Vorgeblättert

Leseprobe zu György Dalos: Der Vorhang geht auf. Teil 2

16.02.2009.
Wenn es etwas wie eine kollektive oder landesspezifi sche Schuldnermen­talität gibt, so handelte die Ostberliner Führung angesichts der horrenden Summe ihrer gepumpten Anleihen nach dem Prinzip "was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß" und dachte niemals daran, das eigene Volk und die Welt über die heikle Situation aufzuklären. Der über den heimtücki­schen Westen erboste rumänische Diktator befahl die Rückzahlung der auf seine Initiative hin aufgenommenen elf Milliarden Dollar an die Gläubiger, ohne die Nation über den Umfang der Schulden aufzuklären, und ließ sich nach diesem Racheakt von seinem verelendeten Volk als Nationalheld feiern. Die Budapester Regierung agierte vernünftiger: Be­reits im Sommer 1978, als die Schulden die Grenze von acht Milliarden Dollar überschritten hatten, zeigte sie sich in viel beachteten Erklärungen bereit, den Faden der vor zehn Jahren auf sowjetischen Druck hin ge­stoppten Wirtschaftsreform mit westlicher Hilfe wieder aufzunehmen. Jedenfalls durfte man in der Öffentlichkeit über das Thema jetzt offen diskutieren. Viel überzeugender als diese symbolische Geste war der Bei­tritt Ungarns zum Internationalen Währungsfonds im Mai 1982, ein verzweifelt mutiger Schritt, den die von den Konflikten in Afghanistan und Polen geschwächte sowjetische Führung nicht mehr verhindern konnte.

Tatsächlich war es bereits fünf vor zwölf: Mit dem inzwischen auf elf Milliarden Dollar angestiegenen Schuldenberg erwies sich das Land plötzlich als zahlungsunfähig und hielt sich in diesem unangenehmen Schwebezustand bis zum Ende des Jahres, als es endlich den Überbrü­ckungskredit vom IWF abrufen konnte. Anderthalb Jahre später erin­nerte sich der stellvertretende Ministerpräsident Ferenc Havasi in einem Fernsehinterview an die Zitterpartie: Wissen Sie, damals befand sich un­sere Wirtschaft im Zustand des klinischen Todes. Der Journalist Tamas Vitray kommentierte kopfschüttelnd: A betyarjat! (Etwa wie: Heiliger Strohsack!) Dieses augenzwinkernde Hinwegwitzeln über die drohende Katastrophe, dieses gemütliche Vabanquespiel a la Adelskasino war der speziell ungarische Beitrag zum Untergang des osteuropäischen Sozialis­mus - die Apokalypse in der Operettenversion.

Während die linksliberalen bundesdeutschen Medien die Magyaren als Lebenskünstler und lustige Zigeunerbarone feierten, die imstande waren, mehr Geld auszugeben, als sie einnahmen, setzte der IWF seinen hoffnungslosen Kampf um die kapitalistische Kontrolle der sozialisti­schen Planwirtschaft an der Donau fort. Doch die Budapester Herren hielten sich an keinerlei Auflagen, verwendeten die Neueinkünfte auf das Stopfen der Lücken im Staatshaushalt und lieferten, wenn über­haupt, ungenaue bis falsche Angaben über die Handelsbilanz. Auf die­sem Wege erschlichen sie für ihre marode Ökonomie noch weitere Fi­nanzspritzen von insgesamt einer Milliarde Dollar. Hinzu kam im Herbst 1987 eine deutsche Bankanleihe in Höhe von einer Milliarde DM, die von der Bundesregierung "zum freien Gebrauch zwecks Modernisierung der ungarischen Industrie" ausbezahlt wurde - auch dies nur ein Trop­fen auf den heißen Stein.

Theoretisch hätte die ungarische Führung jeden Grund gehabt, die Mos­kauer Wachablösung vom März 1985 mit Emphase zu begrüßen: Der Bruch mit der Breschnew?schen Stagnation war eine indirekte Rechtfer­tigung der Budapester Bemühungen, den real existierenden Sozialismus attraktiver zu gestalten, private Initiative und kulturelle Freiheiten zu fördern und internationale Beziehungen auch in Zeiten einer großpoli­tischen Schlechtwetterlage zu pflegen. Auch der persönliche Kontakt schien auf den ersten Blick gesichert: Michail Gorbatschow besuchte Ungarn bereits 1982 und studierte im Rahmen eines protokollfreien Programms die Landwirtschaft der Volksrepublik. Im Gespräch mit Janos Kadar zeigte er sich angenehm überrascht von der Idee, genossen­schaftliches Engagement der werktätigen Bauern mit dem materiellen Anreiz der Gartenwirtschaft zu verbinden.

Trotz aller Erwartungen blieb jedoch die von vielen erhoffte Synergie zwischen ungarischer Freimütigkeit und sowjetischem Perestrojkaelan aus. Oberflächlich gesehen, handelte es sich um persönliche Reibungen zwischen dem 73-jährigen ungarischen Parteichef und seinem 54-jährigen sowjetischen Kollegen, zwischen denen laut Zeitzeugen die Chemie von Anfang an nicht gestimmt habe. Bei ihrem ersten längeren Gespräch vom September 1985, nachdem Kadar etwas langatmig und schulmeis­terlich die Erfahrungen seiner fast dreißig Jahre andauernden Regie­rungszeit dargelegt hatte, nahm das kameradschaftliche Geplauder plötzlich eine erstaunliche Wende.

Gorbatschow: Ich möchte Ihnen sagen, dass Ihre Arbeit in der sowje­tischen Führung niemals in Zweifel gezogen wurde. (?) Doch ich möchte Ihnen einen freundschaftlichen Rat geben: Da die Jahre vergehen, und Alter ist Alter, sollten Sie rationaler mit Ihrer Kraft umgehen. Dies braucht sowohl Ungarn als auch die Sowjetunion und die ganze sozialis­tische Gemeinschaft. Denn Janos Kadar ist eine bedeutsame politische Persönlichkeit auf der Weltbühne.
Kadar: Danke. Obwohl ich dies nicht weiß, nicht selber beurteile.
Gorbatschow:  Sie überlassen sich vollkommen der Sache der Revolu­tion, aber Sie müssen mit Ihrer Kraft sparen und würdige Nachfolger vorbereiten.

Auf diese unfeine Anspielung zeigte der Greis keine direkte Reaktion, blieb aber dem Benjamin der Kremlführung keineswegs die Antwort schuldig. Er hörte mit hölzernem Gesicht den redseligen Ausführungen seines Gegenübers zu, der den Triumphzug seines neuen Kurses rühmte, warf jedoch plötzlich mitten im Satz ein: Haben Sie keine Angst, dass sich die Geschichte in Gestalt einer Hofverschwörung wiederholt, wie dies bei Chruschtschow der Fall war? Nun war der Vater der Perestrojka an der Reihe, tief einzuatmen, bevor er die Frage beantwortete: Nein. Ich habe die Konsequenzen gezogen. Nach einer kleinen Pause, lächelnd: Ja, Genosse Kadar, ich bin nicht dümmer als Chruschtschow.

Hierzu gehört auch die vom ZK-Sekretär Janos Berecz überlieferte, folk­loristisch abgerundete Episode von Gorbatschows Besuch im Juli 1986. Zu Beginn des Treffens der Delegation der KPdSU mit dem Politbüro der USAP ließ Kadar auf einem großen Tablett Cognac servieren und bot das edle Getränk mit dem ihm eigenen spröden Humor an: Ich weiß nicht, Genosse Gorbatschow, ob Ihre Religion den Alkoholkonsum zulässt, die unsrige ja. So erlauben Sie mir, das Glas auf Ihre Gesundheit zu he­ben ? Angesichts der damals in der Sowjetunion noch anhaltenden Anti­alkoholkampagne, die dem sowjetischen Parteichef den Spott namen "Mineralnij-Sekretär" eingehandelt hatte, konnte dieser Trinkspruch leicht als Brüskierung verstanden werden.

Die atmosphärischen Störungen zwischen den beiden Staatsmännern hingen teilweise mit ihrem Altersunterschied zusammen. Kadars Dyna­mik und Intellekt waren seit Jahren auf dem absteigenden Ast, während Gorbatschows geistige und körperliche Aktivität einem vorläufi gen Hö­hepunkt zustrebte. Wichtiger war jedoch ihre ungleiche Ausgangssitua­tion: Der ungarische Führer suchte verzweifelt nach einem Ausweg aus dem Reformstau, während sein sowjetischer Kollege gerade erst begon­nen hatte, um seine Ideen zu kämpfen. Mit diesen bereiste er, Erfolg heischend wie auf einer Konzerttournee, die große, weite Welt, was wie­derum dem Geschmack des schamhaft-puritanischen Kadar kaum ent­sprechen konnte. Für ihn war diese Politik nicht mehr als konzeptions­loses Improvisieren. Eigentlich wusste er nicht, was für ihn bedrohlicher war: ein Scheitern der Perestrojka in Moskau am konservativen Wider­stand, was auch seinen Spielraum erheblich eingeengt hätte, oder ein Triumph der Glasnost in den von ihm misstrauisch beäugten Budapester Medien. Auf der Suche nach "weißen Flecken der Geschichte" - so hie­ßen in der UdSSR die früher tabuisierten Themen des Terrors - würden sie früher oder später seine Person und Politik entdecken. Seinen düste­ren Vorahnungen teilte er mit ganz wenigen, unter ihnen der Minister­präsident Karoly Grosz: Mein Alter, sagte er dem Konfidenten, Gor­batschow wird die Sowjetunion verlieren. Nicht er führt, sondern er wird geführt. Er lässt sich von den Ereignissen treiben. Er verschleudert das Land, ohne etwas dafür zu bekommen.

Die kurz geratene Ära des Karoly Grosz begann im Sommer 1987 mit der Verkündigung eines ehrgeizigen "Entfaltungsprogramms". Fast alles, was bis dahin für die Wirtschaftspolitik als Tabu gegolten hatte - Preis­erhöhungen, ein neues Steuersystem, Zulassung von Privatinitiativen -, wurde nun über Nacht gewährt, ohne an der zentralen Lenkung zu rütteln. Obwohl die Beschlüsse auch offiziell als Korrektur der Fehl­entscheidungen des Parteitags von 1985 dargeboten wurden, roch das ganze Programm nach der gewöhnlichen "Weiterentwicklung" einer im Grunde seit 1956 notorisch richtigen "Generallinie". Vor allem hütete man sich davor, die ökonomischen Umwälzungen mit einer Neustruktu­rierung des öffentlichen Lebens zu verknüpfen. Dies hätte nämlich einen Dialog mit gesellschaftlichen Kräften vorausgesetzt, den die Macht ­haber zu dieser Zeit bereits nicht mehr unterdrücken konnten, aber noch nicht anerkennen wollten. Es handelte sich um drei wichtige Strömungen innerhalb der Intelligenzija.

Die in den späten Siebzigerjahren konstituierte demokratische Oppo­sition, nun aus den Kinderschuhen der osteuropäischen Dissidentenzir­kel herausgewachsen, stellte sich mit einem eigenen Programm der Öf­fentlichkeit vor. Der in der Samisdat-Zeitschrift Beszelö im Juni 1987 gedruckte und über ungarischsprachige Auslandssender ausgestrahlte "Gesellschaftsvertrag" schlug einen in der ungarischen Politik seit Jahr­zehnten unbekannten Ton an: Der Konsens ist zu Ende. Das Land hat begriffen, dass die Machthaber ihre Versprechungen nicht halten wer­den. Die Folgen des ökonomischen Verfalls erreichen nun die Elite der Arbeiterschaft und die geistigen Mittelschichten. Die Öffentlichkeit glaubt nicht mehr daran, dass die neuen Opfer einen Sinn haben ? Die allgemeine Unzufriedenheit personifiziert ihren Gegenstand. Wie früher die Erfolge der Ära, so identifiziert das Land das Fiasko des Endes der Ära mit Janos Kadar. Die Popularität des Parteiführers devalviert sich schneller als der Forint. Es gibt eine Sache, mit der heute von dem Arbei­ter bis zum Parteikader alle einverstanden sind: Kadar muss gehen! Nach diesem harten Aufschlag entwarfen die Autoren Janos Kis, Ottilia Solt und Ferenc Kőszeg ein recht gemäßigtes Bild des friedlichen Übergangs von der autoritären Herrschaft zu einer demokratischen Struktur. Ohne die Gretchenfrage der "führenden Rolle" der USAP direkt anzusprechen, hielten sie ein dezentrales Politikmodell für angebracht, in dem die Ach­tung der Menschenrechte mit der Respektierung der sozialen Sicherheit der Bürger einherginge. Verschiedene Kreise der Bevölkerung sollten in diesem Projekt zusammenarbeiten, um die Katastrophe, die Macht und Gesellschaft gleichermaßen mit dem Untergang bedrohe, abzuwenden. Obwohl diese Mischung aus Sozialismus und bürgerlicher Demokratie heute eher naiv, utopisch und allzu kompromissbereit erscheint, demons­trierte sie zwei Jahre vor der Wende eine erstaunliche Reife des zivilen Denkens.

Etwas zeitbeständiger erwies sich ein Sammelsurium von Studien, das die sogenannten Reformökonomen, Mitarbeiter des Instituts für Finanz­forschung, unter dem Titel Wende und Reform nach jahrelangen Bemü­hungen in der legalen Presse unterbringen konnten. Sie verlangten die Anpassung der ungarischen Ökonomie an die Weltwirtschaft und die Schaffung wahrer Marktverhältnisse. In Erwägung der Lehren aus dem Scheitern der Wirtschaftsreform von 1968 befürworteten sie den Rück­zug der Partei aus diesem Bereich und modellierten eine Demokratie, wie sie den Bedürfnissen der rationalisierten Ökonomie entsprach. Die Formulierungen waren pathetisch wie ein Manifest: Die Zeit ist reif für eine ausgedehnte, radikale, demokratisierende, dezentralisierende, de­regulierende Marktreform, welche sich nicht mehr auf die eng begriffene Wirtschaft beschränken kann, sondern auch auf die gesellschaftliche Politik (insbesondere Sozialpolitik) und auf das politische Institutions­gefüge ausgedehnt werden sollte. Ihnen schwebte ein präsidiales System mit dualistischem Institutionsgefüge vor, das die unterschiedlichen In­teressen von Parteimacht und Gesellschaft ausgleichen würde. In diesem Rahmen platzierten sie die fast komplette neoliberale Agenda, wie sie später von den Nachwenderegierungen mehr oder weniger konsequent praktiziert wurde. Daran waren viele der Autoren von Wende und Re­form in unterschiedlichen Rollen beteiligt - mal als Minister, mal als Bankpräsident.

Die dritte Strömung, mit der die Mannschaft der USAP rechnen musste, bildeten die Volkstümler, auch "Populisten" oder "Volksnatio­nale" genannt. Dies war eine Gruppierung im Rahmen der staatlich er­laubten Kultur, deren bevorzugtes Thema die ungarische Identität, die sprachliche und politische Diskriminierung der ungarischen Minderheiten in den Nachbarstaaten war, vor allem in Ceauşescus Rumänien. Sie betonte eine stärkere Verantwortung der Regierung für die "Schick­salsfragen der Nation" und hatte Differenzen mit den offi ziellen Kreisen, wenn es um die Einschätzung der neueren Geschichte, hauptsächlich des Volksaufstands von 1956, ging. Die Beziehung der Partei zu dieser Gruppe war zwiespältig. Mal belegte sie deren Vertreter, so den Lyriker Sandor Csoori oder den Bühnenautor Istvan Csurka, mit gelegentlichem Publi­kationsverbot, mal behandelte sie dieselben Leute als Partner. Offen­sichtlich hatte die USAP mehr Angst davor, als zu wenig ungarisch denn als zu wenig demokratisch angesehen zu werden.

Teil 3