Vorgeblättert

Leseprobe zu Rodney Bolt: Lorenzo Da Ponte. Teil 2

10.10.2011.
In seinen letzten Jahren unterhielt er eine geschwätzige Korrespondenz mit seinem lieben Freund Farinelli, dem großen Kastratensänger, der einst so in Mode gewesen war, dass er zu dem Ausruf Anlass gegeben hatte, es gebe "nur einen Gott, nur einen Farinelli". Der alternde Dichter vergötterte seinen "Adoptivzwilling" und genoss die Gaben, die ihm Farinelli sandte: saftige Pfirsiche aus Ferrara und süßen Likör, wobei einige Früchte schon gegessen waren und die Flasche angebrochen, so dass sich Metastasio vorstellen konnte, sie beide genössen das Fest gemeinsam. In Wirklichkeit aß er immer völlig allein, und auch seine vertrautesten Freunde sahen ihn selten mehr als einen Zwieback zu seiner Limonade zu sich nehmen. Seine Vergnügungen bestanden nur in Musik, Dichtung und Konversation. Zu Hause verwöhnten Metastasio die jungen Damen Martinez, die selbst seine Gedichte vertonten, spielten und sangen. Ein italienischer Abbe erzählte Hester Piozzi: "Ja, er sah wie ein Verzükter aus, wenn Fräulein Martinas [sic] seine Verse mit ihrer schönen Stimme und zierlichen Fingern begleitete." Der betagte Dichter leitete diese Salons im Haus an der Kohlmarktgasse in herrlich altmodischer Weise (den Stil seiner Perücke hatte er seit Jahrzehnten ebenso wenig geändert wie den Schnitt oder die Farbe seines Rocks). Zu einer derartigen Zusammenkunft an einem Abend Anfang April 1782 nahm der Abbe Della Lena den Abbe Da Ponte mit.
Della Lena hatte dem kaiserlichen Dichter bereits eine Abschrift von Da Pontes Filemone e Bauci gezeigt und ihm etwas über den jungen Mann erzählt. Metastasio fand den Neuankömmling sympathisch. Von ihrer Herkunft her hatten die beiden Männer Ähnlichkeit miteinander. Geboren als Pietro Trapassi, Sohn des Felice Trapassi, eines Spezereienhändlers in Rom, zeigte Metastasio schon früh brillante Fähigkeiten als improvvisatore. Giovanni Vincenzo Gravina, ein hervorragender römischer Jurist und Arkadier, hatte das jugendliche Wunderkind zu sich genommen, seinen Nachnamen hellenisiert und ihn später förmlich adoptiert. Felice Trapassi überließ seinen Erstgeborenen der Aussicht auf eine gute Ausbildung und eine Einführung in die Gesellschaft. Metastasio nahm die niederen Weihen, und als ein junger Abbe, der für seinen Charme, seine Schönheit und sein Talent berühmt war (und der später über ein beträchtliches Erbe verfügte, das ihm Gravina hinterlassen hatte), drang er in höhere Sphären der Gesellschaft vor, auch wenn er wegen seiner plebejischen Abkunft in dem aristokratischen Milieu, in dem er sich bewegte, immer ein Außenseiter blieb, vor allem in Wien um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Lorenzo Da Ponte erinnerte den älteren Mann (wie das auch bei Casanova der Fall gewesen war) an seine eigene Jugend.
Während die Gäste am Wein nippten und Süßigkeiten kosteten, begann der große Dichter selbst (nachdem er gewiss an seinem einzigen Zwieback geknabbert hatte), aus Filemone e Bauci vorzulesen. "Era Bauci una ninfa, a cui non nacque", las Metastasio, "altra pari in bellezza a? tempi suoi ?" Das Gedicht, eine elegante, wenn auch konservative Idylle über die bis ins hohe Alter anhaltende Liebe zwischen der Nymphe Baucis und dem Hirten Philemon, gefiel Metastasio, aber obwohl er, wie Da Ponte schreibt, auch in seinem hohen Alter "von einer jugendlichen Frische [war] und ? die ursprüngliche Kraft eines lebhaften, starken Geistes" besaß, hatte er nach etwa zwanzig Versen nicht mehr die Energie weiterzulesen und forderte Da Ponte auf, selbst mit der Lektüre fortzufahren. Das Lob des kaiserlichen Dichters schlug Wellen und trug Da Ponte Respekt unter den Literaten von Wien ein, war allerdings auch schon die ganze Hilfe, die Metastasio Da Ponte geben konnte. Einige Tage später, am 12. April 1782, flog der sanfte Vogel des Hofes endgültig aus seinem vergoldeten Käfig davon.
Lorenzo Da Ponte hingegen war auf Kurs, unterstützt durch das kleine Vermögen, das ihm Pater Huber vermacht hatte, und mit dem kräftigen Wind öffentlichen Lobes im Rücken. Er wurde zu einem beliebten, wenn auch nicht immer vollständig verstandenen Gast auf Wiener Gesellschaften, wie er es in einem Brief festhielt, den er in Versen an seinen Freund Graf Zaguri in Venedig schrieb:

Es ging, ich weiß nicht wie, das freundliche Gerücht,
Ich sei Poet und improvisierte Lieder;
Ein jeder sucht mich nun, ein jeder bittet mich,
In Wettstreit treten alle, mich zu hören;
Zum Mittag ruft man mich und auch zum Abendbrot,
Ich sage, was ich kann und was mir gut dünkt,
Und dieses gute Volk bedachte mich mit Lob,
Um sein Verständnis für mein Lied zu zeigen.

Denn wenn ich euch die Wahrheit nun gestehen soll,
So glaub? ich, in der großen Schar der Hörer
Verstand auch nicht ein Hund ?ne ganze Zeile wohl;
Ich selbst konnt manchmal auch sie nicht verstehen:
Kam mir doch eines Tags der Einfall in den Sinn,
Das Ave Maria hebräisch zu singen;
Darüber stritten sich ein Mönchlein und ein Zwerg;
Sie glaubten, dass ich italienisch singe.

Unglücklicherweise ließ sich von diesem guten Willen nur wenig in klingende Münze verwandeln. Wien hatte ein reichhaltiges Musikleben, aber die anderen Künste florierten nicht ganz so sehr, und die Musik war nicht Da Pontes starke Seite. "Die Musiken sind das einzige, worinn der Adel Geschmack zeigt", schrieb Baron Johann Kaspar Riesbeck, der damals durch Deutschland reiste. Pezzl meinte: "Ein Maler, ein Bildhauer, ein Kupferstecher usw. hat eine Art von Etat in der Gesellschaft; er hat unter dieser Benennung allenthalben Achtung und Zutritt, besonders bei den Großen und Reichen. Ein Mann hingegen, der sich nichts als Gelehrter, Autor, Homme de Lettres nennen kann, wird nur sehr zweideutig aufgenommen und kaum spricht man sein Prädikat ohne höhnische Miene aus ? Zwei Dukaten für eine Spazierfahrt ausgeben, greift dem Wiener nicht so sehr an das Herz, als sich für 30 Kreuzer ein Buch zu kaufen." Abgesehen von Filemone e Bauci und einem Sonett zur Erinnerung an einen Besuch des Papstes etwa um die Zeit, in der Metastasio sein Gedicht las, hatte Da Ponte über ein Jahr lang nichts veröffentlicht. Wenn ein Autor weder über einen vornehmen Schirmherrn noch über Familienvermögen verfügte, musste er kämpfen, um sich mit seiner Feder allein durchzuschlagen. In Wien gab es keine italienische Oper mit ständigen Aufführungen, und so standen Gelegenheitsarbeiten von der Art, wie sie Da Ponte für Mazzola in Dresden verrichtet hatte, nicht zur Verfügung. Salieri hatte auf Mazzolas Empfehlungsschreiben auch nicht mit irgendeinem konkreten Vorschlag reagiert. Andere Beschäftigungsmöglichkeiten für Da Ponte waren beschränkt. Obgleich er nun schon drei Jahre auf österreichischem Gebiet lebte, sprach er ungeachtet seiner ersten Bemühungen mit Sätzen wie "ich liebe Sie" kaum Deutsch. Das war eine Sprache, so sagte er, die er würde lernen müssen, auch wenn sie so beschaffen war, dass sie dem heiligen Franziskus Angst eingejagt hätte:

Voglio mo dir che parlano il tedesco,
Lingua da far paura a San Francesco.


Unter den vertrauten Beratern des Kaisers und in der Hofbürokratie gab es eine beträchtliche italienische Quote, und so wäre theoretisch eine Tätigkeit als Sekretär denkbar gewesen. Die führenden Familien und die reichen Kaufleute sprachen aber Deutsch, und seine mangelhafte Vertrautheit mit dieser Sprache engte die Möglichkeiten ein, sich als Hauslehrer zu betätigen.
Lorenzo lebte jedoch auf großem Fuße in der vornehmen Inneren Stadt. Das grüne Glacis jenseits der Stadtmauer bedeutete mehr als nur eine topographische Lücke zwischen der Altstadt und den Vorstädten. Der Adel und die Hofbeamten besaßen allesamt Palais im Zentrum, die Handwerker, die ihren Bedürfnissen zu Diensten standen, wohnten in ihrer Nähe, und die Bürger mittlerer Güte warf man hinaus über die Mauern. Da Ponte sah: Wenn man irgendwelches gesellschaftliche Gewicht haben wollte, musste man innerhalb der Stadtmauern wohnen. Und für einen Dichter, der auf Schirmherren stoßen wollte, gab es dazu einfach keine Alternative. Lorenzo hatte den Wert des äußeren Erscheinungsbilds gelernt. Selbst in seinen ärmsten Tagen in Padua hatte er darauf geachtet, sich "gepflegt und gut gekleidet" zu zeigen. Er war ganz offensichtlich nicht knauserig. Der unverhoffte Geldsegen, den ihm Pater Huber beschert hatte - zwölf Goldstücke im Wert von je 100 Dukaten -, reichte hin, um davon recht komfortabel zwei Jahre lang zu leben. Pezzl schätzte die jährlichen Kosten für einen alleinstehenden Mann, der kein Spieler war und keine Liebschaft unterhielt - Dinge, die Komplikationen verursachten und "gewisse Garderoberegeln" vorschrieben -, auf 464 Gulden. Wenn man sich in höheren Gesellschaftskreisen bewegte, dann kostete das erheblich mehr. Der Hofschauspieler Joseph Lange nahm das hübsche Gehalt von 1400 Gulden mit nach Hause, noch ergänzt durch Einnahmen aus Privatauftritten, und Johann Müller, der führende Schauspieler der damaligen Zeit, erhielt 1600 Gulden - beide beträchtlich mehr als der Durchschnittsmusiker oder der mittlere Kaufmann. Da Ponte versetzte sich in dieses Reich, und nach weniger als einem Jahr ging ihm in Ermangelung eines zusätzlichen Einkommens das Geld aus.
Sparmaßnahmen bedeuteten Umzug. Selbst innerhalb der Stadtmauern konnte Lorenzo, wenn er Glück hatte, für etwa 40 Gulden ein zellenartiges Zimmer finden, "worin ein Bett, ein wackelndes Tischchen und ein paar veraltete Stühle" standen und aus dem die Aussicht "in einen dumpfen Hof oder ein enges Gäßchen" ging. Anstatt die Mahlzeiten in Gasthäusern einzunehmen, konnte er sich unbemerkt zu einem preisgünstigen Menü in einen traiteur schleichen, etwa in das Etablissement "Zur blauen Flasche" am Stock-im-Eisen-Platz, wo sich Hunderte von Menschen in zwei Räumen drängten: Schreiber und kleinere Beamte zum Zehn-Kreuzer-Menü, überwiegend livrierte Dienstboten zum Acht-Kreuzer-Menü, wobei sich Letztere nicht mit ihren wirklichen Namen, sondern mit den Namen ihrer Herrschaft ansprachen, so dass ihm während des Essens die Rufe "Cobenzl!", "Kaunitz!" und "Zinzendorf!" um die Ohren geflogen wären. Da Pontes Geldbeutel war jedoch selbst für Acht-Kreuzer-Menüs und für ein zellenartiges Zimmer im Stadtzentrum zu schmal geworden, so schmal, dass er eine Rückkehr zu den schrecklichen Tagen der schwarzen Oliven und der acqua di Brenta fürchtete, die er in Padua durchlitten hatte. Einige Zeit nach dem Frühjahr 1782 unternahm er den gesellschaftlich erniedrigenden Schritt eines Umzugs in die Vorstadt und mietete sich bei einem Schneider in Wieden ein, wo nicht eine einzige Straße gepflastert war und nur wenige Häuser mehr als drei Geschosse hatten, wo er aber zu seinem Glück "die Bekanntschaft eines gebildeten, klugen jungen Mannes [machte], der eine große Liebe zur Literatur hatte und der, obgleich nicht reich, doch so großzügig war, mich in einer sehr noblen Weise mit dem zu versorgen, was für mich hinreichte, viele Monate lang keine Sorgen zu verspüren". Ohne einen Pfennig, in einem fremden Land und mit nur einem einzigen Freund, auf den er in Wien zählen konnte, geriet Lorenzo als Künstler allmählich in Vergessenheit.
Währenddessen strebte jenseits der Esplanade, in einem Haus "Zum roten Säbel" an der Hohen Brücke, ein kleines häusliches Drama seinem Höhepunkt zu.


Wolfgang Amade Mozart (für seinen zweiten Namen, den deutschen "Gottlieb", auf den er getauft worden war, verwendete er lieber die französische als die lateinische Version) war im März des vorangegangenen Jahres nach Wien beordert worden, als sich sein Brotherr, der Erzbischof von Salzburg, dort zu einem längeren Besuch aufhielt. Er war sieben Jahre jünger als Da Ponte, "ein bemerkenswerth kleiner Mann, sehr dünn und blass, mit einer Fülle von schönem hellem Haar, auf welches er sich etwas einbildete". Sein Kopf erschien etwas zu groß für seinen Körper, aber das war vielleicht auch gut so, da er die übergroße Nase seiner Mutter geerbt hatte. Die meisten Menschen bemerkten als Erstes nicht den bleichen Rüssel, sondern seine großen, durchdringenden blauen Augen, die bisweilen melancholisch blickten, in denen aber gewöhnlich ein ausgelassener, fröhlicher Witz und gelegentlich ein Anflug von Sarkasmus funkelte. Er hatte fleischige Hände. Der junge Mozart fürchtete sich vor der Rückkehr nach Salzburg und war entschlossen, in der großen Stadt zu bleiben, die er unendlich viel anregender fand und die ihm seiner Auffassung nach bessere Aussichten bot - ein Gedanke, der ihn nicht nur zum Erzbischof, sondern auch zu seinem Vater Leopold Mozart in Konflikt brachte, der zu Hause saß und ihn kontrollierte. Um alles noch schlimmer zu machen, galoppierte Wolfgang im Sommer 1782 auf die Ehe mit Constanze Weber zu, ein Anlass für einen weiteren Zusammenstoß mit dem Vater, der hierzu keinen Segen gab.

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