Vorgeblättert

Leseprobe zu Bogdan Musial: Stalins Beutezug. Teil 1

12.04.2010.
Von der Avantgarde der Weltrevolution
zum Todfeind - antideutsche Propaganda


In den ersten Kriegsmonaten vermochte die sowjetische Führung noch zwischen dem "faschistischen" Regime und dem deutschen Volk zu unterscheiden.(4) Dies spiegelte sich auch in der an die deutschen Soldaten gerichteten sowjetischen Propaganda wider. Bereits im Januar 1934 hatte Stalin angeordnet, für die nationalsozialistische Ideologie und das NS-System statt der Bezeichnungen "Nationalsozialismus" und "nationalsozialistisch" die Begriffe "Faschismus" und "faschistisch" zu gebrauchen, denn, wie er erklärte, "selbst bei gründlichster Prüfung ist es unmöglich, darin auch nur eine Spur Sozialismus zu entdecken".(5) Stalins Wort war damals Gesetz und ist es offenkundig für einige noch bis heute. So bezeichnet man den Nationalsozialismus nach wie vor als Faschismus, und zwar nicht nur in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion.
     In einem Flugblatt aus dem Jahr 1941, das an deutsche Soldaten gerichtet war, heißt es: "Die Schuld daran [am Krieg] trägt Hitler und seine ganze Bande der faschistischen Generäle und Offiziere. Deutsche Soldaten! Vernichtet Hitler, schlagt seine Generäle und Offiziere! Geht auf die Seite der Roten Armee über! Hier erwartet euch die Erlösung von Tod und Elend."(6) In einem anderen Aufruf an das deutsche Volk, deutsche Soldaten, Arbeiter und Bauern vom Sommer 1941 ist von Hitlers Schuld am Ausbruch des Krieges die Rede. Der Aufruf warnte die Deutschen, Hitler führe sie zum Niedergang, zur Katastrophe, und forderte jeden Einzelnen auf: "Nieder mit Hitler, beende den Krieg."(7)
     Am 16. Oktober 1941 veröffentlichte die Prawda einen Aufruf der KPD an die deutschen Truppen, den die deutschen Kommunisten in Moskau in Absprache mit der sowjetischen Führung verfasst hatten. Stalin persönlich hatte die Veröffentlichung genehmigt. Der Aufruf forderte die deutschen Soldaten auf, Hitler zu stürzen, und warnte zugleich: "Wenn Ihr diesen gerechten und würdigen Weg nicht beschreitet, so riskiert Ihr es, eine Zertrümmerung der deutschen Armee und des Deutschen Reiches zu durchleben, die erschütternder sein wird, als das im Ersten Weltkrieg der Fall war."(8)
     Anlässlich des 25. Jahrestages der Oktoberrevolution, am 6. No­vember 1941, hielt Stalin in Moskau eine Rede. Dabei sprach er auch über die Gründe, warum Deutschland den Krieg verlieren müsse, und erklärte:

"Das ist zweitens die Unzuverlässigkeit des deutschen Hinterlands der Hitlerschen Räuber. Solange sich die Hitlerleute damit beschäftigten, das durch den Versailler Vertrag zerstückelte Deutschland zusammenzufassen, konnten sie beim deutschen Volk, das von dem Ideal einer Wiederherstellung Deutschlands beseelt war, Unterstützung finden. Nachdem diese Aufgabe aber gelöst war und die Hitlerleute den Weg des Imperialismus, den Weg des Raubes fremder Lande und der Unterwerfung fremder Völker beschritten haben, […] ist im deutschen Volke ein tiefgehender Umschwung gegen die Fortsetzung des Krieges, für die Beendigung des Krieges eingetreten. […] Nur die Hitlerschen Narren können nicht begreifen, daß nicht nur das europäische Hinterland, sondern auch das deutsche Hinterland der deutschen Truppen einen Vulkan darstellt, bereit auszubrechen und die Hitlerschen Abenteurer zu begraben."(9)

Einige Monate später, am 23. Februar 1942, veröffentlichte die Prawda den Tagesbefehl Stalins zum 24. Jahrestag der Roten Armee, der danach auch unter den deutschen Soldaten an der Ostfront (durch Flugblätter und mündliche Aufrufe) verbreitet wurde. Darin führte Stalin aus:

"In der ausländischen Presse wird manchmal darüber geschwätzt, daß die Rote Armee das Ziel habe, das deutsche Volk auszurotten und den deutschen Staat zu vernichten. Das ist natürlich eine dumme Lüge und eine törichte Verleumdung der Roten Armee. Solche idiotischen Ziele hat die Rote Armee nicht und kann sie nicht haben. Die Rote Armee setzt sich das Ziel, die deutschen Okkupanten aus unserem Lande zu vertreiben und den Sowjetboden von den faschistischen deutschen Eindringlingen zu befreien. Es ist sehr wahrscheinlich, daß der Krieg für die Befreiung des Sowjetbodens zur Vertreibung oder Vernichtung der Hitlerclique führen wird. Wir würden einen solchen Ausgang begrüßen. Es wäre aber lächerlich, die Hitlerclique mit dem deutschen Volke, mit dem deutschen Staate gleichzusetzen. Die Erfahrungen der Geschichte besagen, daß die Hitler kommen und gehen, aber das deutsche Volk, der deutsche Staat bleibt."(10)

Das war und blieb indes Wunschdenken, denn das deutsche Volk, insbesondere der deutsche Soldat, blieb Adolf Hitler in seiner Mehrheit treu. Stalin und seine engsten Mitarbeiter begriffen dies allmählich, was sich auch in der Propaganda widerspiegelte. Ab Ende 1941 finden sich in Aufrufen an das sowjetische Volk und die Rotarmisten Begriffe wie "deutsche Besatzer", "deutsche Eindringlinge", "deutsche Armee", "Deutsche", wo früher von "Faschisten", "faschistischen Eindringlingen" etc. die Rede gewesen war.(11)
     Mit der Zeit "germanisierten" die sowjetischen Propagandisten die antideutsche Kriegspropaganda noch weiter. Beispielsweise ließ Stalin im Herbst 1942 ein Flugblatt mit der Losung: "Sieg oder Tod! Willst Du den Sieg - töte den Deutschen" unter der sowjetischen Jugend verbreiten. In einem Flugblatt an Kinder in den besetzten Gebieten vom November 1942 hieß es: "Die Rote Armee befreit Euch von den Deutschen! […] Die Deutschen werden nicht mehr lange leben. Die Rote Armee vernichtet sie alle wie tollwütige Hunde."(12) In Deutschland bekannt ist der Aufruf an die Rotarmisten, den Wehrmachtssoldaten im Jahr 1942 bei gefallenen Rotarmisten gefunden hatten:

"Die Deutschen sind keine Menschen. Von jetzt an ist das Wort ›Deutscher‹ für uns der schlimmste Fluch. Von jetzt an läßt das Wort ›Deutscher‹ das Gewehr losgehen. Wir werden nicht reden. Wir werden uns nicht entrüsten. Wir werden töten. Wenn Du nicht einen Deutschen am Tag getötet hast, war der Tag verloren. Wenn Du glaubst, daß Dein Nachbar für Dich den Deutschen tötet, hast Du die Gefahr nicht verstanden. Wenn Du nicht den Deutschen tötest, wird der Deutsche Dich töten! […] Wenn Du einen Deutschen getötet hast, töte einen weiteren. Nichts stimmt uns fröhlicher als deutsche Leichen."(13)

Die antideutsche Propaganda beinhaltete rassistische Verallgemeinerungen und unterstellte allen Deutschen, "dass sie von Kindesbeinen an sadistisch, kulturlos, trinksüchtig und gewalttätig seien". Das war die Botschaft des Plakates "Der junge Fritz", das aus sechs Bildern mit abfälligen Kommentaren bestand. Man begann auch diese Ansichten "wissenschaftlich" zu untermauern. Es erschienen "wissenschaftliche" Publikationen, welche die Gefährlichkeit der Deutschen "belegten".(14)
     Auch die Propaganda, die an die deutschen Soldaten gerichtet war, änderte sich. Ab Sommer 1942 hatte sie nicht mehr "moralisierend" zu sein, sondern Angst und Schrecken einzujagen. Alexander Schtscherbakow, der Chef der Hauptverwaltung für Propaganda bei der Roten Armee, führte am 27. Juli 1942 in einer Sitzung aus:

"Unsere Propaganda unter den Soldaten der deutschen Armee muss Abstand von der moralischen Bewertung des deutschen Soldaten nehmen. Die Hauptmasse der deutschen Soldaten hängt an Hitler. Der Typus des hitlerschen Soldaten - Smerdajakow (bei Dostojewski)(15). In Deutschland fand ein moralischer Verfall der Nation statt, insbesondere der Soldaten. Es ist eine zwecklose Arbeit, zu agitieren und den deutschen Soldaten zu sagen, dass sie Falsches machen, dass nicht die UdSSR Deutschland überfallen hat, sondern Hitler die UdSSR. Selbstverständlich gibt es in der deutschen Armee vereinzelte Menschen (Einzelne), die begreifen, dass sie Verbrechen begehen. Jedoch die Hauptmasse der deutschen Soldaten begreift das nicht. Was können wir gegen sie unternehmen? In erster Linie sind das vernichtende Schläge der Roten Armee. Das ist das beste Mittel, um Hitleristen zu überzeugen. Was die Propaganda angeht, sollten wir uns folgenden Fragen zuwenden:
1. Auf die Soldaten mit Angst einwirken, sie mit der Stärke der UdSSR und der antihitlerschen Koalition einschüchtern. […]."(16)

Ähnliche Richtlinien erhielten sowjetische Partisanen. Am 30. August 1942 fand in Moskau eine Besprechung zwischen Pantelejmon Ponomarenko, dem Chef des Zentralstabes der Partisanenbewegung, und Partisanenführern aus den Brjansker Wäldern (bei der Stadt Brjansk, westliches Russland) statt. Ponomarenko erkundigte sich nach deutschen Überläufern. Einer der Partisanenführer erklärte: "Bei mir war ein Deutscher, MG-Schütze, versuchte zu fliehen." Ponomarenko erwiderte darauf:

"Es ist besser, sie [die Deutschen], wie man sagt, für das Jenseits zu verwenden. Die Deutschen sollen zittern, wenn sie nur den Namen Partisan hören. Ich erinnere mich an so einen Fall im Winter bei Wielkoje Luki [im Abschnitt der Kalininer Front(17)]: Eine Gruppe von Deutschen stand zur Erschießung. Einer sprang raus und erklärte: Ich bin Kommunist. Und wann bist du Kommunist geworden?"(18)

Auch an anderen Frontabschnitten machten Rotarmisten eher selten Gefangene, obwohl es keine Hinweise darauf gibt, dass sie auf eine entsprechende Anweisung der sowjetischen Machthaber hin handelten, wie das bei den Partisanen der Fall war.(19) Zumindest in der Anfangsphase des Krieges bemühte sich die sowjetische Militärführung offenbar, solche Exzesse zu unterbinden. Am 14. Juli 1941 erließ das Volkskommissariat für Verteidigung den Befehl Nr.020:

"Rotarmisten und Kommandeure nehmen im Kampf keine Soldaten und Offiziere gefangen. Es sind Fälle vorgekommen, in denen Gefangene erwürgt und erstochen wurden. Ein solches Verhalten gegenüber Gefangenen fügt der Roten Armee politischen Schaden zu; es erbittert die Soldaten der faschistischen Armee, verhindert den Prozess ihrer Zersetzung und bietet dem Offizierskorps der faschistischen Armee einen Vorwand, die Soldaten über die ›Schrecken‹ der Gefangenschaft in der Roten Armee zu belügen und den Widerstand der Soldaten zu stärken."(20)

Solche Befehle befolgten die Truppen jedoch nicht immer, und während des ganzen Krieges kam es regelmäßig zur Tötung von deutschen Kriegsgefangenen. Argunow, ein Offizier der Roten Armee, war im Jahr 1943 an der Wolchower Front (nordwestlicher Frontabschnitt) eingesetzt. Am 22. August 1943 schrieb er einen Brief an Kliment Woroschilow, in welchem er den Verlauf der Kämpfe in seinem Frontabschnitt schilderte. Seine Ausführungen schloss Argunow wie folgt: "Schade nur, dass unsere Truppen überhaupt keine Gefangenen machen."(21)
     Entgegen dem Befehl vom 14. Juli 1941 billigte Stalin - zumindest in der späteren Phase des Krieges - die Erschießung deutscher Kriegsgefangener, ja, er bestand sogar darauf. Während der Konferenz von Teheran (28.11. - 1.12.1943), an der Franklin D. Roosevelt, Winston Churchill und Stalin teilnahmen, fand nach Churchills Schilderung folgendes Gespräch statt:

"Stalin fragte abermals, was mit Deutschland geschehen solle. Ich erwiderte, ich sei nicht gegen die arbeitenden Massen Deutschlands eingestellt, nur gegen die Führer und gegen gefährliche Machenschaften. Stalin antwortete, in den deutschen Divisionen befänden sich viele Werktätige, die unter Befehl fochten. Gefangene aus den arbeitenden Klassen (so heißt es im Protokoll, aber vermutlich meinte er aus der kommunistischen Partei) hätten auf die Frage, weshalb sie für Hitler kämpften, geantwortet, daß sie Befehlen gehorchten. Solche Gefangene lasse er erschießen."(22)

Teil 2