Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.07.2002. Wenigstens einer, dem's gut geht: Claus Peymann plaudert über die "unglaublich gute Geschäftsentwicklung" beim Berliner Ensemble. Seine Salzburger Inszenierung eines neuen Stücks von Peter Turrini gilt der NZZ allerdings als "Peinlichkeit der Sonderklasse". Die taz findet Product Placement in Romanen akzeptabel. Die FR bringt ein Interview mit dem Tel Aviver Architekt Eyal Weizman über israelische Besatzungsbauten. Die FAZ vermisst Middelhoff.

SZ, 31.07.2002

Im SZ-Interview plaudert Theaterfürst Claus Peymann über die "unglaublich gute Geschäftsentwicklung" und seine Vertragsverlängerung am Berliner Ensemble (bis 2007). Außerdem klärt der Österreich-Freund alte Irrtümer wie etwa den, "dass ich den verrotteten Zustand des BE unterschätzt habe. Ich habe ein Theater vorgefunden, was wirklich leergefressen war wie von Heuschrecken überfallen - und zwar von den Glücksrittern aus dem Osten genauso wie von denen aus dem Westen. Es gab kein Publikum, es gab kein Geld, keine Kostüme, keine Technik, es gab überhaupt nichts mehr. Es gab nur dieses völlig verottete, stinkende, kaputte Theater." Wie sagt Peymann auch: Berlin ist eben Sibirien.

In einem anderen Beitrag erläutert Franziska Augstein das Dilemma der PDS zwischen Enthauptung und Entleibung: "Der Souverän toleriert es nicht, wenn die Partei als kleiner Koalitionspartner allzu handzahm ist. Wozu hätte er, der Wähler, sonst für die PDS gestimmt? Wenn aber das Widerwort der PDS verlässlich wäre, dann käme es einer Selbstentleibung gleich ... Sofern die PDS dem Programm treu bliebe, für das sie gewählt wird, hätte sie ihr Spiel schon verloren: So viele wirtschaftliche Zugeständnisse müsste sie machen, dass ihre Wählerschaft sie nicht mehr kennen würde."

Weitere Artikel: Eine neue SZ-Serie, geht der Frage nach, wie und warum die verschiedenen Künste gerade heute auf Klassisches zurückgreifen, diesmal: das Theater. Knut Hornbogen informiert uns über das Corporate Design der Berliner Museumsinsel. Michael Knoche, Direktor der Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar (und somit ein Nachfolger Goethes!), weiß, warum die Digitalisierung der Buchbestände und die Tradierung der Originale zusammengehören ("die Lektüre eines Buches ist vergnüglicher als das Lesen am Bildschirm"). "Sus" annonciert das Wettbewerbsprogramm beim Filmfestival in Venedig ("Glamour und deutsche Filme satt"). C. Bernd Sucher hat eine typisch salzburgische Kaffeehaus-Begegnung, und Gottfried Knapp schreibt zum siebzigsten Geburtstag von Johann Georg Prinz von Hohenzollern, dem Urvater der Pinakothek der Moderne.

Besprochen werden eine Werkschau des Technikeuphorikers Fernand Leger im Salzburger Rupertinum, John Woos Navajo-Film "Windtalkers", eine Ausstellung zur Geschichte der Industriemalerei im Berliner Gropius-Bau, Peter Turrinis "Da Ponte in Santa Fe" als Uraufführungsmisserfolg inszeniert von Claus Peymann sowie Achim Freyers zirzensische "Zauberflöten"-Adaption in Salzburg, Oskar Panizzas "Die Menschenfabrik" als Hörspiel und Gebhardts "Handbuch der deutschen Geschichte" in neu bearbeiteter Auflage (siehe auch unsere Bücherschau um 14 Uhr).

TAZ, 31.07.2002

Product Placement in Romanen: Halb so schlimm, meint Jörg Sundermeier. Autorinnen und Autoren, erklärt er, waren stets gezwungen, ihre Texte zu verkaufen und dafür Kompromisse einzugehen. "Nicht wenige beklagen sich, dass sie auf Drängen ihres Verlages eine Bettszene in ihre Bücher einbauen mussten. Zudem sind politische Äußerungen von freiberuflichen Autorinnen und Autoren oft davon geprägt, dass man auf Stipendien, Preise etc. angewiesen ist. Insofern markiert Weldons Product-Placement-Roman (Fay Weldon: "The Bulgari Connection") vielleicht sogar den Anfangspunkt der Entkoppelung des Autors von Verlag und öffentlichen Fördergeldern. Als ernst zu nehmender Marketing-Partner wird der Autor schließlich zum autonomen Geschäftsmann."

Journalistenkarriere hin oder her. Ulrike Herrmann besieht sich die Damen Schröder und Stoiber an der Seite ihrer Männer und stellt resigniert fest, dass es im September so oder so keine moderne Kanzlergattin geben wird: "Egal wer die Wahl gewinnt: Im Kanzleramt wird eine Barbiepuppe wohnen ... Wenn wir einen Lagerwahlkampf und ein Lagerregieren erleben würden, dann hätten wir übersichtliche Verhältnisse - nämlich eine emanzipierte Doris und eine domestizierte Karin. Doch die 'Mitte' ist überall."

Außerdem freut sich Hans Nieswandt über den Doku-Film "Maestro", der in den New Yorker Underground der späten 60er und frühen 70er eintaucht, die Welt der allerersten Discotheken, Nils Röller porträtiert den Künstler Joe Davis, der am Massachusetts Institute of Technology Wissenschaftler zu neuen Denkensweisen anregt (mehr über Davis im Scientific American), und Katrin Bettina Müller findet Roland Schimmelpfennigs Szenenfolge "Vorher/Nachher" als Hörbuch prima.

Schließlich TOM.

FR, 31.07.2002

In einem Interview spricht der Tel Aviver Architekt Eyal Weizman über seine beim Weltkongress der Architektur in Berlin nicht gezeigte Ausstellung "Eine zivile Besatzung" zur israelischen Siedlungspolitik und sein Selbstverständnis als Gestalter: Viel zu lange sei der israelisch-palästinensische Konflikt nur in den Begriffen von Politik und Armee verstanden worden. "In der Weise, wie der freie Raum im Westjordanland wider internationales Recht in eine Landschaft der Kontrolle verwandelt wurde, haben sich die beteiligten Gestalter für etwas hergegeben, was mit Architektur in meinen Augen nichts zu tun hat ... Es gibt keine akzeptable Option für einen Architekten, anhand einer Vorlage zu arbeiten, die darauf abzielt, Wirtschaftswege zu durchkreuzen, ein Gewebe von Dörfern zu zerschneiden, Land zu enteignen und territoriale Überwachung zu schaffen."

Viktoria Pollmann erläutert, wie das Pogrom von Jedwabne durch den Antisemitismus des polnischen Katholizismus gestützt wurde. "Eine überwiegend ablehnende Haltung der katholischen Bevölkerung, vor allem der bäuerlichen und städtischen Unterschichten gegenüber den Juden, war die Konsequenz des in der offiziellen Kirchenpresse, in Hirtenbriefen und Appellen verbreiteten Bildes von 'den' Juden. Ausgerüstet mit dieser kirchenamtlich verbreiteten Vorstellung über ihre jüdischen Nachbarn wurde die polnisch-katholische Mehrheitsbevölkerung ab 1939 mit der nationalsozialistischen Judenhetze konfrontiert. Sie fiel auf fruchtbaren, auf gut vorbereiteten Boden."

Weitere Artikel: Auf der documenta 11 wittert Thomas Medicus, o Schreck!, Zweckrationalität. Harry Nutt untersucht die gegenwärtige Untergangssehnsucht in der Wirtschaft und parallelisiert die Versteigerung der UMTS-Lizenzen der niederländischen Tulpenseligkeit des 17. Jahrhunderts. Jochen Schimmang betrachtet das Schrödersche Modell zwar als gescheitert, sieht auf der Herausfordererseite allerdings bloß "ein personelles Potenzial, das in seiner Dürftigkeit an die deutsche Nationalmannschaft des Jahres 2000 erinnert". Beate Spindler hat mit Ralph Gotta über seinen Debütroman "Operation Neonmerika" gesprochen. In der "Times mager"-Kolumne warnt der Schriftsteller Klaus Modick davor, das Erlanger Poetenfest ("das atmosphärisch schönste Literaturfestival Deutschlands") dem Sparzwang zu opfern. Daniel Kothenschulte stellt das Programm der Filmfestspiele von Venedig vor (über die der Perlentaucher übrigens täglich berichten wird).

Besprechungen widmen sich dem Stück "Da Ponte in Santa Fe" von Peter Turrini und Claus Peymann in Salzburg, einer Werkschau von Rosemarie Trockel im Museum der Sammlung Goetz in München, einer Ausstellung zu Hermann Hesses "Glasperlenspiel" im Schiller-Nationalmuseum in Marbach und Automatenporträts von Arnulf Rainer in der Bochumer Galerie m fotografie.

FAZ, 31.07.2002

Auf der Medienseite werden Thomas Middelhoff noch zwei Tränen nachgeweint. Heike Hupertz schildert amerikanische Reaktionen auf seinen erzwungenen Abgang. Bertelsmann sei immer "ein verschlafenes deutsches Medienhaus" gewesen, zitiert sie das Wall Street Journal, und werde es nun wieder. Zitiert wird aus Middelhoffs Abschiedsschreiben an seine Mitarbeiter: "Dear Colleagues, This has been a long and wonderful journey for me. We should all be proud of what we have achieved." Michael Hanfeld schätzt die Situation nun ähnlich ein wie bei Springer: "Bertelsmann is coming home - zu Mama". Und wir schlagen vor, dass sich nun wenigstens das FAZ-Feuilleton eine Umsatzrendite von zehn Prozent zum Ziel setzen sollte.

Weiteres: Gerhard Stadelmaier wird in Salzburg nicht glücklich: Die Uraufführung von Peter Turrinis "Da Ponte in Santa Fe" in der Regie von Claus Peymann nennt er "verkitscht und verschmiert". Johan Schloemann fragt nach den Chancen der Studienreform für die Ausbildung künftiger Lehrer in Deutschland. Henning Ritter gratuliert John R. Searle (mehr hier) zum Siebzigsten. Joseph Hanimann stellt die "Cite manifeste" in Mulhouse vor, die zeigen wolle, "dass sich der soziale Wohnungsbau gegen Reglementierungen wehren kann". Oliver Tolmein schildert den Fall eines amerikanischen Patienten, dem keine Sterbehilfe gewährt wurde, obwohl er in Oregon ein Recht darauf hätte - nun lebt er in einem Hospiz und ist wieder so glückllich, dass er weiterleben will. Ulrich Pollmann resümiert die Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik.

Auf der letzten Seite steigt Ilja Trojanow in den Ganges. Michael Gassmann schreibt ein Profil der baden-württembergischen Kulturministerin Annette Schavan. Und Sandra Theiss schildert eine Reihe mysteriöser Todesfälle unter den saudischen Prinzen, die womöglich politische Gründe haben.

Besprochen werden John Woos Film "Windtalkers" (mehr hier) und eine Ausstellung des Malers Gustav Kurt Beck in Wolfsburg.

NZZ, 31.07.2002

Nicht viel los auch hier. Barbara Villiger Heilig sieht in Peter Turrinis Stück "Da Ponte in Santa Fe", das in Salzburg uraufgeführt wurde, eine "Peinlichkeit der Sonderklasse". Hubertus Adam feiert hundert Jahre Folkwang-Idee. Uwe Justus Wenzel gratuliert dem Philosophen John R. Searle zum Siebzigsten. Andreas Maurer führt in das morgen beginnende Filmfestival von Locarno ein.

Besprochen werden die Sommerschau "Cher peintre..." im Centre Pompidou, welche nach Matthias Frehner "den späten Picabia und Bernard Buffet zu Ahnherren heutiger figurativer Malerei von Luc Tuymans bis Neo Rauch" erkärt. Besprochen werden auch einige Bücher, darunter eine Studie zum Bücher- und Bibliothekenraub unter den Nazis und Kinderbücher wie Anke Kuhls "Ene meine muuh" mit einer Sammlung von Abzählreimen. Ferner befasst sich Anna Katharina Ulrich mit dem Rücktritt von Rosmarie Tschirky als Leiterin des Schweizerischen Jugendbuch-Instituts.