Vorgeblättert

Leseprobe zu Einar Mar Gudmundsson: Vorübergehend nicht erreichbar. Teil 3

04.07.2011.
Kapitel zwei
1



Liebe Eva,

bevor ich hierher ins Südland gebracht wurde, durfte ich zu Hause in der Odinsgata vorbeischauen und mitnehmen, was ich brauchte. Das Wichtigste ist das Foto von dir. Ich nahm das Foto, das du mir geschenkt hast, mit der Widmung Für Einsi 31. Okt. ? Ich liebe dich, mein Schatz ? Darauf strahlst du vor Liebe.
     Ich habe es an der Wand befestigt, ganz akkurat, mit einer Stecknadel in der Korkplatte. Die Wand ist hellgrün, wie du weißt. Nun hängst du an der Wand einer Isolierzelle in Litla-Hraun und davor sitzt ein Häftling und betrachtet dich voller Bewunderung.
     Du bist so schön.
     Ich fand auch ein Foto von Bjössi, aber keins von der kleinen Birna. Das tut mir weh, denn ich liebe euch alle. Ich schaue die Fotos an und lächle durch die Tränen, die mir über die Wangen laufen.
     Inzwischen kann ich auch wieder lesen. Das lenkt ab. "Menschen werden ungenießbar, wenn sie nicht an etwas Schönes glauben." Ich stolperte über diesen Satz. Das sagt in Fußspuren am Himmel die Großmutter, die sich nie unterkriegen lässt.
     Die Großmutter ist eine Frau nach meinem Geschmack, wie du. Nicht, dass ich dich mit Großmüttern vergleiche, aber hoffentlich werden wir irgendwann Großeltern. Ich weiß einfach alte Leute sehr zu schätzen. Sie haben etwas an sich, das mich fasziniert, zweifellos ihre Reife und Erfahrung.
     Ich habe alte Leute immer gemocht. Ich finde sie schön, und das Schöne an ihnen ist ihre Ruhe und ihre Gelassenheit. Man sieht, dass sie genügsam sind und nicht viel brauchen, um sich zu freuen, sie sind frei von Eitelkeit und Bevormundung, ganz anders als diese Schwachköpfe, die heute die Welt regieren, Althippies wie Bill Clinton und David Oddsson.
     , das ist ungerecht. Ich streiche die Namen durch. Ich werde das Beispiel umformulieren.
     Ach, nein, das untersuchen wir später, denn ich spüre dich gerade so gut. Mir ist, als seist du bei mir. Ich hoffe, dass ich dich so schnell wie möglich sehen darf, um dich in den Armen zu halten und die Strömungen, die mentalen Kräfte zu spüren, die in uns wohnen und uns verbinden. Ich will stark sein und nicht aufgeben.
     Ich möchte es dir immer und immer wieder sagen, dass ich dich von ganzem Herzen liebe.
     Bin ich inzwischen gaga?
     Nein, das ist nur die Liebe, die strömt ?

...

Der Bleistift ist stumpf.
     Ich muss ihn spitzen lassen. Das darf ich nicht selbst.
     Hier gibt es eine Klingel. Ich betätige sie, wenn ich Feuer brauche, eine Zigarette, Wasser ? und dann kommt der Wärter.
     Er spitzt den Bleistift, damit ich weiterschreiben kann.
     Vorhin kam die Gefangenenwärterin Solrun und spitzte den Bleistift. Sie ist mir sympathisch. Sie ist aus Eyrarbakki und kannte meine Mutter, die dort lange wohnte. Solrun weiß, wer ich bin. Sie kennt meine Geschwister, oder besser gesagt, Halbgeschwister.
     Jetzt steht sie in der Türöffnung mit dem Spitzer in der Hand und sagt: "Einar Thor, es ist gut, dass du schreibst."
     "Ich weiß nicht so recht", sage ich.
     "Doch, ich kann dich dazu nur ermuntern", sagt sie. "Das ist gut für das Gemüt. Es löst sich so viel, so viel, das tief in dir drinsitzt."
     "Vielleicht", sage ich, "aber ich finde, dass ich immer wieder dasselbe schreibe."
     "Das macht überhaupt nichts", sagt sie. "Ich weiß, wovon ich rede ?"
     Solrun arbeitet seit acht Jahren hier in Litla-Hraun, vorher war sie Grundschullehrerin in Eyrarbakki. Sie hat meine Geschwister unterrichtet, sowohl Fjola als auch Kalli, und hat einen Jungen, der genauso alt ist wie mein Bruder Gunni. Ich habe nur Halbbrüder und auch eine Halbschwester. Mit meinen Brüdern, mit denen ich zusammen aufwuchs, bin ich nicht blutsverwandt, und ich hatte nicht viel Kontakt zu meinen Geschwistern hier im Südland. Ich bin ziemlich durcheinander von alldem, aber sei?s drum. So ist es eben.
     Solrun kam und sprach mit mir über meine Mutter, und ich merke, dass ich immer noch um sie trauere, obwohl es ein gutes Jahr her ist, seit sie aus dem Leben ging. Als sie starb, war ich so zugedröhnt, so abgestumpft, dass ich keine Trauer spürte, nur ein neutrales Summen im Kopf und Tränen, die nicht fließen wollten.
     Sigrun, meine Mutter, wurde in Hveragerdi geboren und betrachtete dies als ihren Heimatort, wohnte aber dreißig Jahre mit ihrem Mann Thorsteinn in Eyrarbakki. Sie lernten sich kennen, kurz nachdem sie mich weggegeben hatte. Ich befinde mich deshalb quasi in heimatlichen Gefilden und kann Eyrarbakki sehen, wenn ich Luft schnappen darf.
     Meine Mutter und Thorsteinn bekamen drei Kinder, Fjola, Karl und Gunnar. Sie ließen sich 1999 scheiden. Dann zog meine Mutter wieder nach Hveragerdi, in die Wohnung, in der es ihr nach vielen Versuchen gelang, das zu tun, was sie am Ende tat.


2

Ich habe beschlossen, mich kooperationsbereit zu zeigen.
     Ich bin schuldig. Ich werde alles gestehen. Ich hoffe, dadurch mein Urteil zu mildern, mit dem ich mich dann aber auch abfinden werde. Ich zanke mich nicht mit dem Richter, aber Zusammenarbeit kann helfen. Die Polizei weiß das alles. Sie wartet im Prinzip nur darauf, dass ich die Informationen bestätige, die sie bereits hat. Ich mache also niemandem größere Probleme, als er bereits hat, und Kriminalkommissar Stefan hat mir hoch und heilig versprochen, dass Zusammenarbeit die Strafe verkürzen werde.
     Vielleicht ist er einfach ein Mann der Zusammenarbeit, womöglich Mitglied bei den Liberalen, aber ich vertraue ihm trotzdem. Ich will damit nicht sagen, dass ich irgendwie politisch sei, das bin ich nicht. Trotzdem knüpfe ich Hoffnungen an Stefan. Er ist verlässlich. Er ist ein Onkel von Raggi. Du erinnerst dich an Raggi. Er ist ein feiner Kerl.

...

Meine Mutter starb im selben Jahr wie die Mutter von Einar Thor, nur etwas später. Meine Mutter wurde nicht alt, aber immerhin zwanzig Jahre älter als die Mutter von Einar Thor. Ich war darauf vorbereitet, weil sie so krank gewesen war. Im Herbst 1997 stürzte sie in einem Stadtbus, brach sich den Fuß, und danach schien ihr Immunsystem aufzugeben. Sie bekam eine Krankheit nach der anderen und in ihrem letzten Jahr ging es ihr besonders schlecht.
     Während meine Mutter mit dem Tod kämpfte, kämpfte ich mit Bacchus. Ich trank viel und ertränkte alles im Alkohol, Trauer und andere Gefühle. Aber damals sah ich das nicht.
     Ich trank, weil es mir so gut ging oder weil es mir so schlecht ging, wenn gutes Wetter war und wenn schlechtes Wetter war, wie man so sagt. Stets hieß die Antwort Alkohol, und diese Antwort brachte keine Gefühle hervor, sondern betäubte sie. An ihre Stelle trat eine oberflächliche Empfindsamkeit, Selbstmitleid.
     Ich erinnere mich, dass ich im Ausland war und einfach losheulte. Ich war bei meinem Freund Henrik an den Seen in Kopenhagen. Nein, ich will präziser sein. In Pebblinge Dossering, im Hotel Pebblinge, wie wir seine Wohnung nennen, wenn ich mich dort aufhalte. Henrik und ich kennen uns seit meiner Zeit in Kopenhagen. Wir haben oft die Seen bewundert, wie sich die Häuser in ihnen spiegeln, prächtig wie im Märchen, und der Himmel und die Lichter.
     Meine Mutter war tot, und plötzlich brach ich zusammen. Die Tränen flossen in Strömen. Mein Freund tröstete mich. Ich versuchte zu schlafen. Ich konnte nicht und trank einfach weiter. Dann schlief ich ein. Als ich aufwachte, fühlte ich mich erleichtert, begann mich aber sofort zu fragen, wie ich wohl gewesen sei.
     Henrik fand nichts dabei. Ich war in Trauer. Er hatte ebenfalls seine Mutter verloren, und die Trauer musste ihren Lauf nehmen. Er erklärte mir allerdings, dass ich sowohl mich als auch andere täuschte, indem ich so reagierte, wie ich reagierte.
     Mit Trinken. Indem ich bis zum Abwinken trank. Ich biss die Zähne zusammen und stand alles durch, Lesungen, Interviews. Ich gab Zeitungsinterviews und ein Fernsehinterview und kam bei allem irgendwie ungeschoren davon. Ich kriegte immer gerade so die Kurve.
     "Mit diesem Verhalten trauerst du nicht um deine Mutter", sagte Henrik. "Du bemitleidest nur dich selbst. Du denkst nur an dich."
     Natürlich schüttelte ich den Kopf, zuckte mit den Schultern, redete mich heraus. Wie konnte er es wagen, so mit mir zu sprechen? War er nicht mein Freund? Bacchus trat auf den Plan mit seiner Geschütztruppe, den allerbesten Verteidigern der Welt, und dann begann die Rede und übrig blieb ich, der vermeintliche Sieger.
     Unterschwellig jedoch wusste ich, dass etwas falsch war. Henrik hatte recht. Henrik war ein guter Freund, gerade weil er mir die Wahrheit sagte, aber ich wollte die Wahrheit nicht hören, weil die Lüge meine Lebensphilosophie war. Deshalb bekam Henrik etwas zu hören. Wie konnte er mich derart angreifen, gerade wenn es mir so schlecht ging?
     Später verstand ich das alles besser, als ich in der Entziehungsklinik Vogur saß, im roten Morgenmantel, zusammen mit den Jugendlichen und all den anderen, Männern und Frauen, dieser wunderbaren Flora an Leuten, die nur sich selbst spielen müssen, damit Gott angesichts seines Meisterwerkes mit dem Kopf nickt und sogar Fellini einlädt, sich das anzuschauen.
     In diesem Werk spielte ich manchmal mich selbst, manchmal einen anderen, wie das eben so ist, und dort erinnerte ich mich auf einmal an den Albtraum, den ich bei Henrik am Pebblinge-See erlebt hatte. Ich lag auf einer Matratze auf dem Wohnzimmerfußboden und hatte den Eindruck, dass mich irgendwelche kleinen Männchen, Elfen oder Zwergen ähnlich, schlugen und prügelten. Ich wusste nicht, ob ich träumte oder wachte, aber wie auch immer, der Traum war Wirklichkeit und die Wirklichkeit ein Albtraum.
     Ein Arzt namens Einar hielt einen Vortrag. Noch ein Einar. Er sprach über Halluzinationen, Delirium tremens und anderes, und während er den Vortrag hielt, machte ich mir Notizen und entwarf das Gedicht "Trugbilder", das in dem Gedichtband Ich nahm die Abkürzung am Tod vorbei erschienen ist.


Nein, leider?

Noch habe ich keine grüne Kuh gesehen,
die oben auf dem Spiegel sitzt
und Harmonika spielt,
oder einen Zwerg,
der auf der Mülltonne steht
und ins Handy spricht.

Ich erinnere mich nur an
langnasige Grobiane,
eine Art Elfen,
die mich im Traum verdroschen.

Als ich aufwachte,
war ich grün und blau geprügelt,
ich wusste nicht, wo ich war,
aber lag auf dem Fußboden in einem anderen Haus
in einer anderen Stadt in einem anderen Land.

*


Mit freundlicher Genehmigung des Carl Hanser Verlages
(Copyright Carl Hanser Verlag)


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