Vorgeblättert

Leseprobe zu Georg Klein: Die Zukunft des Mars. Teil 2

22.08.2013.
Umann hatte sogar damit begonnen, Eurorubel für die Anschaffung eines eigenen Lichtradios beiseitezulegen. In der letzten der beiden abendlichen Stromstunden wurde über die Leitungen auch ein Radioprogramm übertragen. Beim feierlichen Abschluss der Versorgungsvereinbarung erhielt der jeweilige Friedensrichter ein Gratis-Empfangsgerät und verpflichtete sich im Gegenzug, einen allgemein zugänglichen Lichtradio-Saal einzurichten. In Umanns Straße war ein ehemaliger Supermarkt mit Stühlen, Sesseln und alten Sofas bestückt worden. Abend für Abend war dieser Radiosaal bis in den letzten Winkel voll. Die ersten Takte jedes einzelnen Musikstücks gingen in Beifall unter, in einem rhythmischen Klatschen, das der Applaus am Ende der Nummer dann noch an Stärke und Länge übertraf. Und die Stimme des Don, der alle Titel ansagte und meist auch den Interpreten zu nennen wusste, ließ nach dem Verklingen der Lieder eine kluge kleine Pause, um diesen Ausbrüchen der Freude gebührend Raum zu schaffen.
Wie den meisten Älteren stießen Umann, lachend und klatschend, irgendwann unweigerlich die Tränen in die Augen, bei irgendeinem türkischen Schlager, einer indischen Filmmelodie oder einer ukrainischen Volksweise, also meist während eines Musikstücks, mit dem er nicht den Schimmer einer Erinnerung verband. Für den Rest sorgten die Weltnachrichten, die der Don stets ganz zuletzt, unmittelbar vor dem flackernden Verlöschen der Saalleuchtröhren einsprach. Nicht wenige, die der Guten Alten Zeit, verantwortlich handelnd, ihren Lauf scheinbar gestaltend, teilhaftig gewesen waren, begannen dann zu schluchzen, und die wieder reichlich vorhandenen kleinen Kinder, die deutlich geringere Schar der Halbwüchsigen und die wenigen Frauen und Männer, die während des Ewigen Winters gezeugt worden waren, staunten mit offenem Mund über beides: über die feierlich beschworene Existenz der beiden Amerika, der japanischen Inseln, des afrikanischen, des noch märchenhafteren australischen Kontinents und über die hemmungslosen Klagelaute ihrer sonst eher zu Verschlossenheit neigenden alten Nachbarn.

Die Glocken schlugen Mitternacht, und der Don fasste den Entschluss, sich nicht weiter zu ärgern. An Schlaf war allerdings, wie so oft, nicht zu denken. Also rief er noch einmal Juri herein, dankte ihm für die gute Arbeit, trank sogar ein Gläschen Alt-Wodka mit ihm und schickte ihn für den Rest der Nacht ins Bett. Juri hatte sich heute erneut mehr als nur Lob verdient, und der Don erwog, ob nicht endlich die Zeit für die Einführung einer festen Auszeichnung, für einen Dreifaltigkeitsstern oder ein Dreifaltigkeitskreuz, gestuft in Eisen, Silber und Gold, gekommen sei. Noch vor einem Jahr wäre eine Funkkonferenz mit den beiden anderen Machthabern der Stadt, mit den zwei anderen Gnädigen Brüdern, wie sie sich seit dem letzten Friedensschluss nannten, unvorstellbar gewesen. Neunzig Minuten lang hatten Ton und Bild nahezu keine Störung aufgewiesen. Wahrscheinlich wäre das Verbindungsdreieck, das ihrem Bruderbund erstmals einen gemeinsamen medialen Raum eröffnete, sogar zwei volle Stunden lang stabil geblieben.
Das Gespräch war außerordentlich gelassen, fast beschaulich vonstatten gegangen. Aber der Don hatte bald einsehen müssen, dass es zurzeit nicht möglich war, ein Einvernehmen über die gleichzeitige Wiederaufnahme der Versorgung mit Gas zu erzielen. Dabei waren seine Leute technisch so weit. Die Schäden an der Anlage im alten Flusshafen hatte man vollständig behoben, die verbesserten Schlamm- und Fäkalienaufbereitungskessel lieferten zudem ein deutlich energieträchtigeres Faulgas als zuvor. Achtzig Prozent Methan! Außerdem hatten alle drei Parteien das gaslose Jahr dazu genutzt, Lecks in den zuletzt betriebenen Leitungsabschnitten zu schließen. Eine satte Stunde akzeptablen Gasdrucks um die Mittagszeit oder am Abend ließ sich garantieren. Kochgas für mehr als dreißig Straßen der alten Stadtmitte, deren Territorium sie sich, zumindest in den letzten beiden Jahren, annähernd brüderlich geteilt hatten.
Der Don hatte offeriert, zunächst die Hälfte, binnen Jahresfrist sogar zwei Drittel seiner Produktion in die Rohre der beiden anderen Paten fließen zu lassen. Aber über Art und Umfang der Gegengabe ließ sich momentan keine Einigung erzielen. Der Eurorubel leistete gute Dienste im städtischen Güterverkehr. Die einstmals in der längst Legende gewordenen Schweiz gedruckten Scheine waren unverwüstlich und galten weiterhin als fälschungssicher. Auch auf den Wasserwegen Richtung Ostsee und im Fernstraßenhandel bis an die Wolga, also bis an die chinesische Grenze, wurde das Papiergeld in allen Freigebieten und Protektoraten für kleinere Transaktionen bereitwillig akzeptiert. Aber seit der verheerenden Anschlagserie an den Weihnachtstagen des zurückliegenden Jahres erlosch das Vertrauen in dieses letzte Zahlungsmittel der Guten Alten Zeit bereits ab einer mittleren Geschäftsgröße wie eine ausgepustete Kerze.
Gegen dergleichen Unvernunft, gegen die leidige Mixtur aus Furcht, Misstrauen und Dummheit, war vorerst kein Kraut gewachsen. Gas im Austausch für Petroleum und Kohle, Gas gegen hochreinen Mikroschrott, gegen Bruchkupfer, Gold- oder Platinkrümel, monatlich verrechnet, hatte daher der Vorschlag des Don gelautet. Aber der Weiße Khan und der Alte Ogo waren, Bruderbund hin, Bruderbund her, nicht bereit gewesen, einem festen Tauschverhältnis zuzustimmen. Die Kleinköpfe, von denen die Biogasanlage außer Betrieb gesetzt worden war, hatte ihr einzig bekanntes Ziel, die Zerstörung jedes größeren Kontrollzusammenhangs, zumindest in diesem Fall bis auf Weiteres erreicht.
Für heute, für den bereits winterlich finster angebrochenen neuen Tag, hieß es das Gute, das die Gemeinschaft Fördernde, im Kleinen suchen. Also ließ er sich den Tamilen, der sie auf Umanns Spur gebracht hatte, noch einmal aus dem Keller nach oben bringen. Dem Kerl ging es inzwischen schon sichtlich besser. Nachdem er endlich in der erwünschten Ausführlichkeit das Lied der Guten Alten Zeit gesungen hatte, waren seine Platzwunden von der alten Hu ärztlich versorgt worden. Und die neue Zelle, in die er zur Belohnung und Erholung verbracht worden war, verfügte über Pritsche, Wolldecke, Eimer und sogar über einen Schalter zum An- und Ausknipsen des Lichts. Der Don war sich ziemlich sicher, dass der Gefangene nichts mehr mit Absicht verschwieg. Aber leider war er dereinst nur kurz in Umanns Team gewesen, gerade mal ein halbes Jahr.
Den angebotenen Schnaps stürzte der Hereingeführte gehorsam über die dick geschwollene Unterlippe, und der Aufforderung des Don, noch einmal frisch von der Leber über die fraglichen sechs Monate zu berichten, kam er ebenso brav nach. Der junge Umann schien ein guter Chef gewesen zu sein. Ähnlich wie es auch der Don, was sein Wirken anging, für angemessen hielt, hatte Umann seine Untergebenen nicht mit Launen oder anderen Ausbrüchen seiner Innenwelt belästigt. Just diese einstige Dezenz war womöglich der Grund dafür, dass der Tamile keine brauchbare Beschreibung von Umanns Gesicht liefern konnte. Dabei hatte er seinen einstigen Teamleiter erst vor einer Woche auf der Pritsche eines vorbeirollenden LKW s sitzen sehen, hatte ihn trotz seiner grau gewordenen, im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenen Haare wiedererkannt und dann bei den Händlern in der Nachbarschaft nach ihm gefragt. Aber anstatt einen hilfreichen Hinweis auf den Aufenthaltsort seines früheren Chefs zu bekommen, hatte er nur einen Spitzel, eine besonders aufmerksame und verlässliche Informantin, hellhörig gemacht, auf deren Liste Umanns Name seit kurzem stand.
Der Don schenkte nach. Vielleicht spülte die Trunkenheit nach oben, was Angst und Schmerz nicht ins Licht des Erinnerns gehoben hatten. Der Tamile erzählte noch einmal, wie die Stadt seiner Jünglingsjahre durch schieren Zahlenzauber, allein durch die offizielle Bekanntgabe der von den Behörden allzu lange unterdrückten Anzahl der Seuchentoten, binnen eines Wochenendes in ein Tollhaus verwandelt worden war. Sein Auto war während der nächtlichen Ausschreitungen in Brand gesteckt worden, und so hatte er früh am Morgen versucht, mit einem überfüllten Zug Richtung Süden zu entkommen. Aber schon auf den ersten Kilometern in freier Landschaft rammte dessen Triebkopf einen als Barrikade auf die Schienen gestellten landwirtschaftlichen Anhänger. Mit Knüppeln bewaffnete junge Männer stürmten die Waggons, kletterten über die am Boden kauernden Flüchtlinge und ihr herabgeschleudertes Gepäck und suchten nach denen, die sie, als wäre eine Parole ausgegeben worden, brüllend und um sich schlagend, nur «die Zappelneger» nannten.
Der Tamile hatte erst am Abend zuvor aus dem Fernsehen erfahren, dass das Gerücht Oberhand gewann, die Seuche sei auf dem Luftweg aus Afrika eingeschleppt worden, und Schwarzhäutige seien die ursprünglichen Träger des Erregers. Beides hatte der Senator für Familie und Gesundheit auf derselben Pressekonferenz, auf der auch die Todesrate erstmals öffentlich gemacht worden war, mit schweißnass glitzerndem Gesicht als absolut haltlosen Unfug zurückgewiesen. Die Krankheit beschränke sich bislang auf Europa, nirgendwo sonst auf dem Globus sei ein weiterer Seuchenherd bekannt. Ursprung wie Ursache harrten noch einer wissenschaftlichen Klärung.
Ihm sei damals, quer über ein frühsommerliches Feld durch kniehohen Weizen flüchtend, den entgleisten Zug und das Schreien der Verletzten und Geprügelten hinter sich, keuchend und stolpernd, zumindest zweierlei so klar wie der herrliche Vormittagshimmel gewesen: Die Dunkelheit seines Gesichts, auch das Aschgrau der Todesangst, würde unter den gegebenen Umständen genügen, ihn zu einem der erlösend verhassten Zappelneger zu machen. Und dazu habe er begriffen: Falls es die Chance eines rettenden Untertauchens gab, dann nicht auf dem sogenannten freien Land, sondern dort hinten in der eben erst verlassenen Stadt, in der er sich von klein auf heimisch hatte fühlen dürfen.
Der Don ermunterte den Verstummten mit einer Handbewegung zum Weitererzählen und überlegte, ob er selbst jemals einen leibhaftigen Schwarzen, einen Neger mit Haut und Haar, gesehen hatte. Er war sich nicht sicher. Vermutlich hatte ihm bloß der eine oder andere Film, den er als Bübchen mit seinen Brüdern auf einem von letztem Netzstrom genährten Bildschirm bestaunt hatte, ein Bild dieser ausnahmslos Verschwundenen vermittelt. Die Behauptung, Afrikaner hätten die Seuche in die Hauptstädte Europas gebracht, hielt sich bis auf den heutigen Tag, war wohl inzwischen zu einer Art Wahrheit geworden. Zumindest hatten sich die gebildeten Älteren, die es wie der Don und seine Ärztin besser wussten, längst angewöhnt, diesem eingefleischten Stück Volksglauben nicht mehr zu widersprechen.
Dem Tamilen, den der Wodka zunehmend schwerzüngig machte, kam es allerdings noch einmal auf die andere, für ihn weiterhin einzig gültige Erklärung der Seuche an. Ihr Team sei es nämlich gewesen, das auf deren wirkliche Ursache gestoßen sei. Der Hinweis habe sich in dem Inferno aus Botschaften gefunden, mit dem die Vorläufer der heutigen Kleinköpfe damals ihn und seine Kollegen, ihre hochgerüsteten Verfolger, zu beschäftigen wussten. Umann, dem im Zweifelsfall, im kalten Abwägen von konkurrierenden Gründen, vielleicht bis heute keiner das Wasser reichen könne, habe den Finger auf den virulenten Fleck gelegt. Keiner von ihnen wäre damals auf die Idee gekommen, dass ausgerechnet das strikte Verbot, frisches Brot zu essen, die allerneueste der zahlreichen diätetischen Forderungen der Terroristen, etwas Besonderes zu bedeuten haben könnte. «Unser Langer hat das dritte Auge für so was!», lallte der Tamile, pochte sich hierzu nachdrücklich auf die frisch verpflasterte Stirn und hielt dem, dessen Männer ihm erst vor wenigen Stunden wahrlich übel mitgespielt hatten, mit der alle Vorsicht, alle schlechten Erfahrungen überspringenden Zutraulichkeit des gegenwartsseligen Betrunkenen das leere Glas zum Nachfüllen hin.
Während er noch einmal großzügig eingoss, nahm der Don mit der Linken den Zettel, den der Hauptmann der Nachtwache hereingebracht hatte. Ein Blick genügte. Wie schön, wie selbsttätig sich die Dinge manchmal fügten, wenn man nur an die Zukunft glaubte und ihr durch beharrliches Fortarbeiten die allerdings unumgänglich nötige Reverenz erwies. Da kam ihm nun, noch in derselben Nacht, in der er am Gas gescheitert war, dessen Schwester, die Kohle, zu Hilfe. Hatten die Schornsteinfeger in der Guten Alten Zeit nicht, zumindest hierzulande, als Glücksbringer gegolten? Die wenigen, die sich noch umfassend fachmännisch auf dieses Handwerk verstanden, waren längst zu heiß begehrten Spezialisten geworden.
Die gute Nachricht, dieser Wink im rechten Augenblick, verlangte nach einer Gegengabe. Wer einen fetten Brocken Schicksalsgunst in den Schoß geworfen bekam, war umgehend zu wohltätigem Handeln verpflichtet, daran glaubte der Don seit langem. Also fasste er den Entschluss, möglichst bald, vielleicht schon in der Woche nach Weihnachten, aber spätestens Ende Januar alle, die in seinem Herrschaftsgebiet auf den Dächern tätig waren, zusammenrufen zu lassen. Er wollte sich um den Fortbestand dieser ehrwürdigen Handwerkskunst, um die Weitergabe der Kenntnisse an Jüngere kümmern. Schlimm genug, dass die Veteranen, alte Männer, von der Vielzahl der Aufträge überlastet, noch bei Einbruch der Nacht allein auf vereisten Ziegeln um schneegekrönte Kamine krochen und sich dabei, wie am zurückliegenden Abend geschehen, vom Auftauchen einer auffällig hochgewachsenen Gestalt im Fenster einer bislang leer gewesenen Dachwohnung gefährlich ablenken lassen mussten.

zu Teil 3
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