Vorgeblättert

Leseprobe zu Linda Le: Flutwelle. Teil 2

21.07.2014.
Sie weiß aber ganz gut, dass ich Satanismus nur in homöopathischen Dosen vertrage, und an diesem besonderen Tag war es ihr wichtig, mir zu gefallen - immerhin erinnerte sie sich an Momente der Komplizenschaft zwischen uns. Vor ein paar Monaten nämlich hatten wir Krach miteinander, ich warf ihr vor, dass sie die Schule schwänzte, zu unmöglichen Zeiten heimkam, stur vor sich hin büffelte, ohne aus dem Gelernten Lehren zu ziehen, mich anschaute wie ein Schaf, wenn ich ihr ein Buch außerhalb des Lehrplans vorschlug, abhaute, wenn ich Meinungsverschiedenheiten zur Sprache brachte, alles in Bausch und Bogen verdammte, einfach nur pubertär war wie viele andere - da müsse ich eben ab und zu ein ernstes Wort mit ihr reden. Mit der ganzen Hoheit ihrer siebzehn Jahre gab sie zurück, ich sei einfach nur alt und langweilig (ich war gerade sechsundvierzig geworden, aber in ihren Augen schon reif für die Geriatrie), aber sie sei immun gegen meine deprimierenden Lebensweisheiten, die ihr vielleicht mit sechzig was bringen würden, aber jetzt, in der Blüte ihrer Jugend, könne sie echt drauf verzichten. Ich möge sie bitte verschonen mit meinem ständigen Gemecker. Sie nannte mich nicht mehr Papa, sondern bei meinem Vornamen, und fand es ungemein komisch, immer wieder zu sagen: "Mann, Van, wann meckerst du mich nicht mehr an, Van?" Außerdem wäre sie mir total dankbar, wenn ich nicht jedes Mal ausrasten würde, bloß weil es mir nicht passte, dass sie auf Raves ging, Joints drehte, mit einem Punk zusammen war, an einem Tag Grunge trug und sich am nächsten Kettengürtel und Kampfstiefel kaufte, von allen Fächern nur das elementarste Grundwissen beherrschte, für ihre Hausarbeiten Bios aus dem Netz herunterlud, beim Probeabi schummelte, Namen von Schriftstellern verhunzte, deren Romane sie mal eben überflogen hatte, billige Fantasy-, Vampir- und Zombiegeschichten verschlang, alles für Quatsch hielt, was sie nicht raffte, erst einen Arschtritt brauchte, um Geo zu lernen, sich nachmittags lieber verzog, statt die Kapitel über den Kolonialismus zu wiederholen, gähnte, wenn ich ihr Stummfilme zeigte, aber Griffith super fand und Stroheim geil mit seinem Monokel und den abgefahrenen Drehbüchern, nur ins Kino ging, wenn Katastrophenfilme liefen, Strophen aus den Songs einer angesagten Gruppe abkupferte und an ein Fanzine schickte, auf die Kunsthochschule gehen wollte, obwohl sie sich nur für Pop-Art und ein bisschen für deutschen Expressionismus interessierte, dass ich sie immer ins Museum schleppen und ermahnen musste, die Ausstellungskataloge durchzublättern, dass sie mir "Misoneismus" vorhielt, ein Wort, das sie aus dem Hut gezaubert hatte, um meinen Widerwillen gegen alles Neue zu beschreiben. Deshalb war ich angeblich von vorgestern, ein Dinosaurier, weil ich mich dem Jugendwahn verschloss. Obwohl ich ein linkes Wochenblatt abonniert hatte und mit revolutionären Gruppen sympathisierte, war ich in ihren Augen ein alter Retro, weil ich die Schnauze voll hatte von all den Maulhelden, den erst zu Maoisten, dann zu kurzsichtigen Taktierern mutierten Stalinisten, den Empörten, die nichts in der Birne hatten, als sich mit den Bullen zu prügeln - zwanzig ausgebrannte Wannen, drei zerdepperte Wartehäuschen, schon waren sie zufrieden. Nein, ich hatte höhere Ziele: die Machtergreifung durch die Bewohner der Schlafstädte, eine Überschwemmung Galliens durch fremdes Blut, die Multikulti-Feinden den Schlaf rauben würde. Da sprach ich natürlich pro domo, ich, der Fidschi, der eine sehr hellhäutige waschechte Bretonin geheiratet und eine Tochter mit Alabasterteint, griechischer Nase, kohlschwarzen Haaren und Schlitzaugen gezeugt hatte. Die Ehe mit Lou hinderte mich daran, in die Kommunitarismusfalle zu tappen, der typische Rückzug vonHeimatlosen, die unter ihrer Isolation leiden. Obwohl wir in Belleville wohnten, einem Viertel, in dem Asiaten Legion sind, waren meine besten Freunde keine Landsleute, sondern ein Maghrebiner (Rachid, ein hochgelehrter Syntaktiker) und der Sohn eines ashkenasischen Juden, der sich selbst als Kosmopolit bezeichnete (der liebe Hugues). Meine Nachbarn stammten aus Pakistan, Kosovo, Senegal… Zur Abendessenszeit duftete es in den Fluren nach allen möglichen Gewürzen. Milchkaffeebraune Kinder spielten im Hinterhof, in jedem Stockwerk standen Kisten mit Französisch für Anfänger, kreolischen Wörterbüchern, fleckigen Krimis, Heftchenromanen, Elektro-CDs, Bollywood-Schinken oder Soap-Operas auf schwarz gebrannten DVDs, Klamotten und alten Schuhen herum. Bei den winzigen Wohnungen war das für die Mieter ein Weg, alles loszuwerden,was sie nicht mehr brauchten. Aus diesen Kisten konnten sich Mitbewohner oder Gäste nach Lust und Laune bedienen. Jeder stöberte im Vorbeigehen darin, nahm sich ein Buch heraus oder zwei, drei CDs, die er später wieder zurücklegte, wenn er genug davon hatte. Ab und zu befreite uns einer von der Emmaus-Gemeinde von dem alten Krempel, oder das Ganze wurde bei einem Anwohnerflohmarkt verramscht. Mit dem Geld fuhr man dann zur Porte de Clignancourt und brachte von dort ein geschnitztes Holzkästchen, eine Vintage-Jacke, gebrauchte Taschenbücher oder Touristennippes nach Hause, die umgehend wieder in den Kartons an der Eingangstür landeten.
     An den Wochenenden ließen Schlager, Rap und Rai vom Erdgeschoss, in dem ich wohnte, bis in den sechsten Stock die Wände wackeln, die so dünn waren, dass man die Abflussrohre der Nebenwohnungen gurgeln hörte. Menschen mit leichtem Schlaf hätten schon lange gegen diese Lärmbelästigung protestiert. Aber von uns beschwerte sich keiner. Ich steckte mir Ohropax in die Ohren oder hörte Ligeti über Kopfhörer, Laure stellte ihre Stereoanlage lauter und bedröhnte ihre Mutter mit Death-Metal-Getöse, bis ich einschritt und sie bat, leiser zu drehen und sich auf ihre Klassenarbeiten vorzubereiten, auch wenn ich dann in ihren Augen wieder der Oberlehrer war.
     In der Grundschule war sie Klassenbeste, nun brachte sie vom Gymnasium nur noch schlechte Noten nach Hause und konnte die brillantesten Schüler nicht mehr leiden. Den braven Mädchenkleidern entwachsen, hätte sie sich gern karnevalesk ausstaffiert, um ihr Anderssein zu betonen, doch da war Lou vor. Meine Frau rannte nie dem neuesten Schrei hinterher. Von diskreter Eleganz, wie es sich für eine Schuldirektorin ziemte, schminkte sie sich kaum, tönte nur leicht ihre Lippen, hielt ihre brünetten Haare mit einem schwarzen Band zusammen, trug meist Kontaktlinsen statt der Hornbrille mit den Lupengläsern, wählte die Halstücher passend zu ihren pastellfarbenen Pullovern, ihren Stiefeln und Mänteln, trug keinen Schmuck außer ihrem Ehering, lehnte Strass und Stickereien ab, ging nicht in fluoreszierenden Bodysuits zum Yoga und hatte nur Zeitloses im Schrank. Man könnte ihren Stil auch öde Klassik nennen, aber mir gefiel diese Schlichtheit.
     Als ich sie vor zwanzig Jahren nach ihrem Staatsexamen kennenlernte, verblüffte sie mich durch ihren Mangel an Phantasie. Sie funktionierte wie ein Uhrwerk, ging montags joggen, mittwochs schwimmen, alle zwei Wochen in den Hamam, reiste nicht, verabscheute alles Unvorhergesehene (im Gegensatz zu Ulma, meiner schönen Ulma, die es, wie ich nachträglich feststellen musste, nicht leiden konnte, wenn alles von vornherein feststand), war ein einziges Mal mit einer Schlafmütze wandern, las nur Fachaufsätze oder Märchen für Kinder (Ulma dagegen liebte seit jeher Proust), rauchte und trank nicht (während ich ständig eine Kippe im Maul hatte und soff wie ein Loch), bestellte im Restaurant immer dasselbe und nie exotische Gerichte (die meinen Gaumen entzückten), aß zu Hause nur Müsli, weichgekochte Eier, geraspelte Karotten oder Selleriepüree, gönnte sich aber ab und zu, als Verstoß gegen ihre Diät, ein Boeuf bourguignon (während ich stolz darauf war, mit solchen Gewohnheiten gebrochen zu haben).
     Mich hatten ihre türkisblauen Augen, ihr zarter Nacken und ihre schlanke Figur verführt. Im Laufe der Jahre gewöhnte sie sich an meine Art zu leben, die weniger Routine enthielt als ihre. Mit mir unternahm sie eine Nilkreuzfahrt, eine Rundreise zu den Städten Lateinamerikas, eine Tour durch die europäischen Metropolen … Nach diesen Reisen waren wir oft völlig abgebrannt und wälzten unsere Erinnerungen abends bei einem Teller Makkaroni, der so lange auf dem Speiseplan stand, bis unser Konto nicht mehr im Minus war. Laure war noch nicht auf der Welt, und unsere laufenden Kosten hielten sich in Grenzen, sodass wir sogar noch etwas abzwacken konnten für Wochenenden in Port-Bou oder anderswo. Dort stiegen wir in den billigsten Hotels ab, gingen immer zu Fuß, um uns die Fahrkarten zu sparen, und verköstigten uns an Imbissbuden mit Blümchenkaffee und trockenen Sandwiches zu unschlagbaren Preisen. Dafür faulenzten wir den ganzen Tag, sprangen kopfüber ins warme Meer, erforschten Grotten, betrachteten rotglühende Sonnenuntergänge, siffelten auf Terrassen billigen Wein, spazierten in Pinakotheken zwischen Meisterwerken herum, stopften unser Gepäck mit Monografien zeitgenössischer Künstler voll und verprassten am Schluss unser letztes Geld, indem wir uns den Bauch mit regionalen Spezialitäten vollschlugen. Diese Urlaube haben uns schnell ruiniert. Ich verdiente nicht viel, mehr als die Hälfte von Lous damaligem Lehrerinnengehalt ging für die Miete drauf, obwohl wir nur eine kleine Einzimmerwohnung in der Rue de Charonne hatten. Wenn wir uns vier Tage Sommerfrische gönnten, musste ich ziemlich ranklotzen, schnell die Fahnen abgeben und mir neue holen. Und nur dank der bescheidenen Hinterlassenschaft eines Onkels von Lou konnte wir uns die Südamerikareise leisten.
     Nach Laures Geburt zogen wir nach Belleville, und Lou wurde Hausfrau. Unsere Ehe zerfiel allmählich, wir stritten über Gott und die Welt, ich war genervt von ihren Gewohnheiten, sie nannte mich einen Säufer und Süchtigen, nur weil ich trank und rauchte. Sie schloss sich den Yogajüngern an und ging wieder schwimmen, ich hatte mit Fitness nichts am Hut, nahm aber trotzdem nicht zu und blieb schlank wie eine Lärche. Laure diente uns als Puffer, wenn es lauter wurde. "Nicht vor der Kleinen!", hieß es dann immer. Jeder machte sich wieder an sein Tagwerk, wir zögerten mit der Scheidung und überschritten den Rubikon nicht. Als verantwortungsbewusste Eltern wollten wir Laure nicht ohne Zuhause aufwachsen lassen, hin- und hergeschoben zwischen Vater und Mutter.
     Es hätte uns gutgetan, wieder fremden Boden unter den Füßen zu spüren. Doch nun, wo ein weiteres Maul zu stopfen war, entkamen wir nur noch selten. Im Sommer, wenn wir das Bedürfnis nach ein bisschen Frischluft hatten, fuhren wir mit unserem kleinen Austin aufs Land, wo eine Freundin von Lou einen renovierten Mas besaß. Ich langweilte mich dort immer, baute Modelle für Laure, schmökerte ein bisschen herum, döste in der Hängematte und tauchte erst zum Aperitif wieder auf, ging mit den Hühnern schlafen und wollte bald zurück nach Paris, in die Bistros der Rue Oberkampf, in die ich mich nun auch zur Fahnenkorrektur zurückzog. Laure wuchs heran, Lou und ich waren kein junges Paar mehr. Ich begehrte sie noch, ihr Körper war nicht von hässlichen Fettwülsten entstellt, die Taille, die sie mit enganliegenden Röcken betonte, war schmal, die Wangen waren fest, die Arme anziehend gerundet, ihr Alter nicht an Krähenfüßen abzulesen (aber sie roch wie eine reife Frau, während Ulma sich mit fast vierzig eine mädchenhafte Anmut à la Lilian Gish bewahrt hatte). Lou strotzte vor Gesundheit, meine Schläfen waren grau, die Stirn voller Falten, die Leber malträtiert vom Saufen, die Lunge schwarz vom Rauchen, das ich auch nachts nicht ließ. Sie lebte vegetarisch, ich war Fleischfresser. Sie trank abends Kräutertee, um gut zu schlafen, ich nahm Lexomil. Ich hing in Bars herum, wo ich neben anderen Nachtgewächsen allein vor mich hintrank, sie ging in literarische Teesalons, wo sie zwischen zwei Haikus am Darjeeling nippte und Makronen naschte. Sie entfaltete schon frühmorgens große Aktivitäten, räumte und putzte, bis alles glänzte, ich war ein chaotischer Langschläfer, dessen Schreibtisch sich unter Tonnen von Papierkram bog. Sie war geradlinig und ging stracks auf ihrZiel zu, bei mir dauerte es, bis ich reagierte. Wenn wir eingeladen waren, benahm ich mich, wie erwartet, jedes Mal daneben, und sie musste alles wieder ausbügeln. Gesellig, wie sie war (anders als die zurückhaltende Ulma), war sie überall gern gesehen, ich dagegen fiel entweder mit der Tür ins Haus oder erging mich in sibyllinischen Anspielungen und brachte damit höchstens Rachid oder Hugues zum Lachen. Sie hatte nichts gegen Reiterkampfspiele, wo ich nur gezwungen und unter Protest hinging (genau wie Ulma, die ohnehin lieber zu Hause blieb), sie wusste über sämtliche Neuerscheinungen Bescheid (während Ulma nur immer wieder Auf der Suche nach der verlorenen Zeit las), ich dagegen wollte mir aus Prinzip nichts antun, was nicht durch den Filter der Zeit gegangen war. Sie führte Buch wie ein Kassenwart (und war mit ihrer Sparsamkeit das genaue Gegenteil der unberechenbaren Ulma, die, selbst wenn sie keinen müden Heller hatte, nie an den nächsten Tag dachte), ich warf das Geld zum Fenster hinaus, seit wir nicht mehr verreisten, und hätte ohne sie unsere Ersparnisse längst aufgebraucht. Sie hatte sich von den humanitären Organisationen, denen sie in ihrer Jugend angehört hatte, wegen deren Schlampereien getrennt, ich bestand weiterhin darauf, an Bord meines Bücherbusses Illegale zu alphabetisieren. Sie wählte Zentrum, ich war Nichtwähler mit Anarchotendenz. Die politischen Debatten, die ich mit Rachid, dem Globalisierungsgegner, führte, waren für sie Kaffeehausgeschwätz. Wenn Hugues und ich uns über die neuesten Nachrichten unterhielten, meinte sie, wir seien in Wahrheit reaktionär und sprächen wie Blinde von der Farbe. Ein Abgrund tat sich zwischen uns auf. Genauso uneins waren wir in der Erziehung. Obwohl Direktorin einer öffentlichen Schule, wollte Lou unsere Prinzessin in ein privates Internat stecken, weil sie dort besser beaufsichtigt wäre, ich wandte ein, dass sie bestimmt nich tvorankommen würde, wenn sie sich mit Vatersöhnchen einließe, sondern sich höchstens Snoballüren einhandeln könnte. Sie verzärtelte Laure, ich öffnete ihr die Augen für die erschütternde Wirklichkeit. Sie wollte es beim Einzelkind belassen, ich hätte gern noch einen Jungen gehabt, mein Ebenbild in Aussehen und Ansichten.

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