Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.07.2002. Die SZ beschimpft die Rolling Stones zum 40. Geburstag als tragbares Las Vegas. In der taz beklagen DAF das Verschwinden des Kassettenrecorders aus der Technomusik. Die NZZ spottet über britische Euroskeptiker. Die FR fürchtet sich vor einer Ethik des Marktes. In der FAZ ängstigt sich Marcel Reich-Ranicki vor Martin Walser, Joachim Kaiser und dem Suhrkamp Verlag.

SZ, 12.07.2002

40 Jahre Stones. Karl Bruckmaier erinnert sich. Und verklärt nicht gerade, wenn er die Band heute "museal und gigantomanisch" nennt, "ein tragbares Las Vegas", während im Studio lange schon das Grauen der Selbstparodie herrscht. "Von der besten zur bestbezahlten Rockband der Welt. Vom Traumpfad eines afroamerikanischen Rock‘n‘Roll-Beatniks zum vollklimatisierten One-World-Parkhaus. Das wird keiner im Sinn gehabt, das wird sich niemand erhofft haben, als an jenem 12. Juli 1962 eine zusammengewürfelte Musikantentruppe ihre zusammengewürfelte Ausrüstung in den Marquee Club schleppten, um Alexis Korner zu vertreten. Damals, so hoffen wir, nein, so wissen wir, weil wir es in jedem Ton ihrer vielen guten Songs auch hören können, wollten sie alles. Aber nicht um jeden Preis. Und nur dafür haben wir sie vierzig Jahre lang geliebt."

Dazu gibt es eine Sammlung historischer Zitate, etwa vom Pophistoriker Nik Cohn, der der Band 1968 die allergeringste Halbwertszeit prophezeite ("Wenn sie nur ein Minimum an Stil besitzen, stürzen sie drei Tage vor ihrem dreißigsten Geburtstag mit dem Flugzeug ab"), oder aus dem Periodikum Christ und Welt, das 1973 von der Stones-Musik als von einem "Orgasmus auf Kosten der Gesellschaft" faselte.

Angesichts einer immer hoffnungsloser werdenden Situation im Nahen Osten und dem Scheitern der Vermittlungsbemühungen seitens der USA, erzählt Claus Koch die unrühmliche Geschichte der Beziehung zwischen Israel und dem Westen: "Es war gut, das eigene schlechte Gewissen über den bis heute nicht ausgerotteten Anti-Semitismus damit zu beruhigen, dass man dort diesen Staat aushielt." Niemand aber habe Israel mit der Wahrheit über seine prekäre Existenz konfrontiert, schreibt Koch. "Eine Folge daraus ist, dass es Israel bis heute nicht zu einer politischen Klasse gebracht hat, die es aus der Sterilität seiner ewigen Defensive hätte führen können. Dies macht auch die sympathisierenden europäischen Länder ratlos: Niemand erwartet mehr etwas von Israel."

Weitere Artikel: Jens Bisky war dabei, als Oskar Negt auf seiner Abschiedsvorlesung in Hannover Gerhard Schröder Wahlkampfhilfe gab. Hubert Filser berichtet vom Fotofestival "Rencontres d’Arles". Sonja Zekri warnt vor Wort-Bomben in Russland, und Alexander Kissler erinnert an den Fortschrittskritiker, Panikmacher, Tagebuchschreiber und zornigen Liebenden Günther Anders, der heute hundert Jahre alt geworden wäre.

Besprochen werden eine Werkschau Johan Christian Dahls im Haus der Kunst in München, Anne Teresa De Keersmaeker beim Festival "Tanzrepublik" in Salzburg, die in Berlin eröffnete Wanderausstellung "Neue Deutsche Architektur" (homepage hier), Steve Rash' Brokerfilmkomödie "Good Advice - Guter Rat ist teuer", eine Ausstellung über Albrecht Daniel Thaer, den Begründer der wissenschaftlichen Landwirtschaft, im Bomann-Museum Celle und Bücher, darunter Jorge Sempruns jüngstes Werk "Der Tote mit meinem Namen", eine Biografie der polnischstämmigen Ikonen-Malerin Tamara de Lempicka sowie eine rasend schnelle Deutsche Kunstgeschichte (hier) von Volker Gebhardt (siehe auch unsere Bücherschau um 14 Uhr).

TAZ, 12.07.2002

Im Gespräch mit Tilman Baumgärtel erinnern sich die Elektronikpioniere Gabi Delgado und Robert Görl von Deutsch-Amerikanische Freundschaft (DAF), die vor 20 Jahren mit "Tanz den Mussolini" ihren größten Hit hatten und gerade an einem Comeback basteln, an die Geburt des Techno. Ach, tempi passati! Als für Loops noch Tonbänder durchs Studio gespannt wurden und Live-Auftritte so aussahen: "Wir hatten zwanzig Kassettenrekorder, und in jedem Rekorder war eine Kassette. Robert hat Schlagzeug gespielt, und ich habe gesungen. Das war alles. Damals konnte man sich halt noch nicht mit einem Laptop auf die Bühne stellen. Aber das Publikum hat das geliebt. Wenn ein Stück vorbei war, haben sie gerufen: 'Zurückspulen!'." Und haben brav gewartet. Unglaublich.

Außerdem staunt Jürgen Berger über die große Dichte an Inszenierungen deutschsprachiger Autoren (Müller, Strauß, Bernhard, Tabori) auf der diesjährigen Leistungsschau des französischen Theaters in Avignon, und Harald Peters schwärmt vom neuesten und, wie er findet, besten Album der Red Hot Chili Peppers (mehr hier).

Schließlich TOM.

FR, 12.07.2002

Nach den jüngsten Ankündigungen Bushs betreffend neue Kontrollmechanismen in der Wirtschaft fürchtet Christian Schlüter jetzt die Verordnung einer Ethik des Marktes. Überflüssig, erklärt er, auf Adam Smith' "unsichtbare Hand" anspielend: Die Ethik bringe der Markt unablässig selbst hervor. "Alle Akteure folgen ihrem Eigennutz, und wenn dies ein jeder uneingeschränkt tut, dann lassen wir - unsichtbar und gespensterhaft - aus dem konkurrierenden Gegeneinander Wohlstand und Gerechtigkeit entstehen. So wird aus der partikularen Moral des Eigennutzes eine, jedenfalls der Idee nach, universale Moral der Fürsorge." Nicht Habgier oder Größenwahn, meint Schlüter, seien das Problem, sondern fehlende Hindernisse, um ihnen nachzugehen.

Thomas Medicus informiert über den nun vorliegenden Abschlussbericht des Warschauer Instituts des Nationalen Gedenkens über den Pogrom in Jedwabne. Bei der Ermordung der Juden von Jedwabne, zitiert Medicus aus dem Papier, handelte es sich um ein geplantes Verbrechen der polnischen Bevölkerung aus der dörflichen Umgebung. Den deutschen SS-Einsatzgruppen, heißt es, sei hingegen eine aktive Rolle nicht nachzuweisen, auch wenn der Pogrom durch deutsche Anregung in Gang gekommen sei. Mit diesem Ergebnis, so Medicus, bestätigten die Ermittlungen des IPN im wesentlichen den Ablauf der Ereignisse, wie ihn Jan T. Gross in seinem Buch "Nachbarn" dargestellt hatte.

Weitere Artikel: Jochen Stöckmann war auf der Abschiedsvorlesung von Oskar Negt in Hannover, zu der der Soziologe und Kanzler-Berater mit imposant zerlesenen Kant- und Marx-Ausgaben erschien, Michael Marek besucht Daniel Libeskinds Neubau des "Imperial War Museum" in Manchester (hier geht's zur Homepage), die Ukrainerin Sonja berichtet, was man als Prostituierte in Berlin alles erleben kann: ein postsowjetisches Märchen, "Times mager" rekonstruiert die Ronwerdung von T-Ronline, Peter W. Jansen schreibt zum Tod der Filmkritikerin Frieda Grafe, und aus einer dpa-Meldung ist zu erfahren, dass Marcel Reich-Ranicki sich um Deutschland sorgt. "Ich bin erfüllt von Trauer und Angst um dieses Land, dessen Bürger ich bin", heißt es, sagte MRR bei der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Münchner Universität. Und: Walsers "Tod eines Kritikers" sei ein Buch, "das gegen die Juden hetzt", der Suhrkamp Verlag, in dem das Buch erscheint, sei "jetzt besudelt".

Besprechungen widmen sich einem Paul-Simon-Konzert in Frankfurt, dem Sommerregen-Album "Falling into Place" des Berliner Duos Komëit, Mimmo Caloprestis Film "Ich liebe das Rauschen des Meeres" und der Sammlung Rolf Ricke, ausgestellt im Neuen Museum Nürnberg (zur schicken Museums-Homepage geht es hier).

NZZ, 12.07.2002

In Italien wurde eine neues Gesetz in Kraft gesetzt, wonach mit der Privatisierung staatlicher Kunstschätze und Immobilien das Haushaltsdefizit verringert werden soll. Gegner befürchten nun einen "schnöden Ausverkauf des großen historischen, artistischen und architektonischen Erbes", berichtet Nikos Tzermias. Er selbst findet den Protest übertrieben. "Eine erweiterte Kompetenz zum Verkauf von Kulturschätzen" lasse sich daraus nicht ableiten.

Philipp Blom gießt seinen Spott aus über die Briten, die demnächst einen lustigen Kurzfilm gegen den Euro in ihren Kinos sehen können: "Die EU und die NSDAP, der Euro und die V2-Rakete, letztlich ist das ja alles dasselbe, ausschließlich darauf aus, unschuldige und identitätsstiftende Freuden wie Fish and Chips einer sinistren, kontinentalen Tyrannei zu unterwerfen."

Weitere Artikel: Joachim Güntner berichtet über eine Tagung zum Thema "Moral im Nationalsozialismus" in Hamburg. Aldo Keel meldet, dass Dänemark die Bibliothekserstattung für Schriftsteller nicht einsparen wird. Georges Waser erinnert an Rogets "Thesaurus of English Words and Phrases", der vor 150 Jahren erstmals veröffentlicht wurde. Und Ludger Lütkehaus gratuliert Günther Anders zum 100. Geburtstag.

FAZ, 12.07.2002

Vor sieben Jahren wurde der Grundstein zu Peter Zumthors Ausstellungshalle für die Topografie des Terrors (mehr hier) gelegt. Seitdem hat man sich gestritten, ob weiter gebaut werden soll oder nicht. Inzwischen hat die Firma Engel und Leonhardt, die maßgeblich am Bau beteiligt sein sollte, Insolvenz angemeldet, berichtet Ingolf Kern. Kulturminister Nida-Rümelin hat darauf hin die Finanzierung der Topografie des Terrors aus seinem Haushaltsplan gestrichen. Aussetzung oder Ausstieg? fragt Kern. Letzteres würde bedeuten, dass 15 Millionen Mark, die bereits ausgegeben wurden, in den Berliner Sand gesetzt wären (Immerhin würde sich das Geld da nicht einsam fühlen).

Abgedruckt ist die Rede Marcel Reich-Ranickis zur Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Universität München. Reich-Ranicki, der Arme, muss über München sprechen, nutzt die Gelegenheit aber auch, noch einmal Martin Walser und seinen Roman "Tod eines Kritikers" "gefährlich" zu nennen. "Mehr noch: Dass manche Journalisten und vereinzelte Germanisten mit dem Mann vom Bodensee gemeinsame Sache machen, dass ein bekannter Münchener Kritiker, den ich zu meinen Freunden zählte, sich nicht entblödet, diesen Roman zu verteidigen und zu loben, dass der Suhrkamp-Verlag ... dieses schändliche Buch verlegt hat und an ihm jetzt ein Vermögen verdient - das alles, ich gebe es zu, erfüllt mich mit Trauer und eben auch mit Angst."

Weitere Artikel: Die FAZ eröffnet eine neue Serie, in der Politiker bei Lokalterminen beobachtet werden, mit einem Besuch Angela Merkels in Andechs. Amos Oz (Informationen hier) schlägt vor, den Nahost-Konflikt wie einen Kindergartenstreit zu beenden: "Räumung einiger Siedlungen gegen die Zerschlagung einer terroristischen Organisation. Anschließend die Räumung weiterer Siedlungen gegen die Zerschlagung einer zweiten fundamentalistischen Gruppe." Michael Althen schreibt zum Tod der Filmkritikerin Frieda Grafe. Wolfgang Schneider berichtet über eine Tagung in Potsdam zum Thema Literatur und Ethik. Andreas Rossmann hat nach dem Ende der Betriebsversammlung vor dem Werkstor von Babcock gestanden und deprimierte Stimmen eingefangen.

Auf der Medienseite berichtet Reinhard Olt über die Medienkartelle in der österreichischen Presse (KroKuWaz und Styria). Hingewiesen sei auch auf ein Artikel in FAZ.net, die melden, dass der Ringier Verlag Fehler bei der Berichterstattung über den inzwischen entlassenen Schweizer Botschafter Thomas Borer eingeräumt hat. Auf der Gegenwartsseite erklärt Claus Kreß, warum sich die Vereinigten Staaten nicht vor einem Internationalen Strafgerichtshof fürchten müssen.

Besprochen werden ein Konzert von Paul Simon in Frankfurt, Mimmo Caloprestis Film "Ich liebe das Rauschen des Meeres", die Ausstellung "Neue deutsche Architektur" im Berliner Gropiusbau, eine Ausstellung im Museum Schwerin (mehr hier), die an das Bauhaus vor dem Bauhaus, nämlich die Akademie in Breslau erinnert, Sheldon S. Wolins bisher nur auf Englisch erschienenes Buch "Toqueville between two Worlds" und Günter Brus' Autobiografie "Die gute alte Zeit" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).