. Und Moritz von Uslar stattet Helge Schneider, der zur Zeit die Albumcharts anführt und im Oktober mit seinem neuen Film "00 Schneider - Im Wendekreis der Eidechse" ins Kino kommt, einen Hausbesuch ab: "Lustig, man kann sich mit diesem Musiker sehr gut in einem Raum aufhalten, ohne sich gewichtige Dinge zu sagen."

Schneiders letzter Film "Jazzclub" enthält einen Videoessay über die Zukunft der Zeitungen, den wir immer wieder gern betrachten:



Weiteres: Angesichts eines von der taz-Chefredaktion verhinderten Artikels über pädophile Elemente bei den frühen Grünen (siehe unsere Feuilletonrundschau vom Dienstag) empfiehlt Iris Radisch der Partei "peinlichste öffentliche Vergangenheitsbewältigung. Sonst sind sie die, vor denen sie uns immer schon gewarnt haben". Die Berliner Museumsrochade ist gestoppt, meldet Hanno Rauterberg erleichtert, ohne allerdings vom neuen Plan für ein Museum des 20. Jahrhunderts wirklich überzeugt zu sein. Thomas Assheuer warnt davor, wegen des eher leidenschaftslosen Wahlkampfs gleich das "Zeitalter der Postpolitik" auszurufen. Peter Kümmel schreibt den Nachruf auf Fritz Rau.

Besprochen werden das Album "Loud City Song" der amerikanischen Sängerin Julia Holter (das Frank Sawatzki mit der "Sexiness der Intertextualität" betört), David Wnendts Bestseller-Verfilmung des "Feuchtgebiete" (gegenüber der Romanvorlage "ein Meisterwerk der Verharmlosung", wie Ursula März enttäuscht feststellt) und Bücher, darunter Helene Hegemanns neuer Roman "Jage zwei Tiger" (mehr in unserer Bücherschau heute um 14 Uhr).