Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.04.2002. Die FAZ bringt allein im Feuilleton sechs Artikel über die Kirch-Krise. In der FR wettert Nathan Sznaider gegen die europäische Wahrnehmung der Nahostkrise. In der taz spricht der Politologe Herfried Münkler über die "neuen Kriege". Die NZZ sagt: Amerikaner, die weinen, lügen nicht. In der SZ plädiert Karl Schlögel für einen neuen Blick auf Sankt Petersburg.

FAZ, 09.04.2002

Kirch ist so wichtig, dass ihm das Feuilleton drei Artikel auf Seite 1, einen auf Seite 3 und zwei auf der Medienseite widmet.

Menschlich am rührendsten eine Hommage auf den heutigen Springer-Chef Matthias Döpfner von Gerhard R. Koch. Döpfner hat einmal als Musikkritiker unter Koch angefangen. Und heute geht er als "strahlender Jung-Siegfried" aus der Auseinandersetzung mit Kirch hervor. Döpfner scheint in dieser Wagner-Oper sogar eine Doppelrolle zu spielen, denn ein "Riese freilich ist Döpfner in der Tat; an die zwei Meter misst er. Und noch ist in Erinnerung, wie der lange junge Mann sich sogar einmal neben den Schreibtisch des Autors kniete, um dessen Redigierarbeit auf Augenhöhe verfolgen zu können. Auf die ironische Bemerkung, solch ein Kniefall sei doch ein wenig zuviel der Ehrerbietung, meinte er freundlich ruhig: Ihm sei es so schon recht, überdies durchaus bequem." Guter Mann.

Weiteres zu Kirch: Jürgen Kaube erläutert, dass der Hauptgegensatz im heutigen Kapitalismus nicht mehr in Kapital und Arbeit, sondern in Schuldner und Gläubigern liegt. Reinhard Markner findet selbst in der Kirch-Krise einen Anlass, auf die Rechtschreibreform zu schimpfen, denn es müsse "bankrott gehen" und nicht "Bankrott gehen" heißen (uns war schon immer klar, dass eine Rechtschreibreform, die nicht die gemäßigte Kleinschreibung einführt, ihres Namens ohnehin nicht würdig ist). Dirk Schümer findet, dass die Bundesregierung "konform mit der abendländischen Tradition der Erlebnisgesellschaft geht", falls sie die Bundesliga nun subventioniert. Auf der Medienseite erinnert Jörg Thomann an Kirchs heimliche Leidenschaft: gigantomanische Fernsehserien, die von Napoleon, mindestens aber von Gott handeln. Und Souad Mekhennet beschreibt, wie die Krise flugs für den Wahlkampf ausgenützt wird.

Interessant ist aber auch Lukas Webers Kommentar auf der Wirtschaftsseite, der offen für Pornographie im Bezahlfernsehen eintritt: "Warum darf es nicht zeigen, was in der Videothek legal verbreitet wird? Der erfolgreiche französische Abonnementsender Canal Plus zeigt nachts Streifen, die den deutschen Medienwächtern die Röte ins Gesicht treiben." Ja, ist denn die Aufklärung nicht mehr im Feuilleton zuhaus?

In der Reihe der Autoren des Schriftstellerparlaments, die ihre Reiseerlebnisse aus Israel und den besetzten Gebieten schildern, ist heute Wole Soyinka (mehr hier) dran: "Wir sahen die Checkpoints, die Tausende Palästinenser täglich passieren, um zu ihren Arbeitsplätzen zu gelangen - in Israel, ihrer einzigen wirtschaftlichen Basis. Wir standen in endlosen Autokolonnen von Palästinensern, die täglich zur Arbeit fahren und bei der Rückkehr ein zweites Mal warten müssen. Diese Kolonnen erinnerten mich an das Nigeria zwischen dem ersten Militärputsch und dem Biafrakrieg und der Zeit unmittelbar danach. Ich erinnerte mich an Verzweiflung, Resignation, aber auch an den kochenden Zorn einer Bevölkerung, die tagtäglich von arroganten Militärs gedemütigt wurde."

Weitere Artikel: Zhou Derong erzählt die Geschichte des Harvardprofessors Xu Xiping, der ins Zwielicht geriert, weil er chinesische Genproben in die USA exportierte. Hermann Kurzke gratuliert Carl Amery zum Achtzigsten. Auf der Bücher-und-Themen-Seite begründet Markus Völkel, warum "die Geschichtswissenschaft das Spiel mit der Fiktion nicht scheuen" sollte. Und Felicitas von Lovenberg berichtet über britische Debatten über Berhard Schlinks Welterfolg "Der Vorleser".

Auf der letzten Seite schreibt Martin Mosebach (mehr hier) eine kleine Hommage auf Botho Strauß uns seine Einlassungen zum 11. September im Stück "Unerwartete Rückkehr" und im Essay "Der Schlag". Dieter Bartetzko gratuliert dem Rocksänger Roger Chapman zum Sechzigsten. Verena Lueken erzählt die unendliche Geschichte von Martin Scorseses Film "Gangs of New York", der nicht fertig werden will - er sollte in Cannes gezeigt werden, aber auch das wird nicht klappen (auch die NY Times brachte übrigens einen Artikel über Scoseses Konflikt mit seinem Produzenten Harvey Weinstein). Und Gina Thomas schreibt ein kleines Porträt über den Historiker Simon Schama (mehr hier und hier), der für die BBC die Trauerfeierlichkeiten für die Königinmutter kommentierte.

Besprechungen gelten Becketts "Spiel" in Leipzig, Harold Pinters "Stummer Diener" in Bochum, Janaceks "Katja Kabanowa", dirigiert von Ingo Metzmacher in Hamburg, eine Ausstellung Naiver Kunst aus der Sammlung Charlotte Zander im Mannheimer Reiss-Museum.

FR, 09.04.2002

Der israelische Soziologe Natan Sznaider geht in einem polemischen, teilweise richtig bösen Text mit der Ahnungslosigkeit und Selbstgewissheit der Europäer ins Gericht: "Zwischen den Spielen der Champions League" bekomme man "wirklich was geboten". "Europa feiert Nahostkonflikt: Stellungen werden bezogen, Seiten werden eingenommen, ahnungslose Fernsehjournalisten stilisieren sich im globalen Schick zu Nahostexperten." Der Zuschauer könne dabei nicht anders als mit eindeutigen Schuldzuweisung zu reagieren: "Entweder man ist für Bayern oder für Dortmund. Ist doch ganz einfach. Entweder man ist für Scharon oder für Arafat." Allerdings, erinnert Sznaider, lebten in Nahost auf beiden Seiten "richtige Menschen", wo es "keinen sicheren Ort" mehr gebe, "für niemanden". Sein eigene Einschätzung: "Die Palästinenser wollen letztlich das, was andere vor ihnen schon erreicht haben. Sie wollen, dass ihre Unterdrücker aus derselben ethnischen Gruppe stammen wie sie selbst. Das ist wohl die Bedeutung jener Freiheit, für die Romantiker aller Länder bereit sind, zu kämpfen. Israel hat das erreicht und ist deshalb schon ein freies Land."

Weiteres: Auch die FR gratuliert Carl Amery zum achtzigsten, und Peter Iden würdigt in einem Nachruf den verstorbenen Dramatiker Martin Sperr. Berichtet wird von einer interdisziplinären Tagung in New York, auf der über "Kraft und Gewalt der Souveränität" diskutiert wurde. Unter den Teilnehmern: Ernesto Laclau, Judith Butler und Giorgio Agamben. Und in der Kolumne "Times mager" geht es um die neue Definition des Fußballs als subventionswürdiges Kulturgut.Berthold Franke liefert eine Überblick über die 25. Kunstbiennale in Sao Paulo, vorgestellt wird außerdem eine Ausstellung mit Arbeiten von Hanne Darboven im Westfälischen Landesmuseum Münster (mehr hier). Besprechungen gibt es von Philip Tiedemanns Leipziger Inszenierung von Becketts "Spiel" und dem Kinodebut "Tattoo" von Robert Schwentke.

NZZ, 09.04.2002

In einem hübschen kleinen Essay denkt Andrea Köhler über die auf Europa oft obszön wirkende Art und Weise nach, in der Amerikaner in aller Öffentlichkeit ihre Gefühle ausstellen. Bill Clintons Auftritte in der Lewinsky-Affäre aber auch Monica Lewinskys seitdem andauernde Selbstvermarktung nimmt sie als Beispiel: "Tue Buße und rede darüber: Was uns schamlos oder gar verlogen vorkommt, folgt einer anderen Ökonomie der Glaubwürdigkeit; sie muss, nur weil sie strategisch erscheint, nicht geheuchelt sein. Dabei sind auch Tränen nicht selten integraler Part einer Inszenierung, in der sich merkantiles Know-how, sentimentales Kalkül und echtes Gefühl innig verschwistern."

Weiteres: Hubertus Adam stellt den Entwurf des Büros Herzog & de Meuron für das Schweizerische Paraplegikerzentrum "Rehab" in Basel vor. "hmn." gratuliert dem Dirigenten Armin Jordan zum Siebzigsten. Paul Jandl bespricht eine Ausstellung der Möbel Alvar Aaltos im ehemaligen Kaiserlichen Hofmobiliendepot in Wien. "H.T.W." macht uns mit Plänen der Royal Opera Covent Garden bekannt. Besprochen werden ferner eine Ausstellung über Schönberg als Maler in Frankfurt, ein Konzert James Galways mit dem Zürcher Kammerorchester und Bücher, darunter Matthias Polityckis Erzählungsband " Das Schweigen am andern Ende des Rüssels" und der umstrittene Debütroman "Amour fou" des Niederländers Marek van der Jagt (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr.)

TAZ, 09.04.2002

Christian Semler und Stefan Reinecke befragen den Berliner Politikwissenschaftler und Konfliktforscher Herfried Münkler über Ursache und Qualität der veränderten, "neuen Kriege". Münkler führt beides auf den "Staatszerfall in Dritte-Welt-Ländern" zurück, womit "das verstärkte Auftreten privater Kriegsunternehmer (einher ging), die den Krieg nicht als Mittel verstehen, einen politischen Willen durchzusetzen, sondern als Lebensunterhalt und Bereicherungschance". Mit den geläufigen "ideologischen Konfrontationsrastern" des Ost-West-Konflikts seien "viele Konflikte nicht zu dechiffrieren" gewesen. So sei es denn auch "kein Zufall, dass Ethnologen und Soziologen, die diese Gebiete bereisten, als erste begriffen haben, dass die Ideologie nur abblätternder Lack und die interne Dynamik wichtiger war."

Wir lesen außerdem einen Nachruf auf John Thomas, den Mentor von Charles Bukowski, der in den Sechzigern jedes Gespräch auf Tonband aufnahm und nun 71-jährig gestorben ist. Und Rüdiger Rossig berichtet vom Berliner Gastspiel des serbisch-dissidenten Rockchansonniers Djordje Walasevic, in dem er "noch einmal die alte Mittelschicht Exjugoslawiens auf sich vereinte".

Klaus Modick stellt Taschenbücher über das Bücherschreiben von Robert Walser, Stephen King, Sten Nadolny, Wolfgang Bittner und Gilbert Adair vor. Besprochen werden außerdem Bodo Morshäusers neuer Roman über die Sektenszene der siebziger Jahre, eine Studie über "Die Tat als Bild. Fotografien des Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur" und die Kindheitserinnerungen des jüdischen Flüchtlings Gideon Behrendt über seinen "Kindertransport in die Freiheit".

Schließlich Tom.

SZ, 09.04.2002

Wolf Lepenies analysiert aus mal wieder gegebenem Anlass die Rituale des Arbeitskampfs. Die dabei allfällige "Distanzierung vom Ritual" sieht er als inzwischen "selber zum Ritual geworden". Damit aber geschehe den Ritualen unrecht: "Es handelt sich bei ihnen nicht zuletzt um Strategien der Vertrauensbildung auf lange Sicht. Mit ihrer Hilfe werden aus Konflikten regelgeleitete Auseinandersetzungen." Lepenies diagnostiziert innerhalb der Gewerkschaften derzeit einen Richtungsstreit, "der heftiger und ideologisch interessanter ist als die rituelle Auseinandersetzung zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern" - nach der sich die Gewerkschaften, so seine Prophezeiung, noch einmal "zurücksehnen" werden.

Karl Schlögel
plädiert in einem differenzierten Porträt von Sankt Petersburg für eine neue Sicht auf diese Stadt: Sie müsse endlich als "Metropole der Moderne" gewürdigt werden. Schlögel findet es "merkwürdig", "dass bis heute nicht das Petersburg der Jahrhundertwende im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, sondern das Sankt Petersburg des 18. und des 19. Jahrhunderts ... Ihre Baudenkmäler werden besucht, nicht aber die großen Werften und Fabriken, ... dasselbe gilt für das steinerne Petersburg der Mietskasernen und Hinterhöfe, ohne die Dostojewskis Welt aber kaum verständlich ist.

"Weitere Themen: Gratulationen ergehen an den Verleger Hans Dieter Beck zum siebzigsten und an den Schriftsteller Carl Amery zum achtzigsten Geburtstag. Berichtet wird von einer Darmstädter Tagung über Goethes Jugendfreund und Mentor Johann Heinrich Merck, und Martin Bauer fasst die Ergebnisse eines Berliner Symposions zur Rolle des französischen Staatspräsidenten zusammen. Glossen und Kommentare beschäftigen sich mit einer Klimaanalyse des deutsch-russischen Verhältnisses, mit der rücken- und nackenfeindlichen Unordnung auf Buchrücken und dem erbarmungswürdigen Qualitätsverfall des Nachtzugs Berlin-München.

Vorgestellt werden eine glitzernde Schau von Tiaras, vulgo: Diademe, im Londoner Victoria and Albert Museum (mehr hier) und eine Ausstellung im Rahmen der Biennale São Paulo (mehr hier) über elf Metropolen, die mit je fünf Künstlern vertreten sind. Berichtet wird außerdem von einer Ausstellung über das Bild vom Judentum am Jüdischen Museum Franken in Fürth (mehr hier), die für Kontroversen sorgt. Besprechungen gibt es von Samuel Becketts Tripelmonolog "Spiel" am Schauspiel Leipzig (mehr hier), Leos Janaceks Oper "Katja Kabanova" in Hamburg (mehr hier), sowie dem Vampirfilm "Königin der Verdammten" von Michael Rymer und Robert Schwentkes Kinoerstling "Tattoo".Rezensiert werden schließlich eine Geschichte des Atlantik und Carl Amerys Studie über den die Kirchen und den totalen Markt. (Siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr.)