Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.07.2001.

NZZ, 14.07.2001

Sommerfrieden herrscht im heutigen Feuilleton der NZZ. Nichts von Belang. Hübsche kleine Artikel, die man auf der Terrasse des Ferienhauses als Einschlafhilfe für die Siesta benutzen kann.

Hans-Jörg Neuschäfer betrachtet das Leben im zentralen Madrider Stadtpark, dem Retiro, der nur 900 mal 1.500 Meter groß ist und dennoch die gesamte Bevölkerung der Stadt anzuziehen scheint.

Besprochen werden die Ausstellung über den "Schwarzraum" in der Gegenwartskunst im Kunstmuseum Bern, die 53. Opernfestspiele in Aix-en-Provence und einige Bücher, darunter Ulrich Enzensbergers Versuch über die "Parasiten", neue Erzählungen von Reinhold Federmaier und Haruki Murakamis Roman "Naokos Lächeln". (Siehe unsere Bücherschau morgen ab elf Uhr.)

In der Samstagsbeilage Literatur und Kunst geht's drei Mal um Basel: Thomas Maissen beschreibt, wie man sich vor genau 500 Jahren, beim Eintritt Basels in die Eidgenossenschaft, "Gross fruntschaft, truw und liebe" schwor. Wolfgang Kaiser und Claudius Sieber-Lehmann erzählen, wie Basel dann im folgenden zusehends "verschweizerte". Philip Sarrasin untersucht das Verhältnis Basels und der Eidgenossenschaft im 19. und 20. Jahrhundert.

Roman Hollenstein widmet den beiden Mies-van-der-Rohe-Ausstellungen in New York einen langen Essay. Besonders lobt er die vielen unbekannten Dokumente, die das Moma (dem van der Rohe seinen Nachlass hinterließ) über seine Berliner Pläne präsentiert. Und die Ausstellung kommt ja demnächst auch nach Berlin. In einem weiteren Architektur-Essay denkt Margit Ulama über das Ornament in der neuesten Architektur nach.

Zudem lobt Bruno Hitz ausgerechnet Marcel Prousts Theorie der Liebe (bei der wir uns so gelangweilt haben) als zentralen Baustein der "Recherche", und Felix Philipp Ingold bespricht einen französischen Band mit "Verlorener Poesie" von Paul Valery.

TAZ, 14.07.2001

Thomas Winkler hat Joe Strummer, den Sänger der nicht mehr existierenden Clash, in Berlin getroffen, porträtiert ihn liebevoll und erklärt, wie es zu zu Strummers "nahezu zehnjähriger Arbeitsverweigerung" kam. Über seine neueste Platte "Global a gogo" schreibt er: "Selten wohl hat sich ein Auslaufmodell so frisch angehört. Nur noch selten erinnert Strummers Band an klassischen Punkrock. Stattdessen adaptiert sie südamerikanische Rhythmen, osteuropäische Melodien und keltische Folk-Einflüsse, um so etwas wie eine Dubversion der späten, experimentelleren Clash abzuliefern."

Zwei Besprechungen widmen sich außerdem dem Theaterfestival von Avignon und dem Filmfestival von Karlsbad.

Im taz-Mag lässt Rainer Moritz, der Verleger von Hoffmann & Campe, seiner Liebe zum deutschen Schlager freien Lauf. Genauer geht es um den "Sommerhit", "eine nicht exakt abzugrenzende Untergattung des Schlagers", also "jene Melodien, die den Taumel ausschweifender Ferienfreuden kräftig befeuern und in ihrer fröhlichen Schlichtheit oft zu den besonders erschütternden Zeugnissen deutschen Gesangsguts zählen".

Schließlich Tom.

SZ, 14.07.2001

Holger Liebs ist ganz aus dem Häuschen über ein Konzert der gerade tourenden U2: "Bono kann vor Kraft kaum laufen. Er steht manchmal einfach da, wie der schwarze Monolith aus dem Film '2001 ? Odyssee im Weltraum', ein Block voll implodierter Energie. Das ist großartig." Als Gegengift empfehlen wir einen Artikel aus der aktuellen Weltwoche.

Über die Renaissance Guy Debords, eines frühen, superlinken, Medientheroetikers, der in Frankreich und darüber hinaus kultische Verehrung genießt, schreibt Hans-Peter Kunisch: "Wer heute die 'Gesellschaft des Spektakels' liest, reibt sich die Augen. Debords Stichwort war nicht 'Massenkommunikation', nicht 'Wunsch- Maschine', nicht 'Eindimensionalität', doch stellt Frederic Martel ihn zurecht in eine Reihe neben Marshall McLuhan, Deleuze und Marcuse. Mit dem ersten Teil seines Buchs hat Debord Ende der sechziger Jahre, also lange vor dem Zeitalter des Infotainments, des Kabelfernsehens und des Werbebombardements heutiger Ausprägung eine suggestiv-bilderreiche Beschreibung der Show-Gesellschaft vorgelegt." Anlass von Kunischs Artikel ist eine Debord gewidmete Nummer des Magazine litteraire.

Eva Marz kommt auf ein Kunstherz zu sprechen, das neulich verpflanzt wurde, und ohne groß über den Patienten nachzudenken, der dadurch immerhin gerettet wurde, kommt sie gleich zur kulturkritischen Diagnose: "Das marxistische Wort von der Entfremdung bekommt eine neue unmittelbare Qualität, wenn es nicht mehr die Umstände, die Gesellschaft, die kapitalistischen Ausbeuter sind, die den Menschen fremdbestimmen, sondern wenn das Andere, der Apparat, der ihn regiert und steuert, in sein Innerstes eingedrungen ist, es ersetzt hat, fortan über Leben und Tod entscheidet. Und das auch noch drahtlos. Denn das Herz Abiocor, das ein bisschen aussieht wie eine Apple Computermouse, arbeitet batteriebetrieben."

Weitere Artikel: Helmut Schödel schreibt zum Tod des Wiener Originals Udo Proksch (des ehemaligen Mannes von Erika Pluhar, der wegen sechsfachen Mords im Gefängnis saß). Petra Steinberger denkt über Amerikas Umgang mit der Bioethik nach. Willi Winkler kritisiert die Rolle der katholischen Kirche bei der Beerdigung Hannelore Kohls. Cordelia Edvardson kommentiert Daniel Barenboims Jeruslamer Tabubruch mit Wagner und vor allem die Reaktionen der israelischen Rechten. Henning Klüver berichtet über italienische Überlegungen, den Obelisk von Axum an Äthiopien zurückzugeben. Thomas Thieringer schreibt zum Tod des Regisseurs Adolf Dresen.

Besprochen werden eine Ausstellung über "Mode als Skulptur" im Kölner Museum für Angewandte Kunst und der Film "Der Apfel" der 17-jährigen Regisseurin Samira Makhmalbaf.

In der SZ am Wochenende liefert Fritz B. Simon einen Essay gegen Siegerklischees: "Sieger stehen hoch im Kurs. Michael Schuhmacher genießt nicht nur die Verehrung seiner Fans und die Liebe seiner Sponsoren, sondern er wird auch noch fürstlich honoriert. Diejenigen, die nicht um die ersten Plätze konkurrieren können und stets auf den hinteren Rängen landen, müssen sich im besten Fall als Verlierer verachten oder beschimpfen lassen, im schlechteren Fall bleiben sie unbekannt." Und dabei, so Simon, funktioniert der Sieg als Konfliktlösungsstrategie langfristig nicht. (Ein Beispiel für ihn ist die Magersucht, die ja auch einen "Sieg" über den Körper darstellt.)

Ferner porträtiert Clemens Prokop den Trompeter und "Magier des Klangs" Bud Herseth, der jetzt mit 79 Jahren das Chicago Symphony Orchestra verlässt. Thomas Urban beschäftigt sich mit Anpasser- und Heldentum der polnischen Intellektuellen unter dem alten Regime. Und Michael Zeller erkundet in einer Spurensuche auf Hiddensee, wie Gerhart Hauptmann unter Thomas Manns Mijnheer Peeperkorn litt.

FR, 14.07.2001

"Schilys Blamage konnte größer nicht sein", freut sich Wolfgang Templin. Der Bürgerrechtler schreibt über die Standhaftigkeit seiner Kollegin Marianne Birthler, die jetzt die Birthler-Behörde leitet. Anfangs mag sie unterschätzt worden sein. "In der entscheidenden Situation, nach dem Verwaltungsgerichtsurteil zu Gunsten Kohls vom 4. Juli, zeigte diese jedoch, was wirklich in ihr steckt, und ließ den Innenminister eiskalt auflaufen." Templin verweit auch auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das 1984 "zugunsten einer Veröffentlichung illegal gewonnenen Materials argumentiert: '. . . wenn die Bedeutung der Informationen für die Unterrichtung der Öffentlichkeit und für die öffentliche Meinungsbildung eindeutig die Nachteile überwiegt, welche der Rechtsbruch für die Betroffenen nach sich zieht'. Zwischen Veröffentlichungsgebot im Sinne notwendiger Aufklärung und Verwertungsverbot im juristischen Sinne wurde dabei eindeutig unterschieden."

Sehr polemisch schreibt Elke Buhr zu neuesten deutschen Diskussionen über Familie und Erziehung und auch darüber, wie Susanne Gaschke in ihrem Buch "Die Erziehungskatastrophe" mit Einsichten Adronos verfährt: "Von ihm zitiert Gaschke das Diktum, die Erziehung müsse vor allem dafür Sorge tragen, dass Auschwitz als absolute Barbarei nicht noch einmal sei. Die Instrumente, die den Menschen vor der Barberei schützen, findet Gaschke in den Umgangsformen. 'Das schmatzende Kaugummikauen mit halb geöffnetem Mund im überfüllten Zugabteil' aber gehöre bereits zu den 'Anmaßungen, die zivilisatorische Standards verletzen'. Von Auschwitz zum Kaugummi in drei Sätzen: Drastischer kann man gedanklich nicht regredieren."

Weitere Artikel: Karl Schlögel feiert das zehnjährige Jubiläum der Viadrina, also der Universität von Frankfurt an der Oder. Hans-Jürgen Heinrichs unterhält sich mit dem südafrikanischen Autor Breyten Breytenbach über das Schreiben an und für sich. Peter Iden schreibt zum Tod des Regisseurs Adolf Dresen. Besprechungen widmen sich einer Ausstellung der Sammlung Thomas Olbricht im Neuen Museum Weserburg in Bremen, dem Theaterfestival von Avignon und einigen Büchern.

FAZ, 14.07.2001

Lorenz Jäger hält es für ziemlich sicher, dass Gerhard Schröder ein zweites Mal zum Bundeskanzler gewählt werden wird. Denn Schröder sei der Repräsentant der "harten Währungen", die "nach dem Abschmelzen des utopischen Überbaus" übrig geblieben sind: "Sex, Geld und Macht". Er verkörpere - im Gegensatz zu Angela Merkel - "das, was ist".

Abgedruckt ist die Dankesrede Günter Grass' für den gestern verliehenen Viadrina-Preis der Europa-Universität in Frankfurt an der Oder. Grass erinnert an die schwierigen deutsch-polnischen Beziehungen, die einen weitaus längeren Zeitraum umfassen als die Besetzung Polens durch die Nationalsozialisten. Einig waren sich die zwei Völker jedoch, wenn es gegen die Kaschuben ging. Grass erzählt, wie er einmal in einer "polnisch-deutschen Gesprächsrunde mit intellektuellem Anspruch" einem Streit darüber zuhörte, "ob Kopernikus Deutscher oder Pole gewesen sei": "Ich hörte mir diese national bemäntelten Dummheiten lange Zeit an und übte, wie gelernt, Geduld. Bis mir dann doch der Faden riss und es mir dank meines schriftstellerischen Vermögens gelang, einen weitverzweigten Stammbaum zu entwerfen und bis ins verästelte Detail nachzuweisen, dass Nikolaus Kopernikus kaschubischer Herkunft sei. Daraufhin hatte ich die soeben noch zerstrittenen Nationalisten deutscher wie polnischer Machart gegen mich aufgebracht. Sie eiferten." Am Ende seiner Rede schlägt Grass die Errichtung eines gemeinsamen deutsch-polnischen Museums für Beutekunst vor, das in Form einer Brücke die gegenüber liegenden Seiten der Oder verbinden sollte: "Ein kühner Entwurf ist gefragt. Ich sehe das Bauwerk vor mir: den großen Bogen über den Fluss. So stellt sich ein Stück zukünftiges Europa dar. Denn nicht den Nationen allein gehört die Kunst. Kunstwerke sind, so ortsgebunden sie sein mögen, von ihrer Wirkung her grenzüberschreitend. Sie dürfen nicht länger Kriegsbeute sein."

Weitere Artikel: Paul Ingendaay erzählt die Geschichte der uruguayischen Lehrerin Sara Mendez, die immer noch ihren Sohn sucht, der seit ihrer Verhaftung Ende der 70er Jahre verschwunden ist. Renate Schostack berichtet über Denkmalpflege in Bayern, die jetzt auch Industriebauten schützen will. Alexander Kemmerer berichtet über einen Vortrag Herta Däubler-Gmelins in Würzburg, in dem sich die Justizministerin für eine europäische Verfassung und eine Grundrechtscharta ausgesprochen hatte. Martin Kämpchen zeichnet anlässlich des bevorstehenden Besuchs des pakistanischen Präsidenten in Indien die Geschichte der Beziehung zwischen Pakistan und Indien nach. Dirk Schümer berichtet über Maxime Benoit-Jeannins Buch "Le mythe Herge" (Editions Golias), das Herges persönlich zurechtgebastelten "Mythos als aufrechter Kinderfreund" angreift: "In Wahrheit, so Benoit-Jeannin, war Herge ein Faschist ohne Reue." Gerhard Rohde schreibt zum Tod des Theater- und Opernregisseurs Adolf Dresen. Joseph Croitoru wirft einen Blick in osteuropäische Zeitschriften.

Besprochen werden die Ausstellung 50 Jahre Goethe-Institut im Deutschen Historischen Museum in Berlin, das Konzert von U2 in Köln, eine Ausstellung der "etwas bedrängenden" Sammlung Olbricht im Neuen Museum Weserburg, der Film "Original Sin" mit Angelina Jolie und Antonio Banderas und Foto-Anschlag, eine Ausstellung im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig über DDR-Fotografen, die "den freien Blick in der Unfreiheit probten".


In der Beilage "Bilder und Zeiten" ist eine Erzählung von Christoph Peters abgedruckt: "Der Dattelhain". Hier der Anfang: "Ihre Koffer sind mit den ersten auf dem Gepäckband. Und sie hat es eilig: Morgen kommt der saudische Außenminister. Ciao, vielleicht trifft man sich ja mal wieder. Auch die Zöllner starren ihr ungläubig nach. Nein, sie wirft keinen Blick zurück. Die automatische Tür schießt sich lautlos. Damit ist unsere Geschichte zu Ende."

Weitere Artikel: Elfie Siegl schreibt über den Konflikt zwischen Inguschen und Osseten, Julia Spinola schreibt über den Komponisten Arnold Schönberg, und Josef Oehrlein stellt den argentinischen Karikaturisten Sabat vor. Besprochen werden Bücher, darunter ein Gedichtband von Jan Zahradnicek (siehe auch unsere Bücherschau morgen ab 11 Uhr). Und in der Frankfurter Anthologie stellt Heinz Ludwig Arnold ein Gedicht von Friedrich Dürrenmatt vor: "Kronenhalle"