Vorgeblättert

Leseprobe zu Rodney Bolt: Lorenzo Da Ponte. Teil 1

10.10.2011.
Kapitel 5

Reisende, die in Wien eintrafen, waren oft erstaunt über den Staub. Über ihn und über die Stille. "Auf den öffentlichen Straßen sind die Wiener äußerst still", schrieb Johann Pezzl, ein unermüdlicher Beobachter des hauptstädtischen Lebens in den 1780er Jahren. "Es können hundert Menschen über einen Platz gehen und man hört beinahe nichts als das Traben der Füße." Der Komponist Joseph Haydn vermisste die Stille Wiens schmerzlich, als er in das lärmende London umgezogen war, aber auf Da Ponte, der sich nach dem Gesang und dem Bramarbasieren auf dem Markusplatz, nach den Lausbuben mit der Nachtigallenstimme und den Serenaden singenden Gondolieri sehnte, muss die Stadt den Eindruck gemacht haben, als trage sie immer noch Trauer.
     Der Staub traf einen als Erstes, und dann kam der Durchfall (eine unvermeidliche Heimsuchung für Ausländer, die, wie Pezzl schreibt, mindestens einen Monat lang dauerte, bis sich die ungeübten Gedärme an die unappetitliche Wasserversorgung der Stadt gewöhnt hatten). Was den größten Verdruss bereitete, war allerdings der Staub. Dieses lästige Gemenge aus getrocknetem Kalk und Kies war verbreitete Ursache für "verwundete Lungen", wie ein Arzt aus Ragusa Hester Piozzi erklärte, als sie darüber klagte, dass sie in Zimmern mit Doppelfenstern und ohne Schornstein schlafen musste. Am dichtesten waren die Staubwolken an milden Sonntagabenden, wenn sich durch sämtliche Tore Kutschen in die Stadt zurückdrängten, da alle, die draußen auf dem Land, in den Vororten, im Prater und im Augarten gewesen waren, wieder nach Hause donnerten.
     Wien hatte einen eigenartigen Grundriss. Rings um eine dichtgedrängte Innere Stadt befand sich ein Glacis mit Grünanlagen, eine Folge der Belagerung durch die Türken, die ein Jahrhundert zuvor stattgefunden hatte und in deren Verlauf alle Gebäude außerhalb der Stadtmauer zerstört worden waren. Neue Wohnhäuser wurden in einiger Entfernung errichtet, und dadurch blieb zwischen der Altstadt und den Vorstädten eine breite grüne Esplanade frei, die man in dem Jahr, in dem Da Ponte eintraf, frisch mit Rosskastanien bepflanzt hatte. Jenseits der Vorstädte lagen die öffentlichen Parks, der Augarten und der Prater (in Letzterem gab es auch unwegsamere Flächen), und die tiefe, klare Donau, die so schnell floss, dass Boote, die man stromaufwärts für den Transport von Gütern nach Wien gebaut hatte, die Rückreise nicht bewältigen konnten und schließlich als Feuerholz endeten. Pläne, auf denen die eigenartige Topographie der Stadt abgebildet war, druckte man häufig auf die Fächer von Damen, und das bot, wie Pezzl meinte, "die beste Gelegenheit, wenn man im Pirutsch nach Laxenburg, Nußdorf, Dornbach trottirte, seiner Schönen den ersten Zug von Geographie beizubringen". (Man kann sich das Entzücken der jungen Wienerinnen ausmalen, wenn sie erfuhren, dass Herr Pezzl sie während der gesamten langen Kutschfahrt in ihre Sommerresidenz begleiten würde.)
     Die Dresdner Postkutsche ratterte durch die Vororte, über die Esplanade (auf der Eber und Hirsche frei herumliefen) und weiter in die Staubwolken der Stadt. Lorenzo Da Ponte, voller Heimweh nach den Kanälen Venedigs und durch die geordneten Boulevards von Dresden verdorben, kann seine neue Heimatstadt nicht mit großer Freude betrachtet haben. "Die Straßen von Wien sind wahrhaftig nichts weniger als schön", klagte Hester Piozzi, "so eng, so schlecht gebaut, so vollgepfropft; viele Waaren auf der Erde ausgelegt, wo nur ein kleiner Durchgang bleibt ? und das Holzhauen auf den Straßen möchte einen toll machen, wenn man geht." Ein anderer englischer Reisender stellte missvergnügt fest: "Jede Straße, fast jedes Haus und jede Stunde hat einen eigentümlichen, besonderen und keineswegs beneidenswerten Geruch. Das Pflaster ist mit wenigen Ausnahmen von äußerst holpriger und unerträglicher Art", und er fügte hinzu, es sei nur zu leicht, sich den Hals oder irgendwelche Knochen zu brechen, "sich ein Auge auszuschlagen oder eine Wange abzureißen".
     Selbstverständlich bestand Wien nicht ausschließlich aus Staub, Durchfall und gefährlichem Straßenpflaster. Als Hauptstadt des Habsburgerreichs zog es ein kosmopolitisches Milieu an, das Lorenzo an Venedig erinnerte. Es bot "ein schönes Schauspiel für die Augen": Man sah Ungarn in pelzbesetzten Dolmans und eng anliegenden Hosen, Serben mit gezwirbelten Schnurrbärten, Armenier, Walachen und Moldawier in halb orientalischer Tracht, Polen mit mönchischem Haarschnitt und wallenden Ärmeln, Muslime mit breiten Messern im Gürtel und Griechen, die lange Pfeifen rauchten. Deutsch mischte sich auf den Straßen mit Französisch und Italienisch, ungarische, türkische und flämische Laute plätscherten in den Kaffeehäusern und vermengten sich mit Latein, Illyrisch, Wendisch und Romani. Für ein paar Goldstücke konnte Da Ponte alles finden, "was seinen Sinnen, seiner Bequemlichkeit und seinen Launen schmeicheln kann. Die Schokolade, welche in Mailand gemacht, der Fasan, welcher in Böhmen gezogen, die Auster, welche in Istrien gefischt, der Wein, welcher in Tokay gekeltert wurde, warten auf seinen Wink ? Italiens Kunstwerke und Töne, Frankreichs Moden und Deutschlands Bücher erscheinen auf den Befehl seiner Börse, wie auf den Schlag eines Zaubermeisters." Die Köche standen in dem Ruf, zu den besten ganz Europas zu gehören. Ein gewisser Robert Townson, der 1793 reiste, stellte fest, unter "den Wienern, die dafür bekannt sind, dass sie nach la gourmandise süchtig sind, ? könnte ein Mangel an Gänselebern und kleinen Vögeln eine Revolution auslösen oder im Falle einer Belagerung als hinreichender Grund dafür angesehen werden, die Stadt zu übergeben". Herausgeputzte Puppen, die man auf schnellstem Wege von Paris her sandte, brachten innerhalb weniger Tage den neuesten Stil, mit dem sich die Näherinnen dann beschäftigen konnten. Damen in den weiten, seitwärts gebauschten Röcken, die immer noch der letzte Schrei waren, glitten durch Salons und Parks, über Plätze und in Ballsäle wie wandelnde Hochaltäre (oder wie Heringstonnen, knurrte Pezzl, der die Röcke für ein "monströse[s] Gereife" hielt und die sanfteren Linien der Dienstbotenkleidung bei weitem vorzog).
     Die Gesellschaft glänzte in einer Weise, wie es Lorenzo seit Venedig nicht begegnet war, nicht einmal in Dresden, und wenn auch Wien nicht der absolute Mittelpunkt der Musikwelt war, zu dem es im darauffolgenden Jahrhundert werden sollte, war es doch auf dem besten Wege dorthin. Öffentliche und private Konzerte gab es in Hülle und Fülle, ebenso wie Bälle, Maskenfeste und große Gesellschaften. "Alle Stände der Gesellschaft hatten eine abgöttische Liebe zur Musik", erinnerte sich Michael Kelly, der etwa ein Jahr nach Da Ponte hier eintraf, "und die meisten von ihnen verstanden die Kunst vollkommen. Ja, Wien war ein Ort, an dem das Vergnügen an der Tages- wie an der Nachtordnung war." Anders als die Nachtfalter von Venedig gingen jedoch die Wiener früh zu Bett, und nach elf Uhr waren die Straßen leer und still. Nur vereinzelt rumpelte noch nach Mitternacht eine Kutsche vorbei, die ihre Insassen vom Abendessen in einem der großen Palais zurückbrachte. Und anders als die alte Herrin der Adria drehte sich Wien nicht in einem manischen Todestanz des ancien regime. Die Konversation in den Kaffeehäusern behandelte mit Vergnügen umstrittene und aufgeklärte Themen. Als Kaiser Joseph II. nach dem Tode seiner Mutter Maria Theresia in vollem Umfang die Zügel der Regierung übernommen hatte, führte er außerordentlich liberale Reformen ein, die sich auf sämtliche Lebensbereiche erstreckten. Wien verband auf erfrischende Weise das Ernsthafte mit dem Leichtfertigen. John Moore, der Hauslehrer des jungen Herzogs von Hamilton, der seinen eigenwilligen Schützling Mitte der 1770er Jahre auf einer Bildungsreise durch den Kontinent begleitete, schrieb:

Nie habe ich meine Zeit vergnügter zugebracht, als seit meiner Ankunft zu Wien. Hier findet man keinen so ununterbrochenen Kreis von Zeitvertreiben, daß man seine Zeit ohne irgend einen eigenen Plan oder ohne ein Geschäft ausfüllen könnte; und doch Zeitvertreibe genug, um ein nicht ganz leeres und von äußerlichen Gegenständen ganz abhangendes Gemüt zu vergnügen.

In dieser angenehmen Atmosphäre fand sich Lorenzo Da Ponte erneut ohne Wohnung und ohne Arbeit wieder, aber (bei allem Staub und aller Stille) in einem vertrauteren Ambiente, als es ihm irgendeine andere Stadt seines Exils bislang geboten hatte.
     Wenn Da Ponte der üblichen Vorgehensweise von Neuankömmlingen folgte, mietete er sich auf zwei oder drei Tage in einem Gasthof ein, während er seine Empfehlungsschreiben losschickte und auf die Ergebnisse wartete. Währenddessen sah er sich nach Unterkünften um, ging durch die Straßen und las die handgeschriebenen Zettel, die an Haustüren angeschlagen waren. Es gab zahlreiche Anzeigen, und es sah so aus, als hätte die ganze Stadt ihre Möbel auf Umzugswagen geladen. Die vierzehn Tage nach Michaeli waren der eine von zwei Terminen des Jahres, die für einen Wohnungswechsel besonders beliebt waren. Mit der Suche nach einer Beschäftigung hatte Lorenzo weniger Glück. Sein Vorrat an gesellschaftlichen Kontakten war nicht sehr umfangreich: Er konnte vielleicht darauf rechnen, dass Johann Philipp Cobenzl ihn noch einmal huldvoll empfing. Und er hatte Mazzolas Brief an den energischen Antonio Salieri in der Tasche, der, obwohl ein Jahr jünger als Da Ponte, bereits Hofkomponist war und mit Sicherheit über einen gewissen Einfluss verfügte. Es sieht so aus, als sei er auch ganz ähnlich wie in Görz einer Verbindung nachgegangen, die auf Casanova zurückging, wenn auch vielleicht nicht mit einem direkten Empfehlungsschreiben, da sich die beiden einige Jahre zuvor zerstritten hatten. Es ging dabei um "eine ganz nichtige Kontroverse in Sachen lateinische Verslehre", behauptete Da Ponte. Ende 1781 veröffentlichte er die Idylle Filemone e Bauci, die er auf Vorschlag eines zu Besuch weilenden Geistlichen, des Abbes Eusebio Della Lena, dem reichen Wiener Kaufmann Johann Baptist von Puthon widmete, als dieser umzog. Beide Männer waren vertraute Freunde Casanovas.
     Della Lena war es, der Da Ponte mit Metastasio bekannt machte. Seit der junge Emanuele Conegliano auf dem Dachboden seines Vaters in Ceneda einen Bücherschatz entdeckt und mit eifriger Lektüre begonnen hatte, war Pietro Metastasio sein literarischer Held gewesen. Metastasios Werke waren die einzigen Bände aus diesem Fund, die der Knabe zweimal gelesen hatte, und sie hatten in ihm eine Liebe zur italienischen Sprache ausgebildet, aus der langsam sein eigener Wunsch zu schreiben erwuchs. Metastasios Libretti gehörten zu den wenigen, die Da Ponte nicht als trivial und des Namens Dichtung nicht würdig verspottete. Der greise Italiener - er war jetzt 84 Jahre alt - war seit 1730 kaiserlicher Dichter am Wiener Hof, und er war ein führender Verfasser von opere serie, also "ernsten" Opern in einem ornamentierten, förmlichen Stil, die in der Regel einen klassischen Stoff behandelten.
     Ein Teil von Metastasios Erfolg verdankte sich seiner Erkenntnis, dass sich in der Oper der Dichter zurückzunehmen hatte, während der Komponist einen großen Teil seiner Arbeit übernahm. Er ging sogar so weit, alle seine Arien selbst zu vertonen, auch wenn er seine Kompositionen niemandem zeigte. Diese Einstellung bezog sich insbesondere auf die Arien und Duette. Das Rezitativ in Blankversen, das die Erzählung vorantrieb, war mehr die Domäne des Barden, aber beherrschend waren in der opera seria die Arien und daher die Sänger (insbesondere die Kastraten). Die opera seria mit ihren komplizierten und formelhaften Konventionen war zu einer Kunstform geworden, die kaum mehr war als ein Konzert in Kostümen, und im Werk neuerer Musiker wie des Hofkomponisten Salieri kam sie allmählich aus der Mode. Ja, der Höhepunkt der Produktion Metastasios war in den Jahren unmittelbar nach seinem Eintreffen in Wien gewesen, und seit den 1740er Jahren hatte er wenig geschrieben, lebte aber von einer Pension, die ihm Kaiserin Maria Theresia ausgesetzt hatte, und von den Erträgen zahlreicher neuer Ausgaben seines Werkes.
     Der milde alte Mann - Dr. Burney beschrieb ihn als "unschuldig", Casanova sagte, er sei so bescheiden gewesen, dass es nicht natürlich schien - war ein tadelloser Handwerker, der über den Gedanken einer dichterischen Inspiration lachte und, wie Dr. Burney schreibt, "ein Gedicht eben so mechanischerweise [machte], als ein Schuster seinen Schuh, zu welcher Zeit es ihm gefällt, und ohne andre Veranlassung, als wenn ers bedarf". Auch sein Leben lief wie ein Uhrwerk ab, wie Hester Piozzi berichtet, es war "mit so methodischer Pünktlichkeit geordnet, dass er fünfzig Jahre hinter einander um eben die Stunde aufstand, studierte, konversierte und aß". Von liebenswürdiger Weltgewandtheit, wenn auch ein schrecklicher Hypochonder, logierte Metastasio seit über einem halben Jahrhundert im Haus des spanisch-neapolitanischen Kaufmanns Nicolo Martinez, er ging selten aus, es sei denn zur Messe, und lernte niemals Deutsch. "Ich bin ein Vogel des Hofes seit nahezu undenklichen Zeiten", schrieb er über sich, als er erst 44 Jahre alt war, "nicht einer aus dem Wald, sondern einer, der Bequemlichkeit, Komfort und Ruhe gewohnt ist und der nicht aufs Geratewohl hierhin und dorthin fliegen und sich allen Unbilden der Witterung aussetzen kann. Um sicher geleitet zu werden, muss ich in meinem Käfig transportiert werden, mit meinem Wasserglas und meinem Betreuer, der für meine Bedürfnisse sorgt."

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