Vorgeblättert

Leseprobe zu Georg Klein: Die Zukunft des Mars. Teil 3

22.08.2013.
IM ADVENT: VIER

Elussa hatte sich ihren mechanischen Wecker gestellt, um das morgendliche Lichtgeschenk des Don und die stille Stunde vor dem gemeinsamen Frühstück zur Unterrichtsvorbereitung zu nutzen. Aufgeschlagen bedeckten die drei großformatigen Bände des technischen Wörterbuchs fast den gesamten Küchentisch. Sie hatte die schwarzen Wälzer bei Spirthoffer entdeckt, in dessen Ladenregalen sich allerlei Fachliteratur zwischen die mehr oder minder reparaturbedürftigen Geräte zwängte. Auch Enzyklopädisches stand da in Reih und Glied, als wäre Spirthoffers Werkstatt seine letzte Heimstatt, als hätten einstige Generalstäbler bei ihrem Fußvolk, bei ihren invaliden oder noch rüstigen alten Infanteristen, Unterschlupf gesucht und gefunden.
     Ihren Schüler zu fragen, ob er ihr die Bücher leihen würde, war ihr gestern nicht leicht gefallen. Sie genierte sich für die Blöße, die sie sich als Lehrerin mit dieser Bitte zweifellos gab. Aber es half nichts, ihr technologischer Wortschatz reichte einfach nicht hin, um Spirthoffers Konversations- und Lektürewünschen gerecht zu werden. Wahrscheinlich hatte er ihre Verlegenheit gespürt, vielleicht sogar bemerkt, dass ihr das Blut ins Gesicht stieg, bevor sie sich schnell wieder ganz zum Regal hindrehte. Zumindest schlug er einen launig-lustigen Ton an und begann nach einer holprigen Überleitung damit, eine Geschichte aus der Anfangszeit seines Elektronischen Hospitals zu erzählen.
     Wer sein Herz den in Mitleidenschaft gezogenen Maschinen schenke, bekomme unweigerlich näher, ja nahezu intim mit den Menschen zu tun, die sich ihrerseits, mehr oder minder innig, mit den fraglichen Geräten eingelassen hätten. Gleich in den ersten Geschäftstagen seien zwei hübsche junge Frauen mit einem raren Relikt, einem großen Modell-Helikopter, bei ihm erschienen. Fast armlang seien dessen Rotorblätter gewesen. Vermutlich ein Einzelstück, das Werk eines begabten Tüftlers, der irgendwann in der Guten Alten Zeit einige hundert, womöglich über tausend Bastelstunden darauf verwendet hatte, ein Artefakt der nun untergegangenen amerikanischen Kultur, einen einst legendären Kampfhubschrauber detailgetreu und maßstabsgerecht nachzubilden. Das Fluggerät schien rundum intakt, und sein Einzylinder-Motörchen sprang, nachdem er den Tank mit Alkohol befüllt hatte, ohne Verzug an. Selbst auf niedrigster Drehzahl war der Luftdruck des Rotors so stark, dass es seinen Kundinnen die langen Haare von den Schultern wehte. Die beiden erklärten ihm, sie wollten das auf dem Markt Für Alles entdeckte Spielzeug einem technikbegeisterten Buben, ihrem Neffen, zum zehnten Geburtstag schenken. Leider sei die Fernsteuerung verlorengegangen. Ob er dergleichen beschaffen oder bauen könne?
     Dass die Frauen, ohne zu verhandeln, die verlangten fünfzig Eurorubel Anzahlung auf die Ladentheke blätterten und eine Flasche hochwertigen Alt-Whiskey als zusätzliche Ermunterung daneben stellten, sei ihm damals in Anbetracht des voraussichtlichen Zeitaufwands durchaus angemessen erschienen. Außerdem neigten alte Knaben wie er gegenüber jungen Vertreterinnen des anderen Geschlechts zu leichtsinniger Gutgläubigkeit. Noch am gleichen Tag habe er sich an die Arbeit gemacht, und von der Freude, die ihm die gar nicht so anspruchslose Aufgabe bereitete, wurde vollends verhindert, dass er sich Gedanken über seine Kundinnen und über mögliche Hintergründe ihres Auftrags machte.
     Spirthoffer war mit dem ersten Satz seiner Erzählung ins Deutsche gefallen, und, einen Band des technischen Wörterbuchs gegen die Brust gedrückt, wurde Elussa schnell klar, dass sie bereits die bis jetzt nur oberflächliche Beschreibung des Hubschraubers aus dem Stegreif nicht lückenlos ins Russische hätte übertragen können. Zum Glück verzichtete ihr Schüler darauf, zu schildern, wie er im Weiteren an seinem Werktisch verfahren war, und steuerte stattdessen entschieden auf den Wendepunkt seiner Geschichte zu. Durch just dieses Spielzeug habe er den Don persönlich kennenlernen dürfen. Denn anstelle der beiden angeblichen Tanten, die einen ebenso zweifelhaften Neffen beschenken wollten, sei schon zwei Tage später in der ersten Morgendämmerung ein Kommando von Don Dorokins Männern in seine Ladenwohnung eingedrungen. Schußsichere Westen und Helme mit Visieren hätten die ausgesucht hochgewachsenen Kerle getragen, und allein schon daran, wie er von ihren Knien auf den Dielen dieses Raumes fixiert worden sei, habe unmissverständlich gezeigt, dass man ihn, ungeachtet seines Alters, für einen eminent gefährlichen Burschen hielt.
     «Und dann?», hatte Elussa auf Russisch gefragt. Und ebenfalls in ihre Unterrichtssprache wechselnd, erzählte Spirthoffer langsam, aber verblüffend flüssig und nahezu fehlerfrei, wie er in der Dreifaltigkeitskirche von Don Dorokin höchstpersönlich vernommen worden war. Auf Deutsch, Russisch und Amerikanisch hätten ihm der Don und dessen rechte Hand in Sachen Elektronik, ein außerordentlich tüchtiger Ukrainer, zugesetzt. Und schließlich habe ihn auch noch die alte chinesische Ärztin des Don, von der er bereits vor dem Verhör gründlich medizinisch untersucht worden war, mit Fragen in ihrer Muttersprache, die er nur leidlich verstehe, und dazu mit jähen Kniffen in den Nacken und einem außerordentlich unangenehmen Verdrehen der Ohrmuscheln traktiert.
     Rückblickend könne er dem Don die rüde Einvernahme allerdings nicht übelnehmen. Schließlich sei er damals begründet in Verdacht geraten. Ob Elussa wisse, wie die Kleinköpfe bald darauf die Gasanlage am Flusshafen, eines der rühmenswerten gemeinnützigen Projekte des Don, in die Luft gejagt hatten? Von einem ferngesteuerten Mini-Helikopter, vielleicht baugleich mit dem, den er, nichts Schlimmes ahnend, in seiner Werkstatt beherbergt hatte, sei der Sprengstoff an die Faulgaskessel getragen worden. Die Wachmannschaft hatte vergeblich auf das in hohem Bogen heranknatternde Spielzeug gefeuert. Noch heute schöbe er gerne seinerseits fünfzig Eurorubel und eine Flasche Altalkohol über jeden denkbaren Tisch, um zu erfahren, von wem damals, an seiner Stelle, die für das Attentat unumgänglich nötige Fernsteuerung zusammengelötet worden war.
     Als der Morgen in Elussas Küche graute, als die Leuchtbirne über dem Tisch mit einem zirpenden, täuschend grillenhaften Geräusch erloschen war und Alide ihre in Reinwasser aufgekochte, mit Zimt und Rübensirup abgeschmeckte Hafergrütze kaute, studierte Elussa noch einmal die Vokabeln, die sie sich für den heutigen Unterricht herausgeschrieben hatte. Ihr Töchterchen schielte aufs Blatt, und im Nu kreiste das morgendliche Gespräch um das, was von den Menschen je hinauf ins Reich der Vögel, in das Blau über den Wolken und schließlich sogar in die Schwärze des Weltraums geschickt worden war.
     Alide hatte ein einziges Mal, sie erinnerte sich nun mit rührend ausführlichen Worten, zwei sibirischen Buben beim Drachensteigen zugesehen. Elussa war nicht dabei gewesen, aber sogleich sah auch sie mühelos vor dem inneren Auge, was ihr Töchterchen damals, in jenem goldenen Herbst, für den ihre alten Heimat berühmt war, beobachtet hatte: Der rote Fleck zuckte und ruckte so märchenhaft hoch am Himmel, dass die seltsam bauchig durchhängende Schnur, die ihn mit der Faust des Jungen verband, auf dem letzten Stück hinauf zum erdgewandten Eck des Drachen auch mit innigstem Hingucken nicht mehr als Strich erkannt werden konnte.
     Gar völlig unsichtbar war derjenige Flugkörper gewesen, den Alide als nächstes Exempel herauf beschwor. Sein Anflug hatte Mutter und Tochter im nächtlichen Zug, während der letzten der fünf Fahrtnächte, kurz vor ihrer Ankunft in der Stadt, aus dem Schlaf gerissen. Wenn ihnen, kaum waren sie hochgeschreckt, ein freundlicher alter Mitreisender nicht sogleich erklärt hätte, wovon nicht bloß ihr Waggon, sondern gewiss der ganze Zug mit jäh anschwellendem Dröhnen durchgerüttelt worden war, hätte Elussa womöglich geglaubt, mit diesem gewaltigen Vibrieren breche ein Erdbeben los, um auch dem Freigebiet Germania und damit dem Herzen Alteuropas dasjenige anzutun, was dereinst den Hochmut der Amerikaner gebrochen und dem Rest der Welt den berühmten Ewigen Winter beschert hatte.
     Schneeweiß vor Angst war das Gesicht Alides damals im flackernden Licht des Abteils gewesen, nun aber beklagte sie sich lauthals darüber, dass sie das bislang einzige Flugzeug ihres Lebens zwar gehört und auch heftig gefühlt, aber kein bisschen gesehen habe. Sie fragte ihre Mutter nach dessen Gestalt, und Elussa musste beschämt begreifen, dass es ihr schwer fiel, sich einen jener Kampfjets, von denen gewiss auch in der Nähe der Stadt noch einige in verkommenen Hangars auf platt gewordenen Reifen standen, so deutlich vorzustellen, wie es eine gute Beschreibung verlangt hätte. Ja, sie war sich nicht einmal sicher, ob sie je einem leibhaftigen Düsenjäger auf seinem Weg durch die Wolken nachgeguckt hatte oder ob das vage bleibende Bild nur den Erzählungen älterer Verwandter entsprang. Und nach einigen ungeschickten Sätzen, in denen sie sich in den Gestaltvergleich mit Libellen, Wespen und Stubenfliegen geflüchtet hatte, versprach sie ihrer Tochter, Spirthoffer zu fragen, ob er ein Buch habe, in dem jene Flugzeugvielfalt, die in seinen jüngeren Jahren den Himmel bevölkert hatte, zumindest eine Auswahl der einstigen Artenfülle, abgebildet war.

Die Explosion hatte Umann aus einem honiggelben, fast goldfarben warmen Traum, aus einem ins allerschönste Licht der Guten Alten Zeit getauchten Geschehen gerissen. Und obwohl er von den Nachwirkungen des Kräuterschnapses schlimm benommen war, hatte sein aufflackerndes Bewusstsein den merkwürdig dumpfen Knall sofort richtig gedeutet: Die Tür aus Semperlaminat war aufgesprengt worden, fachmännisch, mit einer auf dem Schloss platzierten, nicht allzu starken, eben hierfür ausreichenden Haftladung. Und während er, ins Finstere gaffend, das Wort «fachmännisch» dachte, verstand sein brummender Schädel, dass es nun absolut unfachmännisch, womöglich sogar todbringend dilettantisch wäre, nach der Lederjacke zu tasten, in deren Innentasche seine Pistole steckte. Stattdessen riss er beide Arme empor, begann, heißen Staub inhalierend, übertrieben laut und möglichst elend zu husten, und wurde fast im selben Moment von einem starken Punktstrahler erfasst.
     Draußen war es dann schon ein wenig hell gewesen. Und durch die getönten Scheibe des Don-Cars konnte er, an Händen und Füßen gefesselt, noch beobachten, wie die Männer des Kommandos aus dem Haus trugen, was sie für mitnehmenswert erachteten: seine Siebensachen, sogar die beiden Kanister Reinwasser, die Bücher und die Broschüren, die auf dem Tisch gelegen hatten, und, wie nicht anders zu erwarten, sämtliche Flaschen der Hausbar. Erst als der Dieselmotor ansprang, der löchrige Auspuff bollerte und das Gebläse warme Luft ins Fahrzeuginnere wogen ließ, zog ihm einer seiner Bewacher eine dicht gewebte Wollmütze über Augen, Nase und Mund.
     Den großen Don hatte Umann in den Jahren von dessen Herrschaft, in der Dorokin-Zeit, wie man längst ganz selbstverständlich zu sagen pflegte, nie vor Augen bekommen. Aber die alte Frau, die von seinen Nachbarn die Brotfrau genannt wurde, weil sie zweimal die Woche von Tür zu Tür ging, um selbstgebackenes, wunderbar haltbares Schwarzbrot zu verkaufen, hatte ihm im Sommer, als sie über Mehl und Hefe, Gott und die Welt ins Gespräch gekommen waren, von ihrer persönlichen Begegnung mit Don Dorokin berichtet. Drei üble Brüder aus dem Nachbarhaus, die beiden jüngsten noch halbe Kinder, hatten ihr letzten Winter, nachdem sie ihnen die Zahlung einer Summe, die sie frech Schutzgeld nannten, verweigert hatte, nicht nur den vollen Korb, mit dem sie eben zu ihren Kunden auf brechen wollte, sondern, um sie vollends einzuschüchtern, auch die neuen Winterstiefel abgenommen. In ihren alten löchrigen Schuhen, die zum Glück noch nicht im Ofen gelandet waren, hatte sie daraufhin den ganzen Tag in der Warteschlange der Bittsteller vor der Dreifaltigkeitskirche gestanden und war als eine der Letzten in den verdunkelten Audienzsaal vorgelassen worden.
     Dort befinde sich ein Hocker, sehr niedrig, aber durch ein strammes Kissen gut gepolstert. Und kaum dass ein Wachmann sie auf dieses gedrückt hatte, war auch schon ein Bild aufgeflammt - breiter als eine quergestellte Tür! - in einer Farbpracht und Schärfe, wie sie allenfalls die schönsten Erinnerungen an die Fernsehstunden der Guten Alten Zeit erreichten. In diesem leuchtenden Rechteck saß ihr der Don leibhaftig gegenüber. Und inzwischen habe ihr eine andere Frau erzählt, dass er auch bei ihrem Vorstelligwerden so dagesessen sei, dass er also wahrscheinlich stets genau so, mitten im Bild sitzend, die Rat- und Hilfesuchenden seines Reichs empfange.
     Don Dorokin nehme die linke Hälfte eines kleinen Sofas ein, dessen Bezug große Sonnenblumenblüten zeige, er trage, die Beine lässig übereinander geschlagen, eine schlichte erdbraune Uniform und jenes schmucke Barett, mit dem sein Kopf auch auf den Anschlägen abgebildet sei. Den jeweiligen Bittsteller begrüße er nicht mit Worten, gebe bloß mit einer Handbewegung zu verstehen, dass man sein Anliegen vorbringen solle. Während man spreche, knapp und klar, weil man sich alles wohlweislich vorher zurechtgelegt hat, gewinne Dorokins Bild, wie es dereinst in Filmen bewerkstelligt worden sei, zügig an Größe, bis sein Gesicht die ganze Höhe des Leuchtschirms einnehme. Der Don sei ein gut aussehender Mann! Ein wenig älter zwar, als sie ihn sich vorgestellt hatte, aber dafür stehe ihm das schmale Bärtchen zwischen Unterlippe und Kinn in der bewegten Wirklichkeit noch besser als im gedruckten Bild. Und wenn er dann spreche, begreife man, begreife zumindest jede Frau, wie vorteilhaft diese minimale Gesichtsbehaarung zwischen den fast weiblich üppigen Lippen und dem markanten Kinn vermittle.
     Der Don gab ihr zur Antwort, wer einem Mütterchen das Brot, welches diese im häuslichen Ofen backe, aus den Händen reiße, habe jeden Anspruch auf Gnade verwirkt. Und gleich mit dem nächsten Satz wurde sie gefragt, ob es in ihrem Sinne sei, wenn die Daumen der Hände, mit denen die drei schändlichen Brüder - noch dazu vor dem Weihnachtsfest! - nach ihrem Korb gegrapscht hätten, mit einem Hammer Bekanntschaft machen würden. Diese Strafe war ihr dann doch übertrieben streng, auch unadventlich roh erschienen. Und so habe sie gefragt, ob stattdessen eine unmissverständliche Ermahnung, zusammen mit einer mittelprächtigen Tracht Prügel, sowie die sofortige Rückerstattung ihrer Winterstiefel, geputzt und frisch eingefettet, in Frage kämen. Sehr milde, aber auch mit einem erkennbaren Anflug von Bedauern habe das Don-Gesicht gelächelt, zugleich kaum merklich genickt, und schon sei ihr von hinten unter die Achsel gegriffen worden, und man habe sie weg von dem ruckartig verlöschenden Bild, durch eine andere Tür als die, durch sie hereingeführt worden war, hinausgeschoben.
     Auf jenen Leuchtschirm, breiter als ein quergestelltes Türblatt, sowie auf die Drohung, dass eines seiner Glieder einen Hammer zu spüren bekommen könnte, war Umann gefasst gewesen. Aber stattdessen streckte ihm ein morgendlich gut gelaunter Don die Rechte zum Handschlag entgegen, drückte männlich fest zu und lud ihn ein, mit ihm zu frühstücken. Ein großer ovaler Tisch war hübsch gedeckt. Der Duft von warmem Brot stieß Umann in die Nase, und als ihm auf einen Wink Dorokins einer von dessen Männern unglaublicherweise Kaffee, wunderbarerweise echtenKaffee, wie er ihn seit Jahren weder gesehen noch gerochen, geschweige denn getrunken hatte, in eine große sonnenblumengelbe Tasse goss, war Umann von der hellen Wucht des Augenblicks so überwältigt, dass er die Antwort auf die Frage, ob er Milch und Zucker nehme, erst unhöflich spät über die Lippen brachte.

Mit freundlicher Genehmigung des Rowohlt Verlags

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