Vorgeblättert

Detlev Claussen: Theodor W. Adorno, Teil 1

04.08.2003.
(Wie zu lesen sei:
Ziel dieses Buches ist es, Adornos Texte zum Sprechen zu bringen und sie hinter der ins Unendliche angewachsenen Sekundärliteratur wieder im Original hervortreten zu lassen. Alle wörtlichen Adornozitate treten im Text kursiv auf. Die Nachweise aller im Text zitierten Quellen finden sich für den, der kritisch nachprüfen oder weiterlesen möchte, am Ende des Buches unter "Wegweiser zu den Quellen".)

STATT EINER OUVERTÜRE:
KEINE NACHKOMMEN

Die Todesnachricht kam plötzlich und völlig überraschend. Gerade hatte man in Frankfurt nach einem turbulenten Sommersemester aufzuatmen begonnen. Mitte Juli 1969 hatte Adorno mit seiner Frau Gretel die übliche schwüle Frankfurter Sommerhitze verlassen und sich wie in den letzten beiden Jahrzehnten nach der Sitte alter Gebirgskühe, die ihren Wechsel haben, in das Schweizer Hochgebirge zurückgezogen. Auch von dort aus ließen sich die notwendigen Dienstgeschäfte und Korrespondenzen erledigen. Noch am Mittwoch, dem 6. August, sollte ein Brief an Herbert Marcuse im Sekretariat des Frankfurter Instituts für Sozialforschung fertiggestellt werden. Man wartete auf Korrekturen und das Plazet aus Zermatt. Bei einer telefonischen Rückfrage im Hotel Bristol wurde seiner Frankfurter Sekretärin Hertha Georg mitgeteilt, der "Herr Professor" sei "ins Spital" gegangen. Es klang für sie, als ob Adorno nur einen Ausflug auf den Zauberberg gemacht habe. Doch gegen Mittag sagte Gretel Adorno in Frankfurt Bescheid. Schon am Samstag erschien eine "allein von ihr unterzeichnete Todesanzeige in der "Frankfurter Rundschau", in der es lapidar ohne Ortsangabe hieß: "Theodor W. Adorno, geboren am 11. September 1903, ist am 6. August 1969 sanft entschlafen."
Adornos Tod in der Schweiz traf die deutsche Öffentlichkeit unvorbereitet. Die vorgefertigten Nekrologe in den Schubladen der Redaktionen waren noch nicht auf den neuesten Stand gebracht. Die meisten Personen, die man für einen Nachruf hätte ansprechen können, befanden sich im Urlaub. Anders als sonst drängelte sich niemand, an die Öffentlichkeit zu treten. Der heftige politische Konflikt, den Adorno mit seinen Studenten im Jahre 1969 durchlitten hatte, schien unübersichtlich und ungeklärt. Eine nicht besonders gut informierte Öffentlichkeit erwartete Unruhen bei der Beerdigung. Mitten in der traditionellen Urlaubszeit fand sich eine fast zweitausendköpfige Trauergemeinde auf dem Frankfurter Hauptfriedhof ein. Man sah berühmte Gesichter - nicht allein Max Horkheimer, der Namensgeber der Kritischen Theorie, die Adorno weltberühmt gemacht hatte, begleitete Witwe Gretel hinter dem Sarg. Am Grab fanden sich alte Bekannte wie der greise, aber noch sehr wache Ernst Bloch und auch Alfred Sohn-Rethel ein, mit denen Adorno schon in den zwanziger Jahren Bekanntschaften unterhalten hatte. Auch die radikalen Studenten, die manche Stimmen für Adornos frühen Tod verantwortlich machen wollten, trauerten still um ihren Lehrer. Herbert Marcuse war der erste, der aus der Ferne für den Verlust Adornos die rechten Worte fand, nämlich - "daß es keinen gibt, der Adorno vertreten und der für ihn sprechen kann".
Adorno hinterließ eine Leere. Etwas war unwiderruflich zu Ende gegangen. Aber es fehlten die Worte, dieses Gefühl zu fassen. Verursachte die Nähe zu diesem verstorbenen Genie anhaltende Sprachlosigkeit? Adorno selbst hatte die Stichworte der konventionellen Biographik in seinen Schriften aufgespießt. Die professionelle Totengräberei des von ihm kritisierten Kulturbetriebs hatte er so prägnant benannt, dass es kaum eine Lücke gab, in der sich frei formulieren ließ. Sein älterer Freund Horkheimer, der ihn überlebt hatte, scheute in diesem Augenblick des Verlustes nicht davor zurück, für Adorno "den Begriff des Genies" als angemessen zu betrachten. Wenn man weiß, wie nahe die beiden im amerikanischen Exil zusammen lebten, dachten und schrieben, dann scheint es völlig unmöglich, dass Horkheimer Adornos Vorbehalte gegen den überlieferten Geniebegriff unbekannt geblieben sind: Der Geniebegriff wäre, wenn irgend etwas an ihm zu halten ist, von jener plumpen Gleichsetzung mit dem kreativen Subjekt loszureißen, die aus eitel Überschwang das Kunstwerk in das Dokument seines Urhebers verzaubert und damit verkleinert. Eine Geschichte von Leben und Werk Adornos, die seine schneidende Kritik an der Geniebiographik achtlos beiseite lässt, kann guten Gewissens nicht geschrieben werden. Eine Methode, Adornos Arbeit zu verkleinern, ist nach seinem Tod erst wirklich populär geworden - nämlich, ihn als Künstler zu verehren, um ihn gleichzeitig als Wissenschaftler unmöglich zu machen. Zu Lebzeiten Adornos sind seine Gegner meist umgekehrt verfahren: Adorno wurde oft als gescheiterter Künstler dargestellt, dem nur noch das Grau der Theorie geblieben sei.
Wer sich Adornos letzte große Arbeit "Ästhetische Theorie" - das Werk, aus dem das Zitat stammt - vornimmt, muss nicht lange blättern, um in diesem Zusammenhang auf Goethe zu stoßen. Mit dem Namen Goethes verbindet sich nicht nur aufs Engste der bürgerliche Geniebegriff, sondern auch das Modell geglückten Lebens, das sich biographisch festhalten lässt. Für die Generation, die wie Adorno im langen bürgerlichen Jahrhundert von 1815 bis 1914 geboren worden war, steht Goethe am Anfang dieses bürgerlichen Säkulums, dem man selbst als ein 1903 zur Welt Gekommener sich noch zugehörig fühlen konnte. Goethes Werk allerdings war gegen Ende dieses Zeitalters längst hinter dem Goethekult verschwunden, der das künstlerische Genie anbetete. Das behagt dem bürgerlichen Vulgärbewußtsein, ebenso wegen des Arbeitsethos in der Glorifizierung reinen Schöpfertums des Menschen ohne Rücksicht auf den Zweck, wie weil dem Betrachter die Bemühung um die Sache abgenommen wird: man speist ihn mit der Persönlichkeit, am Ende der Kitschbiographik der Künstler ab. Die Produzenten bedeutender Kunstwerke sind keine Halbgötter, sondern fehlbare, oft neurotische und beschädigte Menschen. Adornos heftige Kritik der bürgerlichen Welt und ihrer Kunstreligion endet nicht mit einer mürrischen Abkehr von einer überholten Lebensform. Das Wahrheitsmoment am Geniebegriff ist in der Sache zu "suchen, dem Offenen, nicht in Wiederholung Gefangenen. An einem solchen Geniebegriff lässt sich nicht nur ein Goethe messen, sondern auch Horkheimers Bezeichnung seines verstorbenen jüngeren Freundes als eines Genies in einer "Zeit des Übergangs" erscheint als eine durchaus angemessene Charakterisierung.
Goethe kehrt als Inbegriff gelungener Individualität auch in den Schriften Horkheimers immer wieder. 1961 schrieb er in einem Nachwort zu Porträts deutsch-jüdischer Geistesgeschichte: "Die Herkunft also leuchtet durch die Art der Gedanken und Gefühle der entfalteten Person hindurch - selbst Goethe war als Frankfurter erkennbar." Goetheverehrung, die noch mit Goethekennerschaft einherging, spielte im deutschen Bildungsbürgertum durch das gesamte 19. Jahrhundert eine wichtige Rolle. Doch die assimilationsorientierten Juden in Deutschland, die in dieser Epoche ihren sozialen Aufstieg ins Bürgertum erlebten, sahen in Goethes Leben ein wirklich gewordenes Versprechen menschlichen Zusammenlebens. Der junge Felix Mendelssohn, von Goethe geliebt, vertonte Goethes Verse. Das Deutsche im Übergang zur Menschheit - diese Utopie wurde noch zu Goethes Lebzeiten von Rahel Varnhagen und von Felix' Tante Dorothea Veit, spätere Schlegel, getragen, die neben Adornos späterem Geburtshaus an der "Schönen Aussicht" über ein Jahrzehnt gelebt hat. Auch der von Horkheimer geschätzte, von Adorno mit Distanz behandelte Schopenhauer, der mit Goethe noch einigen Kontakt gepflegt hatte, bewohnte in der Nachbarschaft der "Schönen Aussicht" ein Haus in großbürgerlicher Atmosphäre. Das Bild Goethes muss in Adornos Frankfurter Jugend ständig präsent gewesen sein.
Zum Kanon bürgerlichen Wissens gehörte die Kenntnis von "Dichtung und Wahrheit" - ein Titel, der bis in den Alltagssprachgebrauch hinein den fragwürdigen Umgang des Autobiographen mit der Wahrheit bezeichnet. Aus dem bürgerlichen Vulgärbewusstsein eines durch Eigeninteresse verzerrten Umgangs mit der Wahrheit haben viele Goethebiographen für ihren Umgang mit dem Leben des Genies legitimatorischen Stoff gezogen. Goethe selbst kam schon im Vorwort auf die Unmöglichkeit der Biographie zu sprechen: "Denn dieses scheint die Hauptaufgabe der Biographie zu sein, den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen und zu zeigen, inwiefern ihm das Ganze widerstrebt, inwiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet und wie er sie, wenn er Künstler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen abgespiegelt. Hierzu wird aber ein kaum Erreichbares gefordert, daß nämlich das Individuum sich und sein Jahrhundert kenne, sich, inwiefern es unter allen Umständen dasselbe geblieben, das Jahrhundert, als welches sowohl den Willigen als den Unwilligen mit sich fortreißt, bestimmt und bildet, dergestalt, daß man wohl sagen kann, ein jeder, nur zehn Jahre früher oder später geboren, dürfte, was seine eigene Bildung und Wirkung nach außen betrifft, ein ganz anderer geworden sein."
Sich und sein Jahrhundert kennen - dieses kaum erreichbare Ideal des bürgerlichen Individuums wurde von Erfolgsschriftstellern der Weimarer Republik wie Emil Ludwig und Stefan Zweig nicht als Hindernis gesehen, groß angelegte Biographien zu schreiben. Siegfried Kracauer, Adornos Mentor in den frühen Frankfurter Jahren, bezeichnete 1930 in der "Frankfurter Zeitung" die "Biographie als neubürgerliche Kunstform", die er von der alten Biographie aus der "Zeit vor dem Krieg" als "das seltene Werk der Gelehrsamkeit" unterschied. Ein Gespür, man befinde sich nicht mehr in einer Epoche mit der alten bürgerlichen Gesellschaft, war schon vorhanden. Kritik eines modischen Biographismus gehörte in dieser Generation kritischer Intellektueller zum Standard. Die Biographie wird von Kracauer schon gegen Ende der Weimarer Republik im Bewusstsein der Krise als ein Fluchtphänomen gedeutet, über dem der "Glanz des Abschieds" ruht. Kracauer selbst hat sich auf der Flucht, in Zeiten äußerster Not, an einer von Adorno nicht besonders geschätzten Biographie versucht: "Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit". Am 1. Oktober 1950 berichtet Kracauer an Adorno, er habe Kisten aus der Pariser Exilzeit mit Manuskripten und alten Korrespondenzen entdeckt - auch mit Texten Adornos. "Aber die Hauptsache ist, dieses Wühlen in der Vergangenheit, mit vieler Korrespondenz dabei, erregte in mir eine unbändige Lust meine Memoiren zu schreiben - ich meine, in wirklich großem Stil. Doch das würde ein Luxus sein, den ich mir vielleicht nie werde leisten können." Mit dieser Ahnung behielt Kracauer leider recht. Eine Arbeit, die Leben und Werk Adornos in seinem Jahrhundert zeigen will, kann sich auf ein solches Dokument aus Kracauers Feder nicht stützen. Leider darf umgekehrt aus Adornos signifikanten Briefen an Kracauer immer noch nicht wörtlich zitiert werden.
Autoren wie Kracauer und Adorno haben früh bemerkt, dass die im 20. Jahrhundert aufkommende Psychoanalyse den Biographismus beflügelt und zugleich in Frage stellt. Sigmund Freud stand seinem Bewunderer Stefan Zweig mit Misstrauen gegenüber; dem Namensvetter Arnold Zweig riet er sogar dringlich ab, Nietzsches und nicht zuletzt Freuds Biograph zu werden. "Wer Biograph wird, verpflichtet sich zur Lüge, zur Verheimlichung, Heuchelei, Schönfärberei und selbst zur Verhehlung seines Unverständnisses, denn die biographische Wahrheit ist nicht zu haben, und wenn man sie hätte, wäre sie nicht zu brauchen", heißt es in einem Brief aus Wien vom 31. Mai 1936. Seiner Schülerin Marie Bonaparte konnte er jedoch nicht eine Vorbemerkung zu ihrer großen Poe-Biographie verwehren: "Solche Untersuchungen sollen nicht das Genie des Dichters erklären, aber sie zeigen, welche Motive es geweckt haben und welcher Stoff ihm vom Schicksal angetragen wurde." Vielleicht die gelungenste psychoanalytische Künstlerbiographie stammt aus der Feder des 1938 aus Wien in die USA emigrierten Kurt R. Eissler, der über Goethe 1963 eine zweibändige Studie veröffentlichte. Auch sie bestätigt die "liebende Verehrung für Goethe ... im jüdischen Assimilationsmilieu Wiens", das Adorno intim vertraut gewesen ist. Das gut dokumentierte Leben Goethes scheint das ideale Material einer Künstlerbiographie abzugeben, die nicht nur einer literaturwissenschaftlichen Elite bekannt gewesen ist. Goethe wird in Eisslers einzigartiger Analyse als Inbegriff eines Genies gezeichnet - einer Kategorie von "Menschen mit der Fähigkeit, den menschlichen Kosmos oder einen Teil davon, in einer Weise wiederzuerschaffen, die bedeutsam war und die sich nicht mit irgendeiner früheren Wieder-Erschaffung vergleichen läßt". Das trifft wirklich auf Adorno zu. Deswegen will diese Arbeit seine Texte zum Sprechen bringen, nicht Adornos Werk aus biographischen Details erklären.

Teil 2