Vorgeblättert

Leseprobe Kapka Kassabova: Die letzte Grenze, Teil 1

15.08.2018.
---  Agiasma  ---

Griechisches Wort für eine Quelle mit geweihtem Heilwasser. Quellen waren einst Kultplätze für die Thraker, deren Verehrung der Muttergottheit sich in den gebärmutterartigen heiligen Stätten und feuchten Höhlenspalten Strandschas verkörperte, wo die Strahlen des Sonnengottes, Sohn und Geliebter der Göttin, empfangen wurden.
     Tausende Jahre später dauert die Beziehung der Menschen zu den Agiasmas an, vielleicht weil das Agiasma ein Vermittler zwischen den materiellen und magischen Reichen, zwischen der Nacht von Winter und Brutzeit (Chaos) und der Sonne von Sommer und Wiedergeburt (Kosmos) ist.
     Ab Mai beginnt das Wasser heftig zu strömen. Die Agiasmas haben sich geöffnet, sagen die Leute. Man geht zu einem Agiasma, um sein Gesicht und sein Gewissen zu reinigen, von Beschwerden und Flüchen geheilt zu werden und die neue Jahreszeit zu begrüßen. Hänge einen Streifen deiner Kleidung an einen nahen Baum, und deine Krankheit wird dortbleiben, oder ein klein wenig von deinem Kummer. Die Bäume sind so schwer von Stoff, dass im Winter, wenn die Quellen versiegen, die mürrischen Gemeindebeamten kommen, um das Durcheinander aufzuräumen.
     Eines Morgens führte man mich zu einem tief im Grenzwald verborgenen Ort. Er wurde Großes Agiasma genannt.

ALLES BEGINNT
MIT EINER QUELLE

Es war von Der Disco aus, dass die Reise zum Großen Agiasma begann. Ich schloss mich dem Konvoi an, der die Talschlucht entlang zu e inem nicht auf der Landkarte verzeichneten Ort kroch. Diese Stelle war eine Lichtung im Grenzwald, durchkreuzt von Jagdpfaden und Güterwegen. Vorbei an den nicht mehr gebrauchten, von Schlangen bevölkerten Zollbaracken, wo der soignierte polnische Emigrant seine Kindheit verbracht hatte und ein gespensterhafter Slogan den Eingang mit seinen zerbrochenen Kacheln zierte:

AN DER NATIONALEN GRENZE
NATIONALE ORDNUNG

Ich fuhr zusammen mit Frauen aus dem Dorf in einem Minivan aus der Sowjetzeit. Der Fahrer tat sein Bestes auf der aufgesprungenen Straße, aber trotzdem hüpften wir auf den harten Sitzen auf und nieder, bis die verbliebenen Zähne im kollektiven Mund klapperten. Die Frauen trugen Ikonen wie Kinder auf dem Schoß, »gekleidet« in Spitzen und roten Stoff, aber als ich darunterlugte, war ich erschrocken ob der menschlichen Gesichter mit den ausdrucksvollen Augen.
     »Einige von denen sind sehr alt«, sagte eine Frau mit derben, männlichen Gesichtszügen. Die ältesten Ikonen reichten drei Jahrhunderte zurück. Die Frauen betreuten sie, als wären es Waisenkinder.
     »Deshalb holen wir sie nur am Tag der Heiligen Konstantin und Helena aus der Kirche«, sagte eine Frau namens Despina. Sie wohnte in meiner Straße, hatte einen üppigen Garten und einen bettlägerigen Mann.
     »Wie gefällt Ihnen unser Dorf, meine Liebe?«, fragte eine andere Frau, die ständig Kaugummi kaute. Ich mochte sie; sie hatte ein offenes Gesicht, das ausdrückte: So ist das Leben. »Die Kirschen sind bald so weit. Solche Kirschen kriegen Sie in der Stadt nicht.«
     »Vielleicht gibt es in Schottland auch Kirschen«, meinte Despina.
     »Nein, in Schottland haben sie Whisky«, korrigierte die Frau mit dem Kaugummi und blinzelte mir zu. »Und die Männer tragen Schottenröcke. Stimmt’s?«
     Sie kicherten. Als Zeichen, dass ich zum inneren Kreis gehörte, gaben sie mir eine Ikone, die ich auf dem Schoß halten sollte. Ich vermied es, die Frau mit der unheimlichen blauen Iris anzusehen, die nichts sagte und vielleicht den bösen Blick hatte, oder auch nicht.
     »Zu uns kommen nicht viele Besucher, meine Liebe«, sagte eine andere Frau, die einmal Köchin in der Schulkantine gewesen war. »Sie hätten das Dorf früher sehen sollen.«
     »Die Schule, die Bücherei«, sagte Despina. »Die Obstgärten, die Felder, die Herden. Tausende Stück Vieh. Unser Dorf war wohlhabend.«
     »Lass die Vergangenheit ruhen«, sagte die Frau mit dem Kaugummi.
     »Vor ein paar Jahren sind wir nach Meliki gefahren«, sagte die Frau mit dem Männergesicht, »auf Besuch zu den Griechen. Nette Leute.«
     »Nette Leute«, stimmten alle zu. Die Griechen in Meliki waren Nachkommen derjenigen, die vor hundert Jahren die Ikonen zurückgelassen hatten. Sie praktizierten immer noch das Ritual des Feuerlaufs, auf Griechisch anastenaria genannt, auf Bulgarisch nestinarstvo.
     »Wir waren auch im türkischen Strandscha«, sagte die Frau mit dem Kaugummi, »in unseren alten Dörfern. Wollten das Haus von Mama und Papa sehen. Aber dort wohnt jetzt keiner mehr. Nur Ruinen.«
     »Leere Dörfer«, sagte die Frau mit dem Männergesicht. Sie war Straßenkehrerin, die Leute nannten sie Das Ohr, weil sie ein phänomenales Hörvermögen hatte und einer geflüsterten Unterhaltung Straßen weiter, innerhalb eines Hauses, vielleicht sogar im Kopf der Menschen, folgen konnte. Ich sah sie jeden Tag mit ihrem Besen unsichtbaren Schmutz vom leeren Platz fegen, eingestimmt auf irgendeine Schwingung quer über die Hügel. Wenn ich an ihr vorbeiging, versuchte ich nichts zu denken, aber sie sah mich immer aus zusammengekniffenen Augen scharf an, und ich schauderte.
     Schließlich hielt der Kleinbus an. Auf der Lichtung versammelten sich die Leute.
     Die Lichtung hieß Die Heimat, eine echte Leistung der Metonymie. Sie hatte seit Hunderten, ja vielleicht Tausenden Jahren Zusammenkünfte von Feueranbetern erlebt, von Musikern, Nachtschwärmern, mystischen Sehern und gewöhnlichen Trunkenbolden, bis in die späten 1940er Jahre, als der Kult der Natur vom Kult Stalins unterbrochen wurde. Meine Generation war im letzten Blinzeln dieser Unterbrechung aufgewachsen.
     Über den Feuern blubberte in Kesseln Lammsuppe, und die Frauen aus dem Kleinbus machten sich daran, die Brühe umzurühren. Es gab fünf hölzerne Plattformen, odarche, eine Plattform für jedes der fünf Feueranbeter-Dörfer an der Grenze. Leer sahen sie aus wie Hinrichtungsgerüste. Jetzt kamen die Leute in kleinen Prozessionen vom Fluss herangeschritten und stellten Ikonen auf die Plattformen. Es wirkte wie eine Szene aus »The Wicker Man«. Statt zu beten vollführten die Leute, welche die Ikonen hielten, einen rituellen Reigentanz auf der Stelle, mit kurzen Schritten und sparsamen Gebärden. Unter dem glosenden Weihrauch der Orthodoxie lag unverkennbar ein Hauch von Heidentum.
     Beim Klang eines Dudelsacks und einer Trommel, genannt tupan oder tapan, gesellte ich mich zu der kleinen Prozession hinunter zum Bach, wo die Frauen, ohne mit dem Wasser in Kontakt zu kommen, die Ikonen entkleideten und wuschen, dann kleideten sie sie wieder an und stellten sie auf die Plattformen.
     Die hölzernen Tische waren wie die Plattformen fest montiert, der ganze Ort war ein ständiger Schauplatz für Feste. Schon zu Mittag lagen orgiastische Schwingungen in der Luft. Es fühlte sich an, als hätte das Ikonenritual eine Bedeutung jenseits von Glauben, Festlichkeit oder Kultur – da war etwas anderes, das hier nachgespielt wurde. Ich spürte es, konnte es aber nicht benennen; es hatte etwas mit der Grenze zu tun. Griechische Besucher waren da, die ihre eigenen Ikonen mitgebracht hatten, und über den Bach beugte sich eine Gruppe griechischer Frauen. Das war die Heimat ihrer Vorfahren gewesen, ihre Großeltern lagen im Dorf im Tal begraben. So war die Heimat auch Schauplatz einer speziellen Art Tourismus: Ahnentourismus.
     Ich kletterte den hügeligen Weg zum Großen Agiasma hinauf, das sich eben geöffnet hatte – eine bedeutende Sache, denn hatte sich das Große Agiasma einmal geöffnet, dann flossen alle Quellen Strandschas. Ein Mädchen kam zu mir und berührte mich an der Schulter. Sie war weiß gekleidet, wie eine Nymphe.
     »Hallo«, sagte sie. »Ich bin Iglika.« Iglika bedeutet Primel. »Wie heißt du?«
     Ich blieb stehen. Ihre Haut war eine goldene Galaxie, ihr Haar ein Strom aus Weizen. Sie gehörte in ein Lied. Ich empfand eine abergläubische Sorge: Wie kann man so durchs Leben gehen, ohne dass einen jemand mit dem bösen Blick ansieht? Ich nannte ihr meinen Namen. Sie lachte mit Perlenzähnen.
     »Dein Name bedeutet Wassertropfen!«, sagte sie und legte meine Hand auf ihre kalte Handfläche. »Du hast eine Verwandtschaft mit dem Wasser. Ich glaube, wir sind ziemlich ähnlich. Weißt du, ich habe zwei Jahre an der Universität Manchester studiert. Aber ich kann in Manchester nicht leben. Niemand kann in Manchester leben. Ich bin zurückgekommen.«
     Sie redete auf dem ganzen Weg zum Großen Agiasma, sprudelte wie ein Bächlein, aber als wir in der Schlange der Leute an die Reihe kamen, flatterte sie davon. Iglika stammte aus einem Dorf namens Überfuhr, denn es liegt in der Nähe eines der wenigen existierenden Übergänge über den 147 Kilometer langen Fluss Veleka, der aus einem türkischen Berg tritt und Flusstäler durch Strandscha einkerbt, bevor er sich dem Schwarzen Meer zugesellt, ohne einen Gedanken an Grenzen zu verschwenden. Flüsse sind in einem mythologischen Sinn Grenzen – und deswegen wurden die Ikonen hier »gewaschen«.
     An diesem Tag sah ich Iglika nicht mehr. Die Leute aus meinem Dorf im Tal hießen mich an ihrem Tisch willkommen. Die Lammsuppe wurde in Schüsseln gegossen und herumgereicht; es war kurban, aus einem früh am selben Morgen geschlachteten Lamm gekocht. Kurban (vom arabischen qurban) bedeutet die Opferung eines Tieres, manchmal zum Klang von Trommel und Dudelsack, die im ländlichen Griechenland und Bulgarien noch immer größere Feste, christliche wie muslimische, begleiten; bis dahin hatte ich noch nie ein kurban gesehen. In den alten Zeiten hatte jedes Feueranbeter-Dorf seine eigenen Opfermesser, -beile und -Baumstümpfe gehabt. Sie waren weg, aber geblieben waren die kleinen Kapellen oder konaks am Rand der Feueranbeter-Dörfer, normalerweise über einer Quelle erbaut; dort wurden die Ikonen gesegnet und mit Weihrauch umwölkt, bevor sie in Prozessionen wie dieser hier mitgetragen wurden.
     »In Zabernovo, einem Dorf in Strandscha, gibt es eine über einer Quelle und einer antiken Kultstätte erbaute Kirche«, sagte jemand hinter mir mit perfektem Timing. Die Frau hatte aschblondes Haar, eine tabakfarbene Haut und geheimnisvolle Augen. Sie saß abseits von den Tischen am Fuß einer riesigen Eiche, als wäre sie immer schon dort gewesen. Sie hieß Marina.
     In der Kirche in jenem Dorf, fuhr sie fort, befand sich dort, wo der ursprüngliche mythologische Akt des Ringens stattgefunden hatte, ein Brunnen. Sogar jetzt kämen, wenn man zum richtigen Zeitpunkt im Jahreszyklus zum Brunnen gehe und wisse, wie man sie sehen könne, beim Einbruch der Nacht ein Mann und ein schwarzer Stier aus dem Brunnen, um bis zum Morgengrauen zu ringen. Es gebe keinen Sieger. Beim ersten Hahnenschrei tauchten sie wieder in den Brunnen.
     Marina war Ethnologin und nach dreißig Jahren in Burgas wieder nach Strandscha und in ihre heimatliche Grenzstadt zurückgekehrt, um sich um ihre alten Eltern zu kümmern. Sie fragte nicht, was ich hier täte; sie hatte eine Art, in den Leuten zu lesen.
     Hoch über uns wogte geräuschlos der Wald, der Himmel war jung vor Sommer. Kinder und Achtzigjährige waren da, Säufer und Ethnologin. Die von außen Kommenden wie ich waren leicht auszumachen – sie sahen gehemmt aus. Die Einheimischen hatten ungebärdige Gesichter, Gesichter, wie man sie in Städten nicht sieht. Die Männer schenkten starke selbstgebraute Getränke aus. An jeder Plattform stand jemand und bewachte die Ikonen.
     »Theophanie«, sagte Marina. »Der Glaube, dass Ikonen menschliche Manifestationen der Götter und auf diese Weise Vermittler zwischen dem Sterblichen und dem Göttlichen sind.«
     Ich fragte sie, warum das Große Agiasma groß genannt wurde. Für mich sah es ziemlich klein aus.
     »Wir dürfen die Dinge nicht wörtlich nehmen.« Marinas Gesicht verzog sich zu einem Lächeln, und sie erzählte mir die folgende Geschichte.
     In uralten Zeiten kam jeden Frühling ein Hirsch und säuberte die Quelle mit seinem Geweih, bis das Wasser zu fließen begann. Dann bot er sich selbst an, um am geheiligten kurban geopfert zu werden. Das tat er jedes Jahr. Deshalb schießt man auch nie einen Hirsch im Wald, es könnte ja der göttliche sein, der mit dem goldenen Geweih, der seit der Bronzezeit der Sonne der neuen Jahreszeit entgegenläuft, und dessen irdische Verkörperung das Feuer ist, so Marina.
     Mir allerdings schien es, als gehöre heutzutage der Wald den verschiedenen Jagdmafias, die abschießen, was ihnen gerade passt.
     »Und so hat sich das Große Agiasma geöffnet«, schloss sie. »Und des wegen ist es diese Stelle, an der sich die Feueranbeter jeder Generation zuerst mit dem Feuer in Einklang bringen. Öffnen, ausziehen, baden, anziehen, sich gegen den Uhrzeigersinn im Kreis bewegen, diese Riten gelten bei uns seit langer Zeit.«
     Aber was war die Verbindung mit dem Feuer?
     »Es ist offensichtlich«, sagte Marina. »Heute findet das Feuerfest der Heiligen Konstantin und Helena statt. Sie sind nur eine Variante des Doppelkults der Erdgöttin und ihres Sohnes und Geliebten, des Sonnengottes. Verkörperungen der dionysisch-apollinischen Dualität stehen im Mittelpunkt des Feuerkults. Das Solare und das Chthonische finden zusammen. Für kurze Zeit. Sie können nur kurz zusammenkommen.«
     Hirsche waren Jäger und Gejagte. Mütter und Söhne waren Liebende.
     »So funktioniert das metaphorische Denken.« Marina lächelte mit Nikotinzähnen. Was ich eigentlich wirklich wissen wollte, war, wann wir die Feuerläufer zu sehen bekommen würden.
     »Feuer ist ein nächtliches Mysterium«, sagte Marina.
     »Heißt das, dass wir den ganzen Tag warten müssen?« Aber plötzlich war Marina verschwunden. Wie ein Baumgeist.
     »Die Glut des kurban wird traditionellerweise der Tummelplatz«, sagte jemand an meinem Tisch. Es war ein eigenartig aussehender junger Mann, der dasaß, ohne etwas zu trinken. Er war bleich und hatte Glupschaugen, der allgemeine Eindruck ließ an jemanden mit reptilienkalter Haut denken. Er war einer der nestinari aus der Gegend.
     Dann kam die Kapelle – ein Mann mit einer riesigen Trommel, der rundliche Dudelsackspieler, der Akkordeonist, ein Zigeuner mit melancholischen ägyptischen Augen und ein junger Sänger mit einem Gesicht wie eine Sonnenblume. Seine Ankunft brachte etwas Neues mit sich, als hätte sich eine Tür geöffnet, und ein Strahl Licht dringe ein. Sein ganzer Körper strahlte. Der Dudelsack kam den Weg entlang, mit einem einzigen trillernden Ton, der Klang der Zeit selbst, archaisch, fern vom bewussten Denken. Der ursprüngliche Schlag des tupan gab den Rhythmus an, dann nahm der Akkordeonist die klagende Melodie auf, und Sonnenblumengesicht tat seine Kehle auf.
     Ein Fieber bemächtigte sich der Menge. Als schwebte die Waldlichtung mit uns allen im Raum, jede Gestalt festgehalten mit einem Getränk in der Hand, im Gras liegend, in den Fluss schauend wie in einen Spiegel.
     »Ein echter nestinar hat immer noch eine andere Begabung«, sagte Marina. Sie war wieder an den Wurzeln ihres Baums. »Entweder Gesang oder Prophezeiung.«
     Zur Zeit des Ersten Weltkriegs, erzählte sie, gab es im benachbarten Dorf Urgari eine großartige nestinarka namens Zlata. Sie prophezeite mit grausamer Genauigkeit, welcher der jungen Männer aus ihrem Dorf nicht mehr heimkehren werde. Andere nestinari sahen die Zukunft in einem Brocken Kohle, und irgendwie brachte die Zukunft hier immer Schlechtes. Die griechischen Frauen, die heute zu Besuch waren, waren die Enkelinnen jener alten anastenarides, die unmittelbar vor den Balkankriegen auf das Feuer gestiegen waren und mit ihrem zweiten Gesicht alles gesehen hatten: Krieg, Exil, die verlorenen Häuser, Tiere und Kinder, den langen, ausgeplünderten Weg nach Griechenland.
     »Warum«, klagten sie und bedeckten sich mit Asche, »warum die Felder ansäen, Kinder austragen, Häuser bauen? Wuh, wuh, wuh, Schwärzestes vom Schwarzen!«
     Die verlassenen Häuser neben meinem gemieteten Haus hatten i hnen gehört, und sie wussten schon, bevor sie sie verloren, dass sie sie nie wiedersehen würden. Im Massenexodus von Menschen nach den Balkankriegen über die neue Grenze verloren manche Familien Babys und Kinder im Wald. Paramilitärische Banden jeder Schattierung griffen Flüchtlinge aller Glaubensrichtungen an, und die Jungen wurden nicht verschont. Es war ein typisches Balkan-Dilemma: ein Krieg, der für die Zivilisten schlimmer war als für die Kämpfer und dessen Nachhall immer noch im Hintergrund vibriert.
     »Feuer und Wasser«, sagte Marina. »Es ist eine kollektive Therapie. Ohne sie würden die Leute verrückt werden.« Sie fuhr fort: »Feuer und Wasser. Reinigend, aber zerstörerisch. Deshalb müssen diejenigen, die ins Feuer gehen, etwas kanalisieren.«
     »Was kanalisieren?«
     »Das Leiden«, sagte Marina und drückte ihre Zigarette an einer Baumwurzel aus. »Wir alle kennen das Leiden. Aber durch es hindurchzugehen, durch Feuer und Wasser, und es auch den anderen zu ermöglichen – deswegen wird die Leidenschaft für das Feuer nicht in der Familie weiter gegeben. Denn es ist ein Wissen von anderswo.«

Leseprobe Teil 2