Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.03.2002. Die NZZ hat Susan Sontag besucht. In der SZ liefert Marino Freschi eine neapolitanische Erinnerung an Hans-Georg Gadamer. Die FR denkt über den Surrealismus als Attacke auf den Wirklichkeitsbegriff nach. Die FAZ untersucht die Überraschungseier, die Peter Olson seinen Bertelsmännern zu Ostern ins Nest legt.

NZZ, 16.03.2002

Der interessanteste Artikel der NZZ findet sich heute in der Beilage Literatur und Kunst. Andrea Köhler hat Susan Sontag in New York besucht und ein sehr schönes Porträt der Schriftstellerin und Essayistin mitgebracht. "Dass andere eine Ikone aus ihr gemacht haben (sagt sie), könne nicht ihr Problem sein (sagt sie), und eigentlich hat sie die Nase voll davon, sich ihres Rufes wegen dauernd zu rechtfertigen. Zu diesem Ruf gehört, dass sie selbst daran kräftig mitgewirkt hat; eine Meisterin der Selbstinszenierung ist sie immer gewesen - auch wenn sie jetzt gern ein wenig kokett die strenge Geistesarbeiterin spielt, die sich um ihren Leumund nicht sonderlich schert... Daraus zu folgern, ihre Karriere beruhe auf ihrem Instinkt für Publicity, ihrem Riecher für die richtigen Themen und wichtigen Leute zur richtigen Zeit, gehorcht derselben (sehr amerikanischen) Logik, mit der sie jetzt jede Verantwortung für ihre Reputation von sich weist. Dabei ist Susan Sontag nur dem großen Versprechen dieser Nation gefolgt: Sie hat sich selber erfunden."

Gar nicht gut kommt allerdings Sontags neuer Roman "In Amerika" bei Angela Schader weg ("Das Buch lässt einen mit einem ähnlich überfüttert-ungesättigten Gefühl zurück wie eine ausschliesslich aus Patisserien bestehende Mahlzeit").

Weitere Artikel in der Beilage: Ulrich M. Schmid erklärt das Phänomen der russischen Lagerliteratur von Dostojewski bis zu Solschenizyn. Dazu ist auch auch eine Rezension von Pawel Florenskis Briefe aus dem Lager zu lesen.

Im Feuilleton finden sich eher kleinere Schmuckstücke. Ein rührend altmodisch anmutender Gerhard Neumann beklagt das Verschwinden höflicher Gesten: "Es scheint, als sei die Geste der sich ballenden Faust nach und nach an die Stelle anderer Gesten einer Hand getreten, die, leicht geöffnet und entspannt, einem älteren Passagier einen Sitzplatz in der überfüllten Strassenbahn anbietet (Oder einer jüngeren Frau!)... Gesten der Höflichkeit sind keine Aussagen, sie sind keine Handlungen, und sie sind auch keine Symbole. Aber sie öffnen die Szene für eine immer noch mögliche Utopie der Menschlichkeit." Jawohl, meine Herren!

Weitere Artikel: Marli Feldvoss erklärt den französischen Regisseur Andre Techines zum "nachgeborenen Regiesohn des großen Realisten und Humanisten Jean Renoir", sein neuer Film "Loin" sei vielleicht der erste Meilenstein einer zweiten "nouvelle vague". Andreas Oplatka erzählt die Geschichte des ungarischen Nationaltheaters, dessen neue Bühne gestern eingeweiht wurde ­ nach Jahren eines nahezu undurchschaubaren parteipolitischen Gerangels um Standorte und beanstandete Ausschreibungen, um Proteste der Architektenkammer, um Ernennungen und Aufträge. Des weiteren wundert sich Joachim Güntner über deutsche Stimmen zum Tode Gadamers, die den Philosophen mal über- mal unterschätzten. Und Birgit Sonna freut sich über den Wechsel Christoph Vitalis vom Münchner Haus der Kunst zur Fondation Beyeler im Schweizer Riehen.

Besprochen werden eine Ausstellung von Erwin Wurms Plastiken in Graz und viele Bücher, darunter eine Geschichte der Moskauer Metro, die Tagebücher der Vorarlberger Schriftstellerin Grete Gulbransson sowie ein Reiseführer durch die Bukowina aus dem Jahr 1907 (siehe auch unsere Bücherschau Sonntag ab 11 Uhr). 

SZ, 16.03.2002

Navid Kermani führt seinen Reisebericht aus Israel und den besetzten Gebieten fort und erklärt die demütigende Funktionsweise der zum Alltag der Palästinenser gehörenden israelischen Checkpoints als diejenige eines Laboratoriums, "in dem mit möglichst geringen Mitteln jene Aggression erzeugt wird, von der sich die Extremisten beider Seiten nähren". Manifest aber werde der Zorn der Palästinenser erst in den Städten, den Cafes, den Hörsälen, wo eine Frage genüge, sie aus der Fassung zu bringen, ihr Leben und das der Besatzer zu verfluchen, und auf den Plakaten, die auf beinah jeder Hauswand die Opfer beklagten oder die Selbstmordattentäter verherrlichten.

Eine neapolitanische Erinnerung an Hans-Georg Gadamer liefert der in Rom und Neapel lehrende Germanist Marino Freschi: "Solange er es konnte, ging er am Lungomare Caracciolo spazieren und ließ sich dabei gern von seinen Schülern begleiten, um über die Griechen zu sprechen. Es schien uns, als kehre mit ihm die Philosophie an ihre Ursprünge zurück, peripatetisch, fragend und brüderlich, als eine Botschaft und Frage von Mensch zu Mensch, während der Klang seiner Worte, seines überaus persönlichen, ebenso unwahrscheinlichen wie verführerischen Italienisch sich in dem Blick und in dem Lächeln verlor, mit dem er das Meer betrachtete." (Siehe auch unser Link des Tages zu Gadamer)

Weitere Artikel: Wie die Theorie der Globalisierungskritik langsam zur Praxis aufschließt und das Gequassel so mancher Globalisierungsglobetrotter ablöst, erklärt ein sichtlich erleichterter Alex Rühle in einem Beitrag. Wir erfahren, wie Harald Schmidt Joris-Karl Huymans' Roman-Klassiker "Gegen den Strich" jüngst zum Bestseller machte. Martin Köhl berichtet von einer in Bamberg erdachten technischen Neuerung, die das Klavierspiel revolutionieren dürfte. Friedemann Voigt empfiehlt einen kleinen eleganten Aufsatz Jan Assmanns über den Ursprung der vergleichenden Religionsgeschichte. Christian Kortmann macht sich Gedanken über das Leben auf Inseln und im "outer space". Gustav Seibt meldet eine "furchtbar peinliche" Veranstaltung mit dem Autor Jochen Missfeldt ("Gespiegelter Himmel") im Bundesverteidigungsministerium (!), und der mächtigste Verleger der Welt, Random-House-Chef Peter Olson, erläutert die Sparstrategien in seinem Verlag.

Besprochen werden Uwe Jansons neuer Film "Nachts im Park", eine abgründige Aufführung des holländischen Hans Hof Ensembles im Münchner Theater der Jugend, Martin Crimps neues Stück "Face to the Wall" und Jon Fosses "Die Nacht singt ihre Lieder" im Doppelpack am Londoner Royal Court, Josef Fares' lockerer Schwedenfilm "Jalla! Jalla!", Liszts Graner Messe, dirigiert von Jörg-Peter Weigle im Münchner Herkulessaal, die Oper "Die Bürgschaft" von Neher/Weill beim Kurt-Weill-Festival in Dessau und Bücher, darunter ein in New York erschienener Fotoband des Filmemachers und Folkmusikers John Cohen und Helmut Koopmanns Geschichte der Liebe zwischen Goethe und Frau von Stein (siehe auch unsere Bücherschau Sonntag ab 11 Uhr).

In der Wochenendbeilage der SZ stellt Cathrin Kahlweit den sympathischen Berliner Jungdichter Jakob Hein vor, und Ferdinand Mount, Chefredakteur des gerade 100 Jahre gewordenen "Times Literary Supplement", spricht über die Zukunft des renommierten Literaturjournals, das er künftig vor allem als wichtige Form der Erwachsenenbildung sieht, "die, im Idealfall über die Beschäftigung mit der aktuellen Literatur hinaus das gesamte intellektuelle Leben mit seinen Facetten zu beobachten und grenzüberschreitend zu beschreiben versucht, die ein wachsames Auge auf diese große Szenerie hat".

TAZ, 16.03.2002

"Jetzt gibt es nur noch Philosophiebeamte." Mit Norbert Bolz trauert nun auch die taz um Hans-Georg Gadamer, den "letzten Sänger der Gutenberg-Galaxis". Bolz allerdings bleibt kritisch, wenn er Gadamers Hauptwerk "Wahrheit und Methode" als das philosophische Projekt der Antimoderne hinstellt: "Rettung der legitimen Vorurteile, Rehabilitierung der Autorität, und zwar vor allem jener anonymen Autorität, die man Tradition nennt. Im 'Immer schon' des Verstehens (des hermeneutischen Zirkels, Red.) bleiben wir diesseits der guten Gründe und besseren Argumente ... Gadamer hat zugunsten der philosophischen Wahrheit auf die wissenschaftliche Methode verzichtet. Den nächsten Schritt, nämlich zugunsten eines konzilianten Seins zum Text auf die Wahrheit zu verzichten, hat er nicht mehr getan."

Weitere Artikel: Frank Schäfer erzürnt sich über den neuen Jerry Cotton "Black Metal - Sound des Todes" ("reaktionärer, böswillig vereinfachter Agitprop gegen die Gothic-, Dark-Wave- und Black-Metal-Szene"), und Florian Malzacher stellt ein Theaterprojekt vor, bei dem 666 Darsteller eine Sitzung des Parlaments im alten Bundestagsgebäude in Bonn nachstellen sollen.

Und das Magazin bringt ein dickes Dossier zum Thema Ökotourismus (hier der einleitende Artikel von Christel Burghoff und Edith Kresta) u.a. mit einem Beitrag über den französischen Landschaftsarchitekten Gilles Clement, der auf die ursprüngliche Vielfalt und Wildheit von Gärten baut, die "sich selbst entwerfen".

Schließlich Tom.

FR, 16.03.2002

Peter Iden hat sich im Pariser Centre Pompidou umgesehen, wo gerade die bislang umfangreichste Surrealismus-Retrospektive zu sehen ist. War die neue Richtung wirklich das "gefährlichste Toxin für die Fantasie", wie Dali es nannte, eine Revolution, wie es der Titel der Rückschau behauptet? Ja, meint Iden, "wenn man die Konsequenzen bedenkt, welche die von den Surrealisten vorgetragene Attacke auf den Wirklichkeitsbegriff weitläufig für die wechselnden Strömungen der Malerei der vergangen achtzig Jahre hatte." Etwas enger gefasst, lasse sich die Frage aber auch verneinen: "In der Malerei (wie auch literarisch) war der Surrealimus, indem er den Künstler reduzierte zum bloßen Medium der Beobachtung unkontrolliert in seinen Träumen ablaufender Bilderfolgen, auch ein anachronistischer Stil: vor-freudianisch, anti-emanzipatorisch, fern der Zeit und ihrer politischen Schrecken, auf die Dali mit seinem Das Rätsel Hitler noch 1939 nur anekdotisch reagiert."

Außerdem lesen wir einen Vorabdruck aus einem "Roman in Briefen" von Barbara Bongartz und Alban Nikolai Herbst, Dirk Fuhrig lauscht beim 2. Literatur-Marathon "lit.Cologne" und sieht Köln schon als neue Literaturmetropole, Sacha Verna berichtet über Sparzwänge im New Yorker Kulturdepartment, Hubertus Adam freut sich über die Sanierung des Muche-Schlemmer-Hauses in Dessau, Gisela von Wysocki blättert im zweiten Band der Nachgelassenen Schriften Theodor W. Adornos und ist froh, dass keine "disziplinierte" Theorie draus geworden ist, Navid Kermani pflegt die literarische Finesse des Bewusstseinsstroms, Gunnar Lützow sieht sich in London mit "Segelscheinen mit gesundem Gebiss" und pöbelnden Oxford-Absolventen konfrontiert, und Harald Keller gratuliert dem Country-Musiker Jerry Jeff Walker zum 60.

Rezensionen widmen sich einem Band mit Heliogravüren (einem Mischverfahren aus Radierung und Fotografie) ausgestopfter Vögel (!), einem misslungenen Roman der Kinderbuchautorin Agnes Desarthes, Giorgio Agambens intellektuellem Bestseller "Homo sacer" sowie zwei Büchern über Wolfgang Koeppen (auch in unserer Bücherschau Sonntag ab 11).

Im Magazin schließlich berichtet Rolf Paasch von den Dreharbeiten zu Jacques Perrins Gänse-Film "Nomaden der Lüfte". Wir erfahren, welchen Stellenwert das Songschreiben für Bob Geldof besitzt ("es ist wie pissen"), und was Johnny Depp vermisst, seit er in Frankreich lebt: "Es gibt einfach diese Tage, an denen ich einen Heißhunger auf richtig fettige, richtig trashige, richtig triefende Tacos von Taco Bell habe ... Das ist einfach Teil meines chemischen Seins."

FAZ, 16.03.2002

Über die Verlagsbranche ist im deutschen Feuilleton gemeinhin wenig zu lesen, es sei denn, sie macht mit einem Löwengebrüll auf sich aufmerksam. Jetzt ist es wieder soweit: Anlass ist die vor-österliche Stippvisite von Peter Olson, oberster Bertelsmann-Buchlenker, der, wie Hannes Hintermeier berichtet, "am Donnerstag in München bei einer Betriebsversammlung ein veritables Osternest mit vielen bunten Überraschungseiern enthüllt" hat. Nicht nur, dass die bisherigen Geschäftsführer für Marketing und Finanzen, Volker Neumann und Ulrich Geiger, den Hut nehmen mussten. Es wurden auch gleich noch "zwei neue Hierarchieebenen" eingezogen. Ostergeschenk oder eher Danaergeschenk? (Hier auch ein lesenswerter Artikel von Gerhard Beckmann aus der Welt von heute und hier noch ein Bericht aus der NZZ von Joachim Güntner.)

Krisenerfahren ist auch Gerd Haffmans, dessen Verlag zwar gescheitert ist, der aber, wie Tilman Spreckelsen schreibt, ein neues Feld gefunden hat: Als Lektor soll Haffmans eine Programmlinie bei Zweitausendeins betreuen. Doch Frank Schulz, seine wichtigste Entdeckung des vergangenen Herbstes, will ihm nicht folgen.

Mit einem am Telefon über den von der DDR eingeschleusten Brandt-Spion Guillaume schimpfenden Max Frisch hebt Jörg Magenaus Essay über die "Seelsorgerin und Ärztin" Christa Wolf an - ein Vorabdruck aus Jörg Magenaus Christa-Wolf-Biografie, die in diesem Monat erscheint.

Weitere Artikel: Die Schriftstellerin Patricia Highsmith erörtert in einem heute "erstmals abgedruckten" Text aus dem Jahr 1987 (!), warum sie schreibt: "Ich glaube, dass ich schreibe, weil ich andere unterhalten will" - wer hätt's gedacht? Die öffentliche Schule in Frankreich, erklärt uns Joseph Hanimann, entdeckt das Religiöse als Schulfach - "als kulturelles Gesellschaftsverhalten" mit zivilisationsprägender Bedeutung. Wer die Debatte um den Troia-Streit noch überblicken kann und will, dem erläutert Wolf-Dietrich Niemeier (Erster Direktor der Abteilung Athen, des Deutschen Archäologischen Instituts) seine Position. "Im Herzen der Depression". Im Nürnberger Arbeitsamt, schaut Andreas Rosenfelder einem Arbeitsvermittler über die Schulter. Aus Mailand meldet Dietmar Polaczek, dass der vermutete Kunstbetrug in den Fernsehauktionen von Giorgio Corbellis Telemarket ein größeres Ausmaß hat als angenommen. Lutz Klinkhammer schildert die mythischen Nachwirkungen des Massakers auf der griechischen Insel Kephalonia, wo im Zweiten Weltkrieg tausende italienischer Soldaten von Deutschen gefangen genommen und zum Teil erschossen wurden.

Besprochen werden heute: Museal-künstlerisches: die Ausstellung "Prüderie und Leidenschaft" im Münchner Haus der Kunst, Joachim Koesters Fotoserien in der Kunsthalle Nürnberg, Attersees Bilder im Amsterdamer Stedelijk Museum. Buchstäblich-literarisches: Rolf Vollmanns Kinderbuch "Reise um die Welt", Thierry Lenains und Delphine Durands ebenfalls für Kinder gedachte "Steine auf dem Küchenbord", zwei Fragmente von Arno Schmidt ("Brüssel", die Feuerstelle"), Luigi Pintors "Mispelbaum" und in einer Doppelbesprechung zwei Bücher von Dorothea Dieckmann. (mehr dazu in unserer Bücherschau morgen) Buchstäblich-Journalistisches: sechs schweizerische Zeitschriften, in denen das Alpenland über sich selbst debattiert. Möchtegern-Cineastisches: Tony Scotts Spionage-Casanova-Film "Spy Game" und Uwe Jansons Kriminalfilm "Nachts im Park".

Für die Frankfurter Anthologie hat sich Hellmuth Karasek ein Gedicht von Joachim Ringelnatz (mehr hier) mit dem Titel "Bumerang" geschnappt:

War einmal ein Bumerang;
War ein weniges zu lang.
Bumerang flog ein Stück,
Aber kam nicht mehr zurück.
Publikum - noch stundenlang -
Wartete auf Bumerang.