Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.11.2002. In der SZ erklärt der römische Philosoph Paolo Flores D?Arcais, warum Berlusconi kein Rechter ist. Die FR fragt, ob die Niederlande ein Apartheidsstaat werden. In der taz untersucht Claus Leggewie den Wertekonflikt innerhalb des Westens. In der FAZ erzählt Günter Gaus, wie Rudolf Augstein die FDP erobern wollte.

SZ, 22.11.2002

Berlusconi ist nicht rechts, behauptet der römische Philosophieprofessor Paolo Flores D?Arcais: Ein politisches Programm habe Berlusconi als Diktator gar nicht mehr nötig. "Erfolgreicher als er war nur Ceausescu, und vielleicht deshalb ist Fedele Confalonieri, die rechte Hand Berlusconis bei der Fininvest, während eines Interviews einmal die Definition herausgerutscht, Berlusconi sei 'ein guter Ceausescu'." D'Arcais rät zu einem radikalen Umbau des politischen Systems. "Es geht also darum, die repräsentativen Organe und auch die Wahlverfahren neu zu erfinden, damit die Berufspolitiker nicht mehr die allein herrschenden (und allein blockierenden) Figuren des politischen Lebens sind."

Wir bleiben im Süden. Die Nationalratswahlen in Österreich haben eine neue virtuelle politische Bezugsgröße hervorgebracht, schreibt Joachim Riedl: den kleinen Mann. "Gemessen an den Konzessionen, die ihm nun gemacht werden, muss es sich um ein ziemlich widerwärtiges Geschöpf handeln: Er ist ein rassistischer Defätist und Chauvinist. Er hegt uralte Ressentiments gegenüber seinen Nachbarländern. Er ist unduldsam und unfähig zur Empathie. Vor allem aber betrachtet er den Staat als Versorgungsmaschinerie."

Weitere Artikel: Jeanne Rubner zählt die Bildungslügen auf, die Deutschlands "oberster Pisa-Forscher" Jürgen Baumert auf einem Vortrag angeprangert hat. Dorothee Müller berichtet von den Anstrengungen Turins, sich von der Fiat- zur Kunstmetropole zu wandeln. Burkhard Müller erzählt in herbstlich-melancholischer Manier die wahre Geschichte von Filz, Wahlfälschung und Bürgersinn in einem Dorf in Nordbayern. Patrick Roth hat einen Plausch mit dem neuen Bond-Girl Halle Berry geführt, die vor den Gefahren warnt, die der Verzehr von Feigen auf Pierce Brosnans Brust mit sich bringen kann. Harald Eggebrecht informiert uns über den ersten Grand Prix Emanuel Feuermann in Berlin. "Akis" gratuliert dem Theologen, Schriftsteller und Fernsehpfarrer Jörg Zink zum Achtzigsten.

Andrian Kreye lässt uns wissen, dass die Broadwayproduzenten ihre Theaterorchester wohl bald durch Computer ersetzen werden. "Ukü" kommentiert die Pläne der Universität Bremen, ihre Professoren künftig von einem Personalberatungsunternehmen aussuchen zu lassen (wer's nicht glaubt: hier die Pressemitteilung). Reinhard Schulz schreibt von den Musiktagen Weingarten, und Burkhard Müller-Ulrich war dabei, als Gunther von Hagens in London medientauglich eine Leiche vor Publikum seziert hat (hier mehr zu Hagens' Körperwelten, mit denen er gerade in London gastiert).

Auf der Medienseite enthüllt Hans-Jürgen Jakobs aufgrund "interner Papiere", wie Bertelsmann klammheimlich den größten deutschen Verlagsdeal plant: den Verkauf des Fachverlags BertelsmannSpringer für 900 Millionen Euro.

Besprochen werden Gerhard Richters Installation"Acht Grau" in der Deutschen Guggenheim, Samuel Becketts "Endspiel" in der fesselnden Inszenierung von Barbara Frey am Münchner Residenztheater und Bücher, darunter ein Essay von Klaus Theweleit über den 11. September, ein Bildband über die amerikanische Lynchjustiz sowie Sayed Kashuas Debütroman "Tanzende Araber" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 22.11.2002

"Werden die Niederlande ein Apartheidsstaat?", fragt Klaus Bachmann angesichts der Debatte um das holländische Integrationsmodell. Dabei gehe es nicht nur um die Kompatibilität des Islams mit der westlichen Lebensart, sondern auch um das Selbstverständnis der Niederlande. Die Probleme zeigen, schreibt Bachmann, dass "der niederländische Nationalstaatsbegriff trotz schneller Einbürgerung, teurer Integrationsprogramme und strafrechtlich durchgesetzter Diskriminierungsverbote doch nicht so attraktiv und durchlässig ist wie beispielsweise das französische Konzept der Willensnation. (...) Der Unterschied zwischen Fremden und Einheimischen bleibt auch in den nachfolgenden Generationen erhalten, trotz Einbürgerung. (...) Inzwischen kommt es sogar vor, dass Kommentatoren die deutsche Integrationspolitik als Vorbild anpreisen." Die Holländer müssen wirklich verzweifelt sein.

Wie Tschetschenien seit der Eroberung durch Katharina die Große die russische Kultur geprägt hat, erforscht Anatolij Koroljow und schreibt: "Die Romantik der Eroberung war wohltuend für die russische Kunst, sie trug dazu bei, die Sitten der Gesellschaft zu veredeln und der Ignoranz abzuhelfen. Andere Publikumslieblinge griffen diesen schöpferischen Impuls von Munterkeit, Freiheit und Weite auf. Der junge Tolstoi schrieb sein erstes Werk Kindheit im Kaukasus während des ersten kaukasischen Krieges."

Weiteres: Konrad Lischka zeigt, dass auch in der virtuellen Welt der Computerspiele die Arbeit der größte Sinnstifter ist - wie im richtigen Leben. Michael Kohler lobt die Chuzpe des niederländischen Architektenbüros MVRDV, das seine Entwürfe für die künftige RheinRuhrCity auf der gleichnamigen Ausstellung in Düsseldorf komplett von einem Computerprogramm hat erstellen lassen. Ludger Lütkehaus macht sich in Times mager Gedanken zu der geplanten öffentlichen "Leichenkommunion" des Gunther von Hagens. Thomas Wolff freut sich aufgrund des unerwarteten Erfolgs von David Gray, dass im Musikgeschäft wohl doch nicht alles planbar geworden ist. Und Eva Schweitzer berichtet schließlich von den USA-Eroberungsplänen deutscher Filmemacher.

Besprochen werden Gerhard Richters Ausstellung "Acht Grau" in der Deutschen Gggenheim als CD der Woche firmiert "Der arme Heinrich" von Hans Pfitzner.

TAZ, 22.11.2002

Wären die USA ein potenzielles Beitrittsland für die EU, würden sie wohl genausowenig aufgenommen wie die Türkei, spekuliert Claus Leggewie auf der Meinungsseite. Der wahre Wertekonflikt spiele sich nämlich nicht zwischen Istanbul und Brüssel, sondern innerhalb des Westens ab. "Amerika unterscheidet sich von Europa durch eine imperiale Ambition (was weder ein neues nordatlantisches Militärbündnis noch eine künftige Handelsunion ausschließt) - und einen fundamentalen, in den letzten Jahrzehnten eher gewachsenen Dissens in Sachen soziale Gleichheit und Gerechtigkeit. Hier verläuft eine echte Konfliktlinie, und zwar mitten durch den Westen, die so oft vom vermeintlichen Hauptwiderspruch zwischen dem Westen und dem Rest der Welt überdeckt wird."

Im Feuilleton bescheinigt Oliver Köhler den neuen Batman-Folgen des Comic-Zeichners Frank Miller, erstaunlich nahe an der Realität orientiert zu sein. Der Helden hat sich zum Einzelkämpfer gegen die Regierung gewandelt, die USA selbst sind "ein Polizeistaat geworden, der von dem Konzern und gleichzeitigen Mafiasyndikat L.E.X. gesteuert wird. Aus dem US-Präsidenten wiederum machte Miller kurzerhand die virtuelle Marionette einer riesigen Medienillusion."

Weitere Artikel: Dirk Knipphals stellt richtig: Der Verfall Deutschlands erinnert nicht an die Buddenbrooks, wie derzeit so oft behauptet wird, sondern an die Hagenströms aus dem gleichen Roman. Daniel Bax stellt die rumänischen Taraf de Haidouks vor, für ihn "so etwas wie der Buena Vista Social Club der Balkanmusik". Besprochen werden Eminems gar nicht origineller Spielfilm "8 Mile" und Robbie Williams neues Album "Escapology".

Und schließlich TOM.

NZZ, 22.11.2002

Am kommenden Sonntag wählt Österreich und diesmal wird es die FPÖ nicht auf die Regierungsbank schaffen. Paul Jandl erinnert an die Debatten der Intellektuellen Österreichs während der drei aufregendsten Jahre in Österreichs Nachkriegsgeschichte. In die Lethargie einer niemals enden wollenden großen Koalition platzten Haider und seine schrille FPÖ, ein krasser Gegensatz. Ebenso konträr stellt Jandl die Intellektuellen auf. Die Debatte habe sich ausgetobt zwischen "Coolness" und "Hysterie", zwischen "Wendephilosophen" und "Alarmisten" und "elefantösen Vergleichen". "Die einen waren, um das Land zu retten, gegen Haider. Die anderen waren schon aus Staatsräson für die Regierungsbeteiligung." Nun wählt Österreich neu. Die politische Blockade der Vor-Haider-Zeit ist allerdings gelöst. "Die Selbstmarginalisierung Haiders", erklärt Jandl, "macht dem Schreckensszenario rechtsextremer Bedrohung ein vorläufiges Ende, politisch ist beinahe alles offen."

Weitere Artikel: Andrea Springer berichtet über "L'image habitable" - ein Projekt in fünf Genfer Institutionen, dass sich mit den Zwischenräumen von Kunst, Informatik und Architektur auseinandersetzt. Und Sieglinde Geisel berichtet über einen neue Nische im Buchmarkt: die Autobiografie von interessanten Otto-Normalverbrauchern.

Besprochen werden die Ausstellung von Bauhaus-Möbeln Berliner Bauhaus-Archiv und Schostakowitschs "Nase" in der Deutschen Staatsoper Berlin. Auf der Kino-Seite wird unter anderem Samirs Film "Forget Baghdad" besprochen. Und Vinzenz Hediger untersucht Fragen der Authentizität bei der 26. Duisburger Filmwoche.

FAZ, 22.11.2002

Auf der letzten Seite erzählt Günter Gaus, wie Rudolf Augstein die FDP führen wollte und scheiterte. "Augstein sagte: 'Walter, ich will für die FDP in den Bundestag. Ich kandidiere.' Keine Blödelei. Scheel gab sich sogleich entzückt von der - ihn wie mich und in der folgenden Woche die ganze Redaktion und die FDP überraschenden - Ankündigung. Er war wohl auch entzückt. .... Damals, im Sommer 1972, sagte Scheel zu Augstein, es sei wunderbar, wunderbar, dass er Abgeordneter werden wolle. Er ließ sich von Mildred einen Obstler eingießen und bekräftigte noch einmal: wunderbar. Rudolf feuerte einen zweiten Schuss ab: 'Und ich will Fraktionsvorsitzender werden.' Selbst der politische Praktiker Scheel war drei Atemzüge lang sprachlos. Aber als er sich gefasst hatte, war er imstande, in zwei Sätzen aus einer realen Einschätzung der Lage zu einer lügenhaften Behauptung zu wechseln. Scheel sagte Augstein, das werde nicht einfach sein. Und dann fügte er - ganz gewiss gegen sein besseres Wissen - hinzu: 'Dennoch, wir kriegen das hin.' Nichts sollte die gute Laune trüben an diesem Nachmittag in Hinterthal, wo der FDP in sehr ungewissen Zeiten ein Hoffnungsträger erschienen war." Es wurde dann doch nichts draus. Warum, dass müssen Sie selber lesen.

Weitere Artikel: Frank Schirrmacher stellt Fragen zur Krise, und gibt die Antworten mit Günter Mittag. Dass das eine zum anderen passt (für Schirrmacher jedenfalls), führt ihn zu der schockierenden Erkenntnis: "Bewaffnet mit dem historischen Fernblick können Spätere zwischen den verlorenen Illusionen des Günter Mittag und den unseren womöglich kaum noch einen Unterschied feststellen." Andreas Platthaus erklärt, warum Gerhard Schröder zwar ein schlechter Kanzler ist, aber deshalb noch lange keine Ähnlichkeit mit Brüning hat. Andreas Rossmann scheint den "ersten Ergebnisbericht" der von Michael Vesper eingesetzten Denkmalschutzkommission überflüssig zu finden, denn leider "mangelt es Michael Vesper an konsequentem Willen und Standhaftigkeit", irgendwelche Gesetze oder Vorschläge auch umzusetzen. Josef Oehrlein erzählt, wie das Teatro Colon in Buenos Aires gegen die Krise kämpft. Friedrich Niewöhner schreibt zum Tod Kitty Steinschneiders.

Auf der Medienseite behauptet Ernst Elitz, Intendant des Deutschlandradios, "beim öffentlich-rechtliche Rundfunk ist die Kultur krisensicher." (Wer soll das glauben?) Auf der letzten Seite stellt Andreas Platthaus den neuen Wettbewerb "Jugend debattiert" vor, und Michael Jeismann hält mit spitzen Fingern Jörg Friedrichs Buch "Brand. Deutschland im Bombenkrieg" hoch.

Besprochen werden eine Ausstellung des Nachlasses von Christian Daniel Rauch in Bad Arolsen, eine Ausstellung des Nachlasses von Ernst Bloch in Ludwigshafen, Becketts "Endspiel" mit Thomas Holtzmann in München, Philip Grönings Film "L'amour" und Bücher, darunter ein Band von Rudolph W. Giuliani: "Leadership" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).