Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.04.2001.

FAZ, 04.04.2001

Eleonore Büning hat die Berliner Philharmoniker gehört, einmal mit dem nüchtern, aber sehr musikalisch dirigierenden Ingo Metzmacher, dann mit dem jungen Daniel Harding, dem Protege von Rattle und Abbado. Sein Dirigieren charakterisiert sie so: "Harding... gehört, obgleich noch unter dreißig, bereits jetzt zu den eleganten Musikdarstellern, denen ein Orchester nur bedingt trauen kann. Seine Schlagtechnik ist rudimentär, er taktiert den Einsätzen hinterher. Doch die herrlich rudernden Gesten, mit denen er die Melodien in der Luft nachmalt, sein Tänzeln und schlangenhaftes Sich-in-den-Hüften-Wiegen sind tatsächlich ein hochromantischer Anblick. Harding wirkt wie aus einer alten Novelle entsprungen: ein bleicher, schmaler Kapellmeister Kreisler, der mit fliegenden Frackschößen nervös in Tönen malt und den inneren Affekten der Musik einen sinnlichen, äußeren Ausdruck verleiht. Kurzum: Mangel an Handwerk kompensiert dieser junge Dirigent durch eine sehenswerte Show."

Der CDU-Politiker Jürgen Rüttgers plädiert gegen das therapeutische Klonen. Gleich zu Beginn seines Artikels finden wir folgende bedenkenswerte Passage: " Der Mensch hat Würde. Das heißt, er hat absoluten Wert. Die Achtung seiner Würde ist die Achtung seines absoluten Wertes. Absoluter Wert ist das Gegenteil von nur relativem Wert." Ein Hegel der deutschen Politik! Interessant auch das redaktionelle Kästlein, das diesen Artikel begleitet: " Jürgen Rüttgers, der Vorsitzende der nordrhein-westfälischen CDU und ehemalige Zukunftsminister, hat unlängst den Anstoß dazu gegeben, gesellschaftlich umstrittene Projekte der Biopolitik nach dem Motto 'rechtswidrig, aber straffrei' zu regeln. Er wurde deshalb als einer der Stichwortgeber in der großen Koalition der Durchwinker wahrgenommen." Und zwar von der FAZ! Und weiter: "In diesem Beitrag zu unserer Feuilleton-Debatte lässt er seinen Vorschlag stillschweigend unter den Tisch fallen" Wenigstens eine Zeitung, bei der Politiker zum Rapport antreten.

Milosevic' Ende bringt den amerikanischen Lyriker Charles Simic zu Einsichten in die Psyche des Diktators: "Ich muss zugeben, dass ich überrascht war, als Milosevic im letzten Oktober so schnell gestürzt wurde. Ich wusste wohl, dass er sowohl schlau als auch dumm ist, aber ich hatte vergessen, was die Geschichte lehrt: Letzten Endes trüben Hochmut und Arroganz das Urteilsvermögen eines jeden Diktators. Wenn einem täglich gesagt wird, man sei großartig, und wenn man sogar von seinen schlimmsten Feinden für ein böses Genie gehalten wird, wird auch der misstrauischste Psychopath irgendwann unvorsichtig."

Die Pläne, Professoren nach einer Hochschulreform differenziert und nach Leistung zu bezahlen, stimmen Jürgen Kaube skeptisch: "Gerade aus England liegen hier Erfahrungen dazu vor, was geschieht, wenn 'Leistungskriterien' zur Mittelzuweisung an Universitäten eingeführt werden. Das Personal der dortigen Hochschulen ist über ganze Wochen hinweg lahmgelegt - durch Evaluierungskommissionen." So entstehen doch wertvolle neue Stellen.

Weitere Artikel: Der Berliner Politologe Herfried Münkler schreibt, dass Kohl vielleicht nicht korrupt war, "gleichwohl war sein Handeln korrumpierend". Der Soziologe Nico Stehr und der Physiker Hadi Dowlatabadi fordern Anpassungsstrategien für den Klimawandel. Auf der Stilseite stellt Erwin Seitz den Koch Nils Potthast vor aus dem Rheingau vor, der den Blumenkohl mit Nougat vermählt. Gerhard Stadelmaier gratuliert Angelica Domröse zum Sechzigsten. Leo Wieland begibt sich auf die Spuren von Edgar Degas' New-Orleans-Zeit, Ellen Kohlhaas hatte Eindrücke beim diesjährigen Budapester Fühlingsfestival. Andreas Rossmann gratuliert dem Kölner Architekten Hans Schilling zum Achtzigsten. Sonja Zekri erzählt, dass die rumänische Landreform neuen Unfrieden nach Transsylvanien bringt. Susanne Staerk gratuliert dem Kinderbuchautor Helme Heine zum Sechzigsten (er wurde demnach am selben Tag geboren wie Angelica Domröse!). Arnold Bartetzky würdigt Peter Kulkas Umbau des Leipziger Universitätshochauses.

Besprechungen widmen sich der Ausstellung zur frühen sowjetischen Avantgarde im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe, dem Filmfestival "femme totale", einem Auftritt des Rappers Everlast und einer Ausstellung über japanisches Textildesign.im Frankfurter Museum für Angewandte Kunst (die Adresse ist leider so kompliziert gebaut, dass man nicht zur Ausstellung verlinken kann).

SZ, 04.04.2001

Bundeskanzler Gerhard Schröder plädiert für eine Stärkung der Zivilgesellschaft und ein "Verhandeln 'im Schatten des Gesetzes'. Wohlgemerkt: Nicht außerhalb des Gesetzes." Als Beispiel führt er die Frauenförderung an: "Ich bin überzeugt, dass die Bereitschaft zur Selbstverpflichtung und die Fähigkeit zur Selbstregulierung bei den gesellschaftlichen Akteuren hinreichend vorhanden sind. Wenn Unternehmen und Unternehmer sich verstärkt gesellschaftlich engagieren, wenn sie bürgerschaftliches Engagement fördern und unterstützen, dann tun sie das gewiss nicht nur uneigennützig. Das ist auch in Ordnung so. Denn wer selbst einen Nutzen hat, das wussten schon die alten Philosophen, wird auch ein gutes Motiv haben, das Gemeinwohl zu befördern." Der in der SZ abgedruckte Text ist ein Auszug der Rede, die Schröder gestern vor dem Siemens-Forum in München hielt.

Hier ein anderes praktisches Beispiel über die Bereitschaft zur Selbstverpflichtung in der Wirtschaft: Konrad Lischka berichtet über die Gründung von MusicNet, einem gemeinsamen Unternehmen von drei der fünf großen Musikkonzerne (Warner, Bertelsmann, EMI) zum Vertrieb von Musik im Internet. "Keiner der fünf Musikriesen dachte daran, seine Ware an Internet-Portale zu lizenzieren. Mit dem Konflikt befasste sich vergangenen Sommer der Justizausschuss des US-Senats. Der Vorsitzende Orrin Hatch drohte: Würde die Musikindustrie nicht ein 'faires und vernünftiges' Angebot vorlegen, müsse sie mit einer gesetzlichen Zwangslizenzierung rechnen. Ganz zufällig wurde nun die Gründung von MusicNet am Vortag einer erneuten Anhörung vor dem Justizausschuss bekannt gegeben. MusicNet ist pure Reaktion, keine Innovation."

Bernd Graff beschreibt, wie "pfiffige Programmierer" als Trittbrettfahrer des Napster-Systems weiter an die Software kommen, die Napster nach einer Gerichtsentscheidung aus dem Sortiment nehmen musste. "Napigator heißt etwa eines dieser Produkte, über dessen Suchfunktionen man nicht nur die Einträge Napsters, sondern ? vor allem! ? die neu eingerichteten Rechner des 'Open Nap'-Systems erreichen kann."

Dieter Wild prophezeit Krieg in Israel. "Was sich vor zehn Jahren erst schemenhaft abzeichnete, hat inzwischen scharfe, düstere Konturen gewonnen: Die zionistische Staatsgründung, die erfolgreichste und ungewöhnlichste des 20.Jahrhunderts, die dem Schriftsteller Amos Oz als 'Muster für die arabische Umwelt' und gar als 'Modell für die Errettung der Welt' erschienen war, könnte ihrem arabischen Umfeld erliegen, dem sie bislang überlegen war." Den Grund sieht Wild vor allem darin, dass die Israelis vom palästinensischen Terror "ins Mark" getroffen werden, "der israelische Gegenterror aber die Palästinenser, trotz ihrer bisher fast 400 Toten", nicht zu treffen scheint.

Schließlich schreibt Anne Zielke in der Reihe "Das war die BRD" über den Pass.

Besprochen werden Steven Soderberghs Film "Traffic", Daniel Libeskinds "erste Opernarbeit im Dienst von 'Tristan und Isolde'" in Saarbrücken, die Aufführungen zweier Prosatexte von Thomas Bernhard als Dramen in Wien, "Workspheres" ? eine Ausstellung im New Yorker Museum of Modern Art über Technologie und Design am Arbeitsplatz und zwei Bücher von Menschen, die mit Picasso gelebt haben (siehe auch unsere Bücherschau des Tages heute ab 14 Uhr).

FR, 04.04.2001

Schon schien man sich mit der Übernahme Italiens durch Berlusconi abgefunden zu haben, da regen sich Frechheit und Widerstand, meldet Carl Wilhelm Macke: "Unvergesslich wie souverän und gelassen etwa der Fernsehmoderator Michele Santoro in seiner Talk-Show dem arroganten Berlusconi gezeigt hat, dass er noch nicht Herr im Haus der RAI ist. Bei der Lektüre einiger Kommentare in der Repubblica, ja sogar im moderaten Corriere della Sera reibt man sich erstaunt die Augen. So viel Schärfe, Eindeutigkeit und stilistische Brillanz hat man in italienischen Zeitungen schon lange nicht mehr registriert."

Martina Meister skizziert die Pläne des neuen Leiters des Londoner Goethe-Instituts, Ulrich Sacker, und denkt über deren Arbeit im allgemeinen nach: "Auch wenn Außenminister Fischer die deutsche Nationalstaatsbildung für abgeschlossen erklärt, hapert es noch ein wenig mit der Selbstfindung. Nur wird, während über deutsche Leitkultur gestritten wird, die händeringende Suche nach einem neuen Konzept auswärtiger Kulturpolitik immer absurder. Was ließe sich aus dem derzeitigem Debattenzirkus exportieren außer dem deutschen Problembewusstsein?... So recht geübt ist man auch noch nicht im Export des 'cool Germany', das in den ersten, vagen Versuchen immer ein 'cool Berlin' ist. "

Weitere Artikel: Eva Schweitzer berichtet, dass Stücke über die Nazis am Broadway Konjunktur haben (muss man das nicht als eine Krisensymptom auffassen?) Rüdiger Suchsland hat eine Tagung über Niklas Luhmanns "Politik der Gesellschaft" besucht. Jochen Stöckmann hat einem Symposium zur Vorbereitung eines Internationalen Zentrums für Gartenkunst zugehört. Besprochen werden Fotografische Arbeiten von Jean Baudrillard, Daniel Masclet und Guy Peellaert im Maison europeenne de la Photographie in Paris, Arbeiten von Tacita Dean in der Londoner Tate Gallery, ein Schostakowitsch-Konzert des Philharmonischen Staatstheaterorchesters Mainz unter Stefan Sanderling und "Senza Fine" - Joachim Schlömers letztes Tanzstück für das Theater Basel.

TAZ, 04.04.2001

Brigitte Werneburg unterhält sich mit Monika Griefahn (SPD), der Vorsitzenden des Kulturaussschusses im Bundestag. Sie äußert sich unter anderem zur Berliner Schlossdebatte: "Wenn man den Platz neu bebaut, um ausschließlich auf Geschichte zurückzugreifen, halte ich das auch von der historischen Dimension her für falsch." Auch den Vorschlag, in dem wiederaufgebauten Stadtschloss den BND unterzuringen, hält sie für "nicht zugänglich".

Christiane Kühl schreibt die erste Folge einer Kolumne über Jerusalem: "Jedes Flugzeug, das die Schallmauer durchbricht, lässt heute panisch zusammenzucken. Im Tal weit hinter der Stadt steigen schwarze Rauchwolken auf. Wird Bethlehem bombadiert? Liegt da eine Müllverbrennungsanlage?"

Besprochen wird eine Ausstellung über Thomas Bernhard in der Österreichischen Nationalbibliothek.

Schließlich Tom.

NZZ, 04.04.2001

Uwe Justus Wenzel schildert, wie bei den "Darmstädter Gesprächen" Wolfgang Schäuble und der slowenische Kulturphilosoph Slavoj Zizek aufeinandertrafen (der in der Internetausgabe NZZ übrigens als "iek" erscheint, weil das System die Häkchen über dem Z nicht mag). "Zizeks Forderung, die internationale Menschenrechtspolitik aus dem Zwielicht zu holen, in das sie die Machtinteressen der Großen gelegentlich bringen, stieß bei Schäuble auf höfliche, mildirritierte Gegenwehr. Vermutlich nicht grundsätzlich, sondern des damit verknüpften konkretenVorschlags wegen: Die 'Logik' der Tribunalisierung, die im Falle Pinochets nun gegriffen habe, möge man doch konsequent handhaben - und 'im Zentrum' zuschlagen. Abgesehen hatte es Zizek damit auf einen - gleichfalls ausgedienten - Politiker der USA, auf Henry Kissinger."

Besprochen werdem Wedekind- und Bernhard-Inszenierungen in Wien und Bartoks "Herzog Blaubarts Burg" und Schönbergs "Erwartung" in Graz.

Und sonst bringt die NZZ heute ausschließlich Buchkritiken, unter anderem über Edwin Blacks "IBM und der Holocaust", über den slowenischen Dichter Florjan Lipus und über Christine Wolters Roman "Das Herz etc." (Siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).