Vorgeblättert

Detlev Claussen: Theodor W. Adorno, Teil 2

04.08.2003.
Scharfe Kritik an der biographischen Massenproduktion blieb unter den Frankfurter Sozialforschern auch in der amerikanischen Emigration von Interesse, um die im Vergleich zu Europa fortgeschritteneren gesellschaftlichen Verhältnisse zu verstehen. Leo Löwenthal, der neben Adorno einzige gebürtige Frankfurter im Kreis des Instituts für Sozialforschung, erarbeitete Anfang der vierziger Jahre eine Studie "Biographies in Popular Magazines", die Adorno zu einem langen, vom 25. November 1942 datierten Brief an den "Autor animierte: Im Grunde geht es dabei darum, daß der Begriff des Lebens selber als einer aus sich selbst entfaltenden und sinnvollen Einheit gar keine Realität mehr hat, so wenig wie der des Individuums, und daß die ideologische Funktion der Biographien darin besteht, daß an irgendwelchen Modellen den Menschen demonstriert wird, daß es noch so etwas wie ein Leben gebe, mit all den emphatischen Kategorien von Leben, und zwar gerade in empirischen Zusammenhängen, welche die, die kein Leben mehr haben, mühelos für die ihren reklamieren können. Leben selber, in einer sehr abstrakten Gestalt, ist zur Ideologie geworden, und gerade die Abstraktheit, die es von den älteren, gefüllteren Begriffen von Leben unterscheidet, macht es praktikabel (der vitalistische und existenzphilosophische Lebensbegriff sind schon Etappen auf diesem Weg). Von der biographistischen Alltagsproduktion ging ein idiosynkratischer Reiz aus, der Adornos eigene literarische Produktion für autobiographische Momente öffnet. Seine Aphorismensammlung der "Minima Moralia", deren "Anfang er auf 1944 "datiert, heißt im Untertitel programmatisch "Reflexionen aus dem beschädigten Leben".
"Minima Moralia" - ein Text Adornos, der sich wieder und wieder lesen lässt - hält, ebenso wie das berühmteste Buch von Horkheimer und Adorno "Dialektik der Aufklärung", Erfahrung in einem geschichtlichen Moment fest, der alle traditionelle Welterfahrung in Frage stellt. Die Erfahrung, warum es unmöglich wird, Erfahrungen im Goetheschen Sinne von weltgeschichtlichen Ereignissen zu machen, wird in den "Minima Moralia" in Erinnerung an die intellektuellen Anstrengungen von Karl Kraus, den "Untergang der Menschheit" im Ersten Weltkrieg zu begreifen, weit vom Schuß formuliert. Jeder Satz aus diesen Büchern Horkheimers und Adornos erhält seine argumentative Wucht aus dem Bewusstwerden einer weltgeschichtlichen Katastrophe, die nichts unverändert lässt: Verzweiflung hat den Ausdruck des Unwiderruflichen nicht, weil es nicht noch einmal besser werden könnte, sondern weil sie die Vorzeit selber in ihren Schlund hineinzieht. Der furchtbare Tod des Freundes Walter Benjamin auf der Flucht vor den Nationalsozialisten ist in diesen Zeilen präsent. Noch an Kafka, an dem der Goethekenner Benjamin die epochale Differenz wahrnahm, versuchte Adorno gedanklich fortzuführen, was der durch Freitod aus dem Leben geschiedene Freund antizipiert hatte: Wie in Kafkas verkehrten Epen ging da zugrunde, woran Erfahrung ihr Maß hat, das aus sich heraus zu Ende gelebte Leben. Gracchus ist das vollendete Widerspiel der Möglichkeit, die aus der Welt vertrieben ward: alt und lebenssatt zu sterben. Adorno datierte seine Aufzeichnungen zu Kafka auf die Jahre 1942-1953, als ob er seine Zeitgenossenschaft genau dokumentieren wollte. Die Aufsätze, die Adorno in den "Prismen" sammelte und 1955 publizierte, sprechen eine deutliche Sprache, durch die er sich viele Feinde im nachnationalsozialistischen Deutschland machte. Der geschichtliche Zusammenhang, in dem diese Kafkainterpretation zu lesen ist, wird keineswegs verdunkelt: In den Konzentrationslagern des Faschismus wurde die Demarkationslinie zwischen Leben und Tod getilgt. Sie schufen einen Zwischenzustand, lebende Skelette und Verwesende, Opfer, denen der Selbstmord mißrät, das Gelächter Satans über die Abschaffung des Todes.
Adornos berühmtestes Diktum, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, stammt aus diesem Reflexionszusammenhang, der in der letzten großen Veröffentlichung, seinem dicken Kind, der "Negativen Dialektik", unter der Überschrift "Nach Auschwitz" wieder auftaucht. Wenn man sich die Frage stellen muss, ob nach Auschwitz noch sich leben lasse, dann scheint die Frage nach der Geschichte eines individuellen Lebens, nach einer Biographie geradezu obsolet. Die Erfahrung von Erfahrungsverlust gehört zu den ältesten Motiven der Kritischen Theorie, die auch von Außenseitern des Kreises um Max Horkheimer wie Kracauer und Benjamin schon in den zwanziger Jahren geäußert wurde. Adorno hat dieses Motiv zu einer geschichtsphilosophischen Ortsbestimmung der Kritischen Theorie gemacht. Sich und sein Jahrhundert kennen - Goethes Anspruch an eine Biographie gilt für die Möglichkeiten poetischer Prosa ebenso wie für theoretische Reflexion. Ohne Rücksicht auf die Entwertung der Erfahrung lässt sich weder ein individuelles Leben noch die Geschichte des Jahrhunderts erzählen. Wie Kracauer hat auch Benjamin den Ersten Weltkrieg zum Ausgangspunkt einer einschneidenden Generationserfahrung genommen: "Eine Generation, die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war, stand unter freiem Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war, als die Wolken und unter ihnen, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige, gebrechliche menschliche Körper." Adornos Frankfurter Kindheit um 1910 korrespondiert noch mit Benjamins Berliner um 1900.
Als einer der Jüngsten partizipierte Adorno an der Generationserfahrung dieses Übergangs im Krieg, ohne sie als Kriegserfahrung gemacht zu haben. Das aphoristische Schlüsselfragment der "Minima Moralia", das in Kalifornien 1944 geschriebene Stück "Weit vom Schuß", schreibt den Benjaminschen Gedanken von 1928 über den Kursverlust der Erfahrung in und nach Erstem Weltkrieg, Inflation und Weltwirtschaftskrise fort: Der Zweite Krieg aber ist der Erfahrung schon so völlig entzogen wie der Gang einer Maschine den Regungen des Körpers, der erst in Krankheitszuständen jenem sich anähnelt. Sowenig der Krieg Kontinuität, Geschichte, das "epische" Element enthält, sondern gewissermaßen in jeder Phase von vorn anfängt, sowenig wird er ein stetiges und unbewußt aufbewahrtes Erinnerungsbild hinterlassen. Überall, mit jeder Explosion, hat er den Reizschutz durchbrochen, unter dem Erfahrung, die Dauer zwischen heilsamem Vergessen und heilsamem Erinnern sich bildet. Das Leben hat sich in eine zeitlose Folge von Schocks verwandelt, zwischen denen Löcher, paralysierte Zwischenräume klaffen. Nichts aber ist vielleicht verhängnisvoller für die Zukunft, als daß im wörtlichen Sinn bald keiner mehr wird daran denken können, denn jedes Trauma, jeder unbewältigte Schock der Zurückkehrenden ist ein Ferment kommender Destruktion.
Adornos Leben, gespiegelt durch sein Werk und seine freundschaftlichen Beziehungen, lässt sich nicht ohne die Geschichte des Jahrhunderts erzählen. Der Historiker Eric Hobsbawm hat für diese Epoche die einprägsame Formulierung vom short century gefunden, das dem langen bürgerlichen Zeitalter von 1815 bis 1914 kontrastiert. Adornos Kindheit fällt noch in die bis dahin längste erinnerbare europäische Friedensepoche, aber als sein Jahrhundert muss zweifellos die widerspruchsvolle Epoche bezeichnet werden, für die es schwer ist, einen passenden Begriff zu finden. Hobsbawm spricht vom "Age of Extremes": Extreme stechen ins Auge - eine Epoche des Massenelends und des unvorstellbaren Überflusses, eine Zeit totalitärer Diktaturen und permissiver Gesellschaften, eine Periode furchtbarster Kriege und lang anhaltenden Friedens. Der Abschnitt, in den Adornos Tod fiel, wird von Hobsbawm plastisch als das "Golden Age" des Jahrhunderts charakterisiert, in dem lang anhaltendes ökonomisches Wachstum und weltweite Ausbreitung eines konsumistischen Lebensstils zusammenfallen. Die Kritischen Theoretiker haben versucht, in der Gleichzeitigkeit von lebendiger Erfahrung und gesellschaftlicher Veränderung die Einheit jener Epoche zu erfassen. Dieses Jahrhundert hat nach der Diagnose der Kritischen Theorie irreversibel das Individuum beschädigt. In dem vorliegenden Buch wird versucht, dieser Beschränkung individueller Erfahrung Rechnung zu tragen, indem sie biographische Momente aus den Zeugnissen der Zeitgenossenschaft hervortreten lässt. Im Rückblick hat man es mit der letzten briefschreibenden Generation zu tun, die lesbare Dokumente zwischenmenschlicher Beziehungen hinterlässt. Adornos Leben und Werk lassen sich auch durch die Geschichte seiner Freundschaften erkennen.
Die Kritischen Theoretiker, zu denen Adorno sich zählte, standen autobiographischen Äußerungen mit äußerstem Mißtrauen gegenüber. In ihren Schriften findet man sie nicht beim ersten Hinsehen. Doch die bürgerlichen Traditionen öffentlicher Würdigung von befreundeten Individuen, zu denen Geburtstagsgratulationen, Rezensionen und Nachrufe produziert werden, lassen sich auch als Quellen autobiographischer Zeugnisse erschließen. Aus einem Nachruf auf Kracauer von 1967 erfährt der Nachgeborene etwas über Adornos Jugend, aus einer Gratulation zu Horkheimers 70. wird Adornos Studentenzeit sichtbar. Die Differenz zu dem älteren Freund Max Horkheimer, dem Begründer der Kritischen Theorie, formuliert Adorno in einem Offenen Brief, der 1965 im damaligen Wochenblatt des westdeutschen Bildungsbürgertums, der "Zeit", erschien, kryptisch: Aber unsere Erfahrungen verliefen nicht parallel. Primär war bei Dir die Empörung übers Unrecht. Ihre Verwandlung in Erkenntnis des antagonistischen Unwesens, zumal die Reflexion auf eine Praxis, die ihrem eigenen nachdrücklichen Begriff nach eins sein soll mit Theorie, nötigte Dich zur Philosophie als der unnachgiebigen Absage an Ideologie. Ich aber war, nach Herkunft und früher Entwicklung, Künstler, Musiker, doch beseelt von einem Drang zur Rechenschaft über die Kunst und ihre Möglichkeit heute, in dem auch Objektives sich anmelden wollte, die Ahnung von der Unzulänglichkeit naiv ästhetischen Verhaltens angesichts der gesellschaftlichen Tendenz. Auch öffentliche Dokumente mit autobiographischen Aspekten muss man entschlüsseln, sie sprechen nicht von allein. Die Sklavensprache, die von den Exilanten bevorzugt wurde, um im fremden Land, unbemerkt von der Fremdenpolizei, verschlüsselt und in Andeutungen Dinge zu sagen, die man früher offen ausgesprochen hat, ist von Adorno nie mehr ganz abgelegt worden.
In der Emigration musste das Briefeschreiben die Diskussion von Angesicht zu Angesicht ersetzen. Die Nachwelt erhält dadurch Einblicke in die Werkstatt der Gedanken und die Gefühlswelt der Briefschreiber, die ohne die Briefe unwiederbringlich verloren gegangen wären. Auch diese Dokumente muss man mit Feingefühl behandeln: Viele Briefe sind verloren gegangen, manches ist immer noch nicht zur Veröffentlichung freigegeben. Doch selbst zwischen engsten Freunden sind auch diese Mitteilungen, die sich erhalten haben, von Diplomatie nicht frei. Die Gemeinschaft bewusster Freunde, ein überindividuelles "wir", gehört seit der Aufklärung zur Geschichte der utopischen Vorstellungen. Noch in Goethes Wilhelm Meister wird das Bild der richtigen Gesellschaft als eine fraternale Emigrantengemeinde, die zur Auswanderung nach Amerika sich vorbereitet, charakterisiert. In dem entscheidenden Brief vom 27. November 1937, in dem Adorno aus England Benjamin in Paris mitteilt, er werde Europa endgültig verlassen, um mit Max Horkheimer in New York zu arbeiten, findet sich eine merkwürdig apodiktische Feststellung: Die Tatsache, daß wir keine Nachkommen haben, fügt sich der Katastrophensituation stimmig ein. Die goethesche Künstler- und Auswandererutopie, die am Beginn der bürgerlichen Epoche entwickelt wurde, verwandelt sich unter den Schlägen des wirklichen Geschichtsverlaufs in ein Bild der Katastrophe, in die Vorahnung der Vernichtung. In Adornos Aufzeichnungen zu Kafka, die mit Benjamins großem Essay über Kafka korrespondieren, erscheint die merkwürdige Formulierung wieder - gesellschaftsgeschichtlich präzisiert: Das Grauen jedoch ist, daß der Bürger keinen Nachfolger fand ...

Mit freundlicher Genehmigung des
S. Fischer Verlages.

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