Vorgeblättert

Gerd Koenen: Vesper, Ensslin, Baader, Teil 1

22.09.2003.
1 Geschichte einer Reise

In den letzten Wochen seines Lebens, als die Medikamente einen stocksteifen und hellsichtigen Greis aus ihm machten, sprach er mit den Lebenden und mit den Toten, und mit allen in einer anderen Sprache. Er war Odysseus und Hölderlin, Marx und Mao, Jesus und Zarathustra, Reich und Einstein. Nach Milliarden Jahren organischen Lebens und dem Planeten war jetzt in ihm das Sein zu Bewusstsein gekommen. In einer jähen Erleuchtung seines armen Kopfes hatte er die Weltformel erblickt, die Formel des Lebens, und in einer botschaft der weltbefreiungsfront an die völker der welt hatte er sie verkündet. Aber die Presseagenturen, die er anrief, wollten die Botschaft nicht verbreiten.
Schon in München hatten die Freunde ihn für übergeschnappt gehalten, als er mit erhobenen Händen die blauen Orgonenströme aus dem durchstrahlten Azur in sich aufnahm, um die schlechten Einflüsse zu bekämpfen, die ihn, Gudruns alten Mo, immer öfter in einen MODJU verwandelten, ein Monster. Als er Ende Februar 1971 abgeholt und eingeliefert wurde, hatte er gerade einer Genossin ein Bügeleisen auf den Kopf geschlagen, weil sie Teufelshufe trug, und die Wohnungseinrichtung zertrümmert. Auf dem schneebedeckten Hof war er nackt auf den gesplitterten Brettern herumgesprungen, hatte in die erleuchteten Fenster mit den erschrockenen Kindergesichtern Steine geworfen und geschrien, dass er Jesus sei, der Sohn Gottes. Nachher, als Klaus Dörner und Elken Lindquist ihn aus der Hölle von Haar heraus und in die stille, geschlossene Abteilung nach Eppendorf geholt hatten, erfüllte ihn diese Erinnerung mit brennender Scham.
Aber, wie Wilhelm Reich dem skeptischen Kurt Eissler schon 1952 erklärt hatte, bevor er selbst abgeholt und ins Gefängnis geworfen wurde: Wer von der Peripherie durch die "mittlere Schicht" seines Charakterpanzers hindurch stoßen will, um "zum Zentrum zu gelangen, wo das Natürliche, das Normale, das Gesunde liegt", der "muß durch die Hölle gehen". In dieser mittleren Schicht herrschen "Verwirrung, schizophrener Zusammenbruch, melancholische Depression" und schlimmer: "Schrecken, entsetzlicher Schrecken, nicht nur das - auch Mord".(2)
Somit war seine Psychose praktisch die Antwort auf den Bewußtwerdungsprozeß. Sie war der Preis, den jeder zahlen musste, der es wagte, zum Kern der Dinge und des eigenen Ichs vorzustoßen, um endlich den gattungsgeschichtlichen Sprung zu vollbringen und ein "neuer Mensch" zu werden. In seinem "philosophischen tagebuch (1)" notierte Vesper: wenn das gehirn aber seine historische bestimmung erreicht, fließen die ströme auf einem zuckermolekül (vergleichbar den nachrichtensatelliten ...) und verlassen die hirnrinde, um in der ganzen, bisher ungenutzten masse der zelle einzuziehen, um sie ewig zu bewohnen.(3)
In dieser Zeit, Anfang März 1971, schrieb er aus der Eppendorfer Klinik an den März-Verleger Jörg Schröder, er brauche noch Kohle (wenigstens 2000,-), um das Buch, das politisch immer wichtiger werde, fertig zu machen. Im Ernst: durch diese komische "Krankheit", die in Wirklichkeit eine Gesundheit ist, habe ich als Schriftsteller einfach ganz neue Qualitäten erhalten, d.h.: die große Übersicht. Ich kann jetzt von einer durchgängig richtigen, materialistischen Gesamttheorie her schreiben, die ich natürlich nicht als Gerippe, sondern mit dem Fleisch der eigenen und allgemeinen Geschichte servieren will, so wie man in Deutschland seit urlanger Zeit keine Literatur gemacht hat.
Der endgültige Titel sollte jetzt LOGBUCH lauten, nicht HASS oder TRIP, wie früher angekündigt. Und wenn Schröder - dessen Privatspekulation auf meinen Namen er übrigens völlig durchschaue - keinen Scheiß mache und mitziehe, werde es der Messehammer schlechthin.(4)


"Nachlass einer Generation"

Tatsächlich gilt Bernward Vespers posthumes Fragment DIE REISE mittlerweile als "das schlechthin gültige Buch über Bewusstsein und Entwicklung der deutschen Nachkriegsjugend" ("Der Spiegel"), in dem sich "das kollektive Scheitern jener Generation wider(spiegelt), die Mitte der sechziger Jahre aufbrach, die versteinerte Gesellschaft der westlichen Industriestaaten zu verändern" ("Frankfurter Rundschau"); "ein fürchterliches Buch, und doch das wichtigste, das in diesem (selbst)mörderischen deutschen Jahr (1977) erschienen ist" ("Die Zeit"). Ein Schweizer Rezensent nannte es gar den "Nachlass einer Generation"(5), unwiderlegbar beglaubigt durch den Selbstmord des Verfassers im Mai 1971. Seit mehr als einem Vierteljahrhundert ist es in immer neuen Auflagen und Ausgaben erschienen; bis heute zählt es zum Lektürekanon germanistischer Seminare und hat inzwischen seinen festen Platz in der bundesdeutschen Kultur- und Literaturgeschichte gefunden.
Sieht man sich das originale Konvolut der tagebuchartigen datierten, eng und randlos beschriebenen, in manischen Schüben zu Papier gebrachten Manuskriptseiten und die begleitenden Mappen voller fliegender Blätter, Karteikarten, Notizhefte, Ausrisse, Zeichnungen und Fotos an, denkt man allerdings eher an eine Flaschenpost. Es ist der lange, täglich fortgesetzte Brief eines Ertrinkenden, Abgleitenden, aus der Zeit Gefallenen, gerichtet an alle und an niemanden.
Dass dieses Fragment überhaupt noch in die Kunstform eines "Romanessays" gebracht und gedruckt worden ist, dass es in der Literaturgesichte der Bundesrepublik überhaupt einen Autor namens Bernward Vesper gibt und damit (neben den Hinterlassenschaften bei Freunden und Verwandten) auch einen zugänglichen Nachlass im Deutschen Literaturarchiv in Marbach, ist das Ergebnis einer fast zufällig wirkenden Verkettung von Umständen. In seinem "Siegfried"-Monolog aus dem Jahr 1972, kurz nach dem Zusammenbruch des März-Verlags, hatte Jörg Schröder noch gesagt: "In den Zeitungen hat man von diesem Selbstmord nichts gelesen ... Das Rohmanuskript des ungefähr in der Mitte abgebrochenen Buchs liegt bei mir. Er muss sich umgebracht haben, weil er ahnte, dass es mit diesem Buch nichts wird ... (Ich) wäre genauso daran zerbrochen".(6)
Schröders Bemühungen, das fragmentarische Manuskript bei anderen Verlagen (Rowohlt, Suhrkamp, Wagenbach) unterzubringen, schlugen fehl: Zu wirr, zu redundant, hieß es; eine unzumutbare Arbeit, diesen Text in eine lesbare Form zu bringen; dazu die absehbaren Scherereien mit all denen, die in diesem Stück schonungsloser Selbstentblößung "vorkamen". Dass Vesper der Sohn eines völkischen Großdichters und der Ex-Verlobte einer RAF-Terroristin war, war schließlich kein Adelsprädikat. Außerdem war dieser Ex-Kollege als Herausgeber der Kampf- und Bewegungsschriften der "Edition Voltaire" und zum Schluss als ausgeflippter Narkomane ihnen lange genug auf die Nerven gegangen. War sein Selbstmord nicht einfach der Offenbarungseid eines am eigenen Größenwahn Gescheiterten?
So musste erst das Drama von Stammheim mit dem Selbstmord Ulrike Meinhofs (kurz nach dem Hungertod von Holger Meins) sich zu antikem Tragödienformat steigern, damit Jörg Schneider in einem Akt verlegerischer Intuition sich im Sommer 1976 des halb vergessenen und vergilbten Manuskriptpackens in seinem feuchten Landhaus-Keller entsann und es auf sich nahm, nach den beim Verlag vorhandenen Durchschriften selbst eine erste Lesefassung zu erstellen. Im Juli 1977 erschien sie unter dem Titel "DIE REISE" in der Edition "März bei Zweitausendeins".
Die ersten Rezensionen waren eher missmutig, der Verkauf lief schleppend - bis die Zuspitzungen des "deutschen Herbstes" das Buch plötzlich in eine ganz andere, tragisch umwitterte Perspektive rückten. Wenn irgendetwas, so schien es, dann musste dieser autobiographische Bericht des ersten Lebensgefährten von Gudrun Ensslin und Sohns des "Nazidichters" Will Vesper Licht in die Vorgeschichte dieser bleiernen Zeit und ihrer Protagonisten werfen. Das Buch wie der frühe Selbstmord seines Autors erschienen nun wie eine metaphorische Vorwegnahme der Ereignisse, die die Republik erschütterten. Damit gewann diese Prosa eine Eindringlichkeit, die sie vorher nicht besessen hatte. Schreiben: Harakiri, ich ziehe meine Gedärme heraus. Dazu die totale ISOLATION. Konfrontiert mit den Tasten, der Walze, der kahlen Wand. Gefängnissituation.(7) Auf einmal wirkte der Text wie eine Anrufung aus sämtlichen Verliesen der deutschen Geschichte. So war es fast schon ein Gemeinplatz, als Heinrich Böll Vespers Buch zum Beleg nahm, dass "wir alle ... 'Hilter's Children'" seien. Damit zitierte er den Titel von Jillian Beckers "Story of the Baader-Meinhof-Gang", eines internationalen Bestsellers des Jahres 1977.(8)
Tatsächlich transportierte die griffige Formel "Hitlers Kinder" jedoch vollkommen entgegengesetzte Bedeutungen. Die britische Journalistin und Romanautorin Becker wollte demonstrieren, dass die deutschen Terroristen mit "Nazimethoden" gegen einen Staat ankämpften, der eben nicht mehr faschistisch war, sondern zum ersten Mal eine Demokratie westlichen Zuschnitts, und den sie genau deshalb fanatisch hassten. In der linken und liberalen deutschen Öffentlichkeit dagegen, für die Böll sprach, hatte in den obskuren Selbsttötungen der Stammheimer Gefangenen wie im Fememord an Schleyer eine "unbewältigte deutsche Vergangenheit" ihren Tribut gefordert - wie immer das auch zusammenhing.
DIE REISE jedenfalls avancierte über Nacht zum Generationsdokument par excellence, zu einem prototypischen Kapitel des deutschen Familienromans, worin der rebellische Sohn am faschistischen Vater und der restaurierten Gesellschaft zerbricht und stirbt. Anti-Ödipus, Anno 68.

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(2)Wilhelm Reich: Über Sigmund Freud. Von der Psychoanalyse zur Orgonomie, Deutsche Erstausgabe, hrsg. von der "Gesellschaft zur Bekämpfung der emotionalen Pest" (i.e. Bernward Vesper und Lena Conradt), Berlin-Schöneberg 1969, S. 77
(3) phil. tagebuch (1)/hamburg, märz 1971/b. vesper. In: DLA, L Vesper, 125n; abgedruckt in: J. Christip Martin: Schreiben: Harakiri. Über Bernward Vespers Romanessay "Die Reise", Horben 1982, S. 74-102
(4) Brief o.D., ca. 10.2.1971. In: Die Reise. Romanessay. Nach dem unvollendeten Manuskript herausgegeben und mit eienr Editions-Chronologie versehen von Jörg Schröder, Ausgabe letzter Hand, Jossa 1979, S. 619 ff.
(Alle folgenden Zitate im Buch nach dieser Ausgabe)
(5) So Peter Laemmle in der "Weltwoche", Zürich
(6) Jörg Schröder erzhält Ernst Herhaus: Siegfried, Berlin und Schlechtenwegen 1972. Hier zit. nach der Tb-Ausgabe Reinbek 1982, S. 206 f.
(7) Die Reise, S. 116
(8) Bölls Rezension in "konkret" vom 22. Dezember 1977 zitiert das damals viel besprochene Buch von Jillian Becker, Hilters Children?, London 1977 (dt. Hitlers Kinder, Frankfurt/M. 1978) - Zur Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte von Vespers "Die Reise" vgl. den Katalog der Ausstellung "Protest! Literatur um 1968" im Deutschen Literaturarchiv Marbach (= Marbacher Katalog 51), 1988, S. 430 ff.; sowie Schröder erzählt: Glückspilze, Fuchstal-Leeder, Mai 1990, S. 2, 6, 10; und Schröder erzählt: Eine Million und fuffzig, Fuchstal-Leeder, August 1990, S. 20, 33.


Teil 2