Vorgeblättert

Gerd Koenen: Vesper, Ensslin, Baader, Teil 2

22.09.2003.
Erfahrung mal Hass

Dass es sich bei dieser "Autobiographie" - und als solche hatte Vesper das geplante Buch in seinem ersten Brief an März im September 1969 annonciert - um ein Dokument von unhintergehbarer Authentizität handelt, steht allerdings außer Zweifel. Es stellt eine Art Protokoll oder seismographische Aufzeichnung der Radikalisierungsschübe und Bewusstseinsprozesse ihres Autors in Ist-Zeit dar.*) Die Niederschrift setzt im August 1969 ein und endet Anfang Februar 1971. Das war die entscheidende Phase jenes "Roten Jahrzehnts" in der Mentalitätsgeschichte der Bundesrepublik, in der die sich auflösende und zugleich stets verbreiternde APO-Bewegung sich in eine Unmenge radikaler Politsekten und utopischer Sozialprojekte verpuppte und einen virulenten Underground terroristischer Gruppen aus sind entband.
Am Beginn der REISE stehen die halluzinatorischen Eindrücke und Gespräche eines LSD-Trips, den Vesper mit einem amerikanischen Juden in München (!) (bedeutungsvolles Ausrufezeichen im Original) eingenommen hatte. An diesem Text wollte er - so jedenfalls seine Konzeption - unter dem Einfluss neuer Trips und Reisen weiterschreiben, um seine politischen, erotischen und narkotischen Erlebnisse gleichsam "live" festzuhalten, sie mit Erinnerungen an den subtilen Faschismus seiner Jugend auf dem väterlichen Gut Triangel zu konfrontieren und durch historische Reflexionen und Kommentare zum Zeitgeschehen politisch zuzuspitzen.(9)
Im Prozess des Schreibens bewegte Vesper wie ein Gutteil seiner Freunde und Bekannten sich immer näher hin zur Alternative - oder auch zur Kombination - von Terrorismus und "proletarischer Organisation". Über ein halbes Jahr war er im Winter 1969/70 verschwunden, und es geht die schweine einen dreck an, was ich gemacht habe.(10) So heißt es in einer Aufzeichnung über den bewaffneten kampf, die offenbar den Schluss des Buches bilden sollte.
Dabei schlug schon die erste Seite des Buches einen Grundakkord an, der sich an tragisch-pathetischem Radikalismus schwer überbieten ließ: E = ERFAHRUNG x HASS² Das ist unsere Einsteinsche Formel ... Die Formel unserer Krankheit und unserer Exzentrizität. Sie wird Zerstörungen zur Folge haben, gegen die Nagasaki und Hiroshima lächerlich erscheinen. Aber ich weiß, daß der Weg, den sie anzeigt, zu unserer Erlösung führt.(11) Die aus Erfahrung und potenziertem Hass gespeiste Energie (E) der Zerstörung musste schließlich zur Erlösung führen ...
Vordergründig ist alles schiere jugendliche und antifaschistische Rebellion: Der Aufstand geschieht gegen diejenigen, die mich zur Sau gemacht haben, ... gegen die zwanzig Jahre im Elternhaus, gegen den Vater, die Manipulation, die Verführung, die Vergeudung der Jugend, der Begeisterung, des Elans, der Hoffnung ... Denn wie ich sind wir alle betrogen worden, um unsere Träume, um Liebe, Geist, Heiterkeit, ums Ficken, um Hasch und Trip ... (12) Dieser unvermittelte Kontrast romantisierender Begriffe wie "Begeisterung, Elan, Hoffnung" oder "Liebe, Geist, Heiterkeit" mit dem neuen Schockvokabular wie "Ficken, Hasch, Trip" bestimmt das ganze Buch.
Die ihn umgebenden "faschistoiden Deutschen" nahm Vesper nur noch als gesichtslose "vegetables" wahr, und er variierte das in immer neuen Ausbrüchen: Ich hasse diese Deutschen, dieses auf der Straße herumrollende Gemüse (vegetable).(13) Aus diesem Grunde wollte er das Buch zeitweise HASS nennen. Dazu führte er die deutsche Natur-Mythologie und Gesellschaftsvorstellung an, wonach Auflehnung und Abweichung von der Norm noch stets als "unnatürlich" gegolten hätten. Aber vor allem sollte der Begriff der vegetables die Verstrickung in die Generationenfolge bezeichnen, die Vesper als brutale Determinierung der Persönlichkeit empfand: Die Kindheit legt alles fest ... Aber wir reden von "Spontaneität"!(14) Und an anderer Stelle: Wissen, daß man ... aber, Produkt dieses Landes, dieses Systems, nichts Menschliches an sich hat ... Als Vegetable besitze ich nicht einmal das Verständnis dessen, was Mensch ist oder sein kann.(15)
Wer immer sich aus dieser Verkettung, diesem "deutschen Sumpf", lösen wollte und das etwa mit langen Haaren signalisierte, den sahen diese Gemüts- und Gemüsemenschen genau mit dem Blick an, der eine direkte Verbindung zu Auschwitz herstellt.(16). Denn: Wer Haare abschneiden will, will im Grunde Köpfe abschneiden.(17) So wie sie früher die Juden umgebracht hatten, so würden sie heute - wenn sie nur könnten - ihre eigenen, rebellischen Kinder umbringen.
Der Trip, weit entfernt, Erlösung zu bringen, steigerte diese Gefühle der existenziellen Bedrohung und generationellen Verkettung bis zum Verfolgungswahn. Im HOFGARTENERLEBNIS - der Schlüsselszene - ist Vesper von der Vorstellung besessen, daß ich Hitler war, bis zum Gürtel, daß ich da nicht herauskommen würde, daß es ein Kampf auf Leben und Tod ist, der mein Leben verseucht, seine gottverdammte Existenz hat sich an meine geklebt wie Napalm ..., ich muß versuchen, die brennende Flamme zu löschen, aber es ist gar nicht Hitler, es ist mein Vater, es ist meine Kindheit, meine Erfahrung BIN ICH ... (18)


Bernward und Burton

Mit diesen heroisch-verzweifelten Visionen und Tiraden traktiert Vesper seinen Trip-Gefährten Burton, den Sohn eines reichen jüdischen Anwalts aus New York, den er auf der Rückfahrt aus Dubrovnik aufgegabelt und überredet hat, das LSD mit ihm zu teilen. Aber Burton, ein Kind der Woodstock-Generation, der in einer Werbeagentur jobbt und nur einen kleinen Ausflipp hatte nehmen wollen, reagiert auf diese allzu deutschen Geständnisse mit wortkargem Desinteresse und wachsendem Befremden - was Vesper zu umso heftigeren Ausbrüchen gekränkten Selbstmitleids treibt: Ich spürte sehr deutlich die Verlassenheit. Eine Biographie, die sich bestimmt dadurch, den Vegetables zu entrinnen ... - und dann erfahren, daß ... niemand daran Interesse hat, außer einem selbst.(19)
Aus der Kränkung wird Wut. Vesper glaubt, Burton wolle ihn in die Enge treiben, ihn mit dieser Stadt, diesem Land, der Beklemmung, der Durchschnittlichkeit in Verbindung bringen, nur um ihn wieder an den Felsen zu fesseln, von dem ich mich gelöst hatte.(20) "Ich habe alles geopfert", stieß ich plötzlich hervor. Burton sah mich erstaunt an. "So? - Was?" Meine Kindheitshölle; meine Freunde-Schweine; meine Eltern-Nazis ... Es war mir lieb, wert, teuer, ich litt, heulte. Burton wird es sehen. Er wird trotz aller Beteuerungen meine Schuld festhalten und aus seiner glücklichen Situation heraus ... mich in den Sumpf zurückstoßen.(21)
Eine Fassbinder-Szene: der glückliche Sohn reicher Juden in all seiner überlegenen Ironie und das sich in Schuldkrämpfen windende arme deutsche Fleisch ... (22) Und wie der Schwabinger Filmemacher später in seinem kokserleuchteten Stück "Der Müll, die Stadt und der Tod" lässt Vesper auf seinem Trip in entgrenzter Weise ES aus sich sprechen: Diese Stadt muß ... dem Erdboden gleichgemacht, der Erdboden muß den Wäldern gleichgemacht werden, alles muß gleichgemacht werden. Die Revolution ... ist gerechtfertigt, die Revolution ist kein Deckchensticken. Die Massen werden siegen. Wir werden siegen. Die letzten Tage der USA sind nahe herangekommen. "Wir werden Menschen sein. Wir werden es sein, oder wir werden die Welt dem Erdboden gleichmachen bei unserem Versuch, es zu werden."(23)
Wieder ein toller Taumel von Assoziationen, die es in sich haben. München, einst "Hauptstadt der Bewegung", steht hier für die kapitalistischen Metropolen, gegen die die Völker der Dritten Welt sich erhoben haben. Aber mit den schwarzen und gelben Massen zusammen werden diesmal "wir siegen". Und dann sind die "letzten Tage der USA", die zum Hort eines globalen Imperialismus geworden sind, nahe herangekommen. So klingt aus Eldridge Cleavers Gospel der Black Power und Mao Tse-tungs Credo der Weltrevolution als gar nicht so fernes Echo Joseph Goebbels deutsches Nihil von 1945 heraus: "Wenn wir abtreten, dann werden wir die Tür so zuschlagen, daß das Weltall wackelt:"
Doch indem ES so aus ihm sprach, war er zum Mörder geworden und hatte das Herz durchstochen, das in der Mitte der Erde schlägt, ein Herz, das Burton gehörte: Israel. Stiegen nicht auch dort Bomber auf, die Napalm auf die braunen Dörfer der Wüste warfen - so wie in Vietnam? Und siehe da, Burtons Gesicht hatte sich verfinstert, er wuchs, der Sohn Israels, wie ein sich entrollendes Farnbüschel über meinen Kopf und schwenkte den Kopf wie eine Schlange. Jetzt waren sie beide nicht mehr nur sie selbst, sondern zwei Völker, die sich den Gott streitig machen - Deutsche und Juden. Burton belauerte mich. Er wartete auf jenen Stoß, auf den er wartete, seit er denken konnte ..., der ihn wehleidig machte und kriecherisch und demütig - und doch so gewiß des Sieges, so unbeugsam sicher, sicher seiner Überzeugung ... (24)


Wir Fremde, uns fremd

Diese halb bewusste Versammlung antisemitischer Stereotypen - von zwei Völkern, die sich Gott streitig machen, von der Schlangennatur der Juden, die den Stoß wehleidig und kriecherisch erwarten und bei alledem immer siegesgewiss und ihrer Überzeugung (sprich: Auserwähltsein) sicher bleiben - wäre weniger irritierend, referierte Vesper nicht lgeich im Anschluss jene maßlosen Tiraden seines Vaters, die die Juden in das Zentrum einer apokalyptischen Sicht der gesamten modernen Welt rücken und deren erschreckende sprachliche Wucht und Plastizität er ohne weiteres aus der Erinnerung reproduzieren, geradezu rezitieren kann.
Wir haben die Juden gewarnt ... Die Juden haben alles überlebt. Auch die Emigranten sind alle wieder da ... Jetzt sitzen sie in Paris und New York und hetzen gegen alles Deutsche ... Albert Einstein fordert die totale Rassenmischung, ein weltweites Panama ... Hitler ist zum Krieg gezwungen worden, das Weltjudentum hat ihm schon 1933 den Krieg erklärt ... Die Asphaltliteraten in Berlin haben durch systematische Hetze alle Werte zu ersetzen versucht. Es waren Juden darunter und Nichtjuden ... Die deutsche Frau und Mutter sollte zu einem gelackten, amerikanischem Flittchen werden ... Wir haben heute nur die Wahl, mit den Russen kolchosisiert zu werden, oder mit den Amerikanern vertrustet ... Unser krankes Volk muß gesunden ... Parfümierte französische Romane sind ihm ebenso abträglich wie die zerfasernde Seelenmassage der jüdischen Psychologie ... Frankreich, Amerika und England sind schon halb und halb verjudet und mit Marokkanern und Negern durchsetzt ... Viele der zersetzenden Dadaisten waren Juden, die mit Lenin in Zürich geheime Absprachen schlossen. Lenin, der mit Recht gesagt hat, wer Berlin hat, hat Europa, und Trotzki hießen eigentlich ganz anders ... Es gab keine KZ's, außer in England und Südafrika ... Die Photos in den KZ's sind gestellt ... Wenn es Tote im KZ gab, dann deswegen, weil die Kapos, die zumeist Kommunisten warten, ein bestialisches Regiment führten ... Heute versuchen die Minderwertigen erneut, die Herrschaft zu erlangen ... Mehrheit ist Unsinn ... Das heimliche Deutschland wird auferstehen. Bis dahin können wir nur für die Wahrheit kämpfen und unsere Pflicht an dem Platz tun, auf den uns das Schicksal gestellt hat.(25)

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*) Erst die 1979 von Jörg Schröder mit Hilfe von Klaus Behnken erstelle "Ausgabe letzter Hand" der REISE, in der nicht nur die Überarbeitungen Vespers am ursprünglich eingesandten Manuskript, sondern auch seine Streichungen, begleitenden Notizen, Zusätze zum Text sowie die Variationen sichtbar gemacht werden, bringt diesen Charakter eines Zeitdokuments und Bewusstseinsstroms zur Geltung.
(9) Vgl. den Brief Vespers an K.D. Wolff, 23.8.1969, worin er das Buchprojekt erstmals anbietet. In: Die Reise (Anhang), S. 603
(10) Ebd., S. 633
(11) Ebd., S. 13/14
(12) Ebd., S. 55
(13) Ebd., S. 18
(14) Ebd., S. 71
(15) Ebd., S. 55
(16) Ebd., S. 31
(17) Ebd., S. 70
(18) Ebd., S. 107
(19) Ebd., S. 105
(20) Ebd., S. 99
(21) Ebd., S. 114
(22) Vgl. Rainer Werner Fassbinders Stück "Der Müll, die Stadt und der Tod" von 1976, dessen Erstaufführung wegen der alle antisemitischen Klischees - bewusst - erfüllenden Figur des "reichen Juden" 1985 durch eine Bühnenbesetzung der Frankfurter Jüdischen Gemeinde verhindert wurde. Vgl. dazu: Deutsch-jüdische Normalität ... Fassbinders Sprengsätze, hrsg. von Elisabeth Kiderlen (Pflasterstrand Flugschrift 1), Frankfurt/M 1985; dort insbesondere den Beitrag von Gertrud Koch: "Qualen des Fleisches, Kälte des Geistes", S. 46
(23) Die Reise, S. 122
(24) Ebd., S. 124
(25) Ebd., S. 142-147, passim


Teil 3