Vorgeblättert

Robin Detje: Castorf, Teil 1

Auszüge aus dem 6. Kapitel "Räuber anderer Machart"
(für den "Perlentaucher" zusammengestellt)

Es kommt die Zeit, da man Castorf die ersten Aufenthalte im Westen genehmigt. Vielleicht wünscht man sich, dass er dort bleibt. Vielleicht hofft man, dass er der DDR dort als Exportartikel Ehre macht. Vielleicht will man sich auch einfach nicht festlegen und den privilegierten Reisekader in Unsicherheit halten. Heiner Müller ist natürlich schon da und raunt West-Journalisten seit einer ganzen Weile zu, dass eine große Öffnung bevorstehe, mit deren Hilfe sich die DDR stabilisieren werde. Im März 1988 nimmt man ihn wieder in den Schriftstellerverband auf, und die Westpresse meldet: Müller rehabilitiert! Der Kulturminister Hans-Joachim Hoffmann befürwortet im selben Jahr in einem Brief an den Genossen Armeegeneral Friedrich Dickel aus staatspolitischen Gründen Castorfs Antrag zum Besuch einer Westberliner Heiner-Müller-Werkschau.
Castorf will den antifaschistischen Schutzwall, vor dem er einst als Steppke hilflos stand und Grenzsoldaten beschimpfte, von hinten sehen. Weil er keinen Führerschein hat, muss sein späterer Dramaturg Matthias Lilienthal ihn fahren, immer an der Mauer lang. Außerdem will Castorf wissen, ob die Currywurst hier noch so gut schmeckt wie früher, wenn der Vater mit dem Sohne in den Westen fuhr. Tut sie nicht, befindet er: Bei Konopke schmeckt sie besser, bei ihm im Kiez an der Schönhauser Allee. Auf der Heiner-Müller-Werkschau empfiehlt er, Müller-Texte von Willy Millowitsch sprechen zu lassen. Der Westen, sagt Castorf seinem Chauffeur, sei genau so, wie er ihn sich vorgestellt habe. Dann geht er wieder in den Osten. So wird er es halten, solange es den Osten noch gibt.
Im Sommer 1989 verfolgt er auf Mallorca gemeinsam mit Silvia Rieger im Fernsehen, wie immer mehr DDR-Bürger über Ungarn in den Westen entkommen. Als die Mauer im November fällt, sitzt er mit dem Schriftsteller Peter Brasch in Karl-Marx-Stadt in der Theaterkantine. Die historische Nachricht animiert beide zum gelassenen Weitertrinken. Er fährt dann doch noch nach Westberlin und landet im "Zwiebelfisch" am Savignyplatz.

Kurz zuvor ist der ehrgeizige Regisseur Frank Castorf von den Redakteuren der Westberliner Zeitschrift Theater heute streng zu seinem Theaterverständnis verhört worden. "Drüben" ist Theater der Zeit die Anstandsdame des DDR-Theaters. Sie beschwichtigt, gleicht aus und achtet auf die richtige Mischung aus repressiven Verlautbarungen und eingeschmuggelter Konterbande. Im Westen ist Theater heute das Verbandsorgan des Theaterdorfes einer freiheitlichen Gesellschaft und kann deshalb viel offener repressiv agieren, ohne es selber so nennen zu müssen. Diese Darmverschlingung der westdeutschen Selbstwahrnehmung wird die Ostler nicht wenig verblüffen. Der Westen ist nämlich frei, sagt der Westen und glaubt es sich selbstverständlich auch. Autoritäres Verhalten gilt nach 68 als abgeschafft, Repression wird nicht mehr so genannt. Der Ostler aber erkennt beides, wenn er es sieht, und denkt erstaunt: Genau wie in der DDR, nur nicht so ehrlich. Schön am Westen ist dann wiederum, dass die autoritären Gesten seiner Gegner einen nicht ins Gefängnis bringen. Wenn man Glück hat, macht man mit ihrer Hilfe Karriere.
Für die Theater-heute-Redakteure ist die Lage doppelt ernst: Castorf hat inzwischen als Gastregisseur aus der DDR mit drei Inszenierungen in der BRD und der Schweiz Skandal gemacht - da war der antifaschistische Schutzwall noch intakt. Ohne Mauer springt einem der Mann nun vielleicht dauernd ins Gesicht. Es herrscht Alarmstufe Rot, und die Fragen von Michael Merschmeier und Peter von Becker sind oft länger als Castorfs Antworten. Immer wieder müssen die Redakteure den Mann daran erinnern, was Theater eigentlich ist. Die Makler verlesen dem Wohnungssuchenden die Hausordnung: Bitte, einen Moment stop ... Theater ist doch als Kunst vor Zuschauern keine Selbstbefriedigung und keine private Therapie.
Die Interviewer plagt der Verdacht, ihrem Gesprächspartner könnte es um die Macht gehen, und sie formulieren ihn nicht einmal mehr als Frage: Also heißt der Zug Shakespeare oder Lessing, und Sie springen aufs Trittbrett und wollen dann die Lokomotive erobern. Castorf hütet sich, ihnen diese Angst zu nehmen: Ich will mit meinen Aufführungen in diese trainierten Stadttheaterapparate rein und die zusammen mit den Schauspielern von innen her verändern. Das bleibt als Schlusssatz drohend stehen. So geht es natürlich nicht, schon gar nicht auf Shakespeares oder Lessings Rücken! Wo bleibt da die respektvolle Verwaltung des überkommenen Werkes? 
Die Ostler ante portas. Der Wunsch, die Mauer wieder aufzubauen, wächst auf beiden Seiten schnell. Die Ossis riechen schlecht, überheizen ihre Wohnungen und können nicht Autofahren. Sie bewegen sich offenbar in esoterischen Zirkeln, die spätromantische Innerlichkeit gemütlich im Kollektiv genießen und sich in einer Geheimsprache verständigen. Sie sind anstrengend. Sie haben außerdem die 68er-Revolte verpasst und kommen den Wessis nun mit rebellischem Zeugs, mit dem man sich hier wirklich nicht noch einmal auseinander setzen möchten. 
Klassikerzertrümmerung? Schnee von gestern. Im Kopf arbeitet Peter Stein längst an seinem "Faust", der endlich die totale Texttreue verwirklichen soll, Stunden über Stunden demütig verlebendigten Papiers für die ergriffenen Sponsoren aus der Großindustrie.

Das Heft mit dem Castorf-Interview erscheint im Dezember 1989 und ist dem historischen Umbruch in der DDR gewidmet. Weiter vorn hofft Heiner Müller in einem am Vortag der großen Demonstration auf dem Alexanderplatz vom 4. November geführten Gespräch, dass die DDR weiter bestehen möge, auch wenn man nun zu viele Leichen in ihrem Keller finden werde. Castorf aber wird weniger als Ostler wahrgenommen und befragt, denn als West-Regisseur im laufenden Bewerbungsverfahren. Er durfte in Köln, München und Basel inszenieren. Die Interviewer finden offenbar, dass er sich dafür zu rechtfertigen hat wie jeder Oberschüler, der nach einem Streich zum Direktor gerufen wird. Aber nichts könnte Castorf weniger interessieren als autoritäre Fragen Westberliner Theaterjournalisten und reaktionäre Theaterkonzepte. Von Kindheit an hat er gelernt, Autoritäten, die ihm Grenzen setzen wollen und sich selbst dabei auch noch ernst nehmen, nicht einmal zu ignorieren.
Mitten im wildesten weltgeschichtlichen Getümmel zieht er sich nun auf eine Therapeutenrolle zurück. Er bleibt seinem Modell von den "Schauspielern zwischen Müssen und Wollen" treu, das er als Dramaturg in Senftenberg entwickelt hat, und propagiert wieder die Methode der repressionslosen Schauspielerbefreiung. Wobei für ihn die Sphäre der Produktion das Entscheidende ist, und ich versuche, sie so zu organisieren, daß sie ein Modellfall freier Arbeit ist: indem ich bestimmte Hierarchieverhältnisse außer Kraft setze ... Was die Schauspieler auf die Probe mitbringen, interpretiert er als Krankenvorgeschichte, der er sich nähern will wie ein Psychiater. Anhand seiner Diagnose entwickelt er dann die Therapie. Das Erlebnis der befreiten Schauspieler auf der Bühne soll die Zuschauer selbst befreien und aus ihren eigenen Hierarchieverhältnissen herauslösen. Das ist der operative Charakter der Kunst im revolutionären Prozess. Ich mache das, solange ich die Kraft habe, mich zu organisieren.

Er redet viel und mit jedem. Die Interviews sind seine Manifest-Maschine. Er will die Toleranz des Durchschnittspublikums prüfen, indem er es irritiert und auf die Probe stellt: Wenn wir nicht diese Kultur des Umgangs trainieren, werden wir die Grenzen der Stagnation nicht durchstoßen. Wie ein enttäuschtes Kind steht er vor den steinernen Herzen der Kleinbürger, aber er hat einen Meißel mitgebracht. Er gelobt, ein Querulant und Schmuddelfink zu bleiben, ein Parteigänger der Unterprivilegierten. Die ästhetische Provokation ist sein politisches Prinzip, die emotionale Überrumpelung, er verspricht Freischärleraktionen auf die Gefühle. Er will die Lebenserfahrung der Menschen auf anthropologische Grundkonstanten zurückführen, und obwohl er sich eigentlich nur für den direkten therapeutischen Umgang mit den Schauspielern interessiert, strebt er eine größtmögliche Wirkung auf die Massen an: Auf die ganz einfachen Grunderfahrungen können sich ganz viele Leute, Kind und Oma, Intellektuelle und Arbeiter oder Postangestellte, einigen. Er will das Zeiterleben der Zuschauer auf der Bühne überhöhen, die Gleichförmigkeit ihres Lebens aufbrechen. Seit er inszeniert, ist er keinem grotesken Mittel abgeneigt - außer vielleicht dem direkten Einsatz der Commedia-dell'Arte-Masken a la Besson -, nun outet er sich als Anhänger der Theatertradition Stanislawskis: Mir geht es immer um Glaubwürdigkeit, auch in der Clowneske oder Groteske. Er will alles: Brecht und die Psychologie ...
Nachdem er erlebt hat, wie kleinlich sich ihm der Realsozialismus entgegenstellt, deutet er dessen utopisches Moment für sich um und drückt den schönsten denkbaren bürgerlichen Optimismus so aus: "Ich nehme dich bei der Hand und führe dich in eine glücklichere Zeit, wo wir unsere Leidenschaften anders sublimieren werden." Das Ideal besteht im Ausleben der authentischen, unsublimierten Leidenschaft, wobei man allerdings nicht das Bewusstsein verlieren darf. Solange man die Enthemmung aber gestaltend vorführt, behält man die Kontrolle.
Schauspieler müssen dazu überredet werden, ihr Handwerk abzulegen und sich selbst zu zeigen; vielleicht ist auf diesem Umweg die Rolle von hinten wieder offen. So gelangt man durch die Natürlichkeit zum Künstlichen. Gleichzeitig liegt das Ziel des künstlichen Sichverstellens, des Artifiziellen, der grob in jedes Spektakel hineingepanschten Zoten und Banalitäten im Erlangen einer höheren Natürlichkeit. Die Lüge, die im falschen, lahmen, naturalistischen Schauspiel-Handwerk lauert, soll diese Struktur ebenso unmöglich machen wie jene, die dem kalten, mechanisch-dressierten Sichverstellen innewohnt. Deshalb will Castorf so schnell wie möglich zwischen Konstruktion und Authentischem immer hin- und herpendeln, bis einem alles vor den Augen verschwimmt. Ganz klassisch will er jedem Schauspieler, jeder Figur und letztlich jedem Zuschauer in einem ultimativen terroristischen Akt eines Theaters der clownesken und bierseligen Grausamkeit die Charaktermaske abreißen.

Teil 2