Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.02.2003. In der FAZ hofft Stanislaw Lem, dass es außer dem Menschen noch ein paar andere ekelhafte Kreaturen im Universum gibt. Die NZZ erinnert an bessere Zeiten in Bagdad. Die FR findet ein weltpolitisches Strandgut in Bremerhaven. Die taz erklärt den Unterschied zwischen Lenin und Limonow. In der SZ schreibt Ivan Nagel ein Falschwörterbuch des Krieges.

FAZ, 19.02.2003

Ganz schön knurrig war Stanislaw Lem beim Interview mit der FAZ. Die Solaris-Verfilmungen von Tarkowski (viel zu lang) und Soderbergh (hat er nicht gesehen, will er nicht sehen), mag er nicht. Mit "diesem dreckigen Kerl" Saddam Hussein würde er sofort Schluss machen. Die moderne Welt geht ihm auf die Nerven - "Ich sehe nicht fern, meine Herren, außer Nachrichten in deutscher Sprache, denn die lassen mich am ehesten kalt." - und vom Klonen hält er auch nichts. Obwohl "... ich glaube, das Klonen wird kommen, nur eben nicht von Montag auf Mittwoch. Alle Tabus verschwinden irgendwann. Als ich Schüler war, wusste ich nicht einmal, was Pädophilie ist. Heute wirft sich jeder dritte Vati auf seine Tochter oder seinen Jungen. Der Mensch ist eine unangenehme Gattung, sehr peinlich, ja. Da sind wir wieder bei 'Solaris': Die Hoffnung, dass es auch andere Wesen gibt, und zwar nicht nur Humanoide, ist ein kleiner Trost. Ein Trost könnte auch sein, dass es noch ekelhaftere Kreaturen gibt als den Menschen. Es wäre peinlich zu denken, dass wir die einzigen sind, die das Weltall bewohnen und ständig solche schrecklichen Dinge tun. Na ja, jetzt sehen wir mal zu. Ich warte auf den Angriff Amerikas auf den Irak. Ihr Außenminister Fischer ist übrigens dicker geworden."

Der chilenische Schriftsteller Ariel Dorfman erzählt, wie er einmal beinahe ein amerikanisches Kind hätte ertrinken lassen, das ihm mit seinem aufdringlichen Geschrei den Nachmittag verdorben hatte. Dann hat er den "Teufelsbraten" aber doch gerettet und sich mit der Mutter über ein Louis-Armstrong-Konzert unterhalten, das beide besucht hatten. "So einfach war das und ist es heute noch, vom Verächter der Yankees zum Liebhaber der nordamerikanischen Kultur zu werden. Ein Zickzackkurs, ein Hin und Her aus Verachtung und Bewunderung, das Millionen Menschen auf der ganzen Welt seit Jahrzehnten durchmachen. Aber entscheidender für mich und meine gespaltene Existenz war im Kurbad von Jahuel die emotionelle und intellektuelle Grunderfahrung des Versuchs, das amerikanische Volk von der Politik seiner Regierung zu trennen. Seit diesem Zwischenfall habe ich gelernt, andere Wahrheiten zu verstehen: Wie einfach es ist, den Antiamerikanismus zu benutzen, um die Fehler und Versäumnisse der eigenen Gesellschaft nicht kritisieren zu müssen..."

Weitere Artikel: Jürgen Tietz fürchtet, das in den fünfziger Jahre erbaute Institut für Bergbau und Hüttenwesen der Berliner TU könnte abgerissen werden, wenn es erst einmal verkauft worden ist. "Damit würde die städtebauliche Situation am Ernst-Reuter-Platz aus den Fugen geraten." Und Sonja Margolina hat einen Blick in russische Zeitungen geworfen, die sich vom deutsch-französischen Einvernehmen auch einiges für Russland versprechen.

Auf der Medienseite schildert Souad Mekhennet den unerfreulichen Fernsehalltag im Irak. Saddam beim Beten, Saddam "bei einem Wettschwimmen, bei dem er selbstverständlich vorn liegt, beim Bergsteigen mit Tirolerhut, auf einem Schimmel, die rechte Hand schräg nach oben gereckt, eine Pose, die er auf Bildern oft einnimmt." Auf der letzten Seite wirft der emeritierte Philosoph Reinhard Brandt den Befürwortern des Klonens vor, sie legten Kant falsch aus.

Besprochen werden eine Ausstellung über die Belle Epoche in Wien und Budapest im Wiener Palais Harrach, der Film "No Man's Land" von Danis Tanovic, Deborah Colkers "Casa"-Tanz an der Komischen Oper Berlin und eine Ausstellung mit chinesischen Grabungsfunden in Neuseeland.

NZZ, 19.02.2003

Cristina Erck erinnert daran, dass Bagdad einmal bessere Zeiten gesehen hat: "Die Regierungszeit Haruns (786-809) gilt als Blüteperiode der Dichtung und der Wissenschaften; Mamun (813-833) förderte die Erschließung griechischer Texte. Bagdad war die Quelle, aus der in den folgenden Jahrhunderten Europa sein Wissen bezog. Erst der verheerende Mongolensturm 1258 setzte dem ein grausames Ende. Saddam Hussein scheut sich nicht, den alles vernichtenden Einfall der Reiterhorden mit der anstehenden Kriegsgefahr, Hulagu mit Bush zu vergleichen, während er selbst sich gern als Nebukadnezar stilisiert."

Weitere Artikel: Kerstin Stremmel fragt in einem Hintergrundartikel, was in Zeiten der Streichungen in den Kulturetats aus der Kunststadt Köln wird. Peter Hagmann stellt den von Renzo Piano entworfenen Parco della musica in Rom vor, der dem römischen Sinfonieorcheter seinen lang ersehnten Sitz beschert. Joachim Güntner stellt das von der Stiftung Lesen ersonnene Rekordprojekt des schnellsten Buchs der Weltgeschichte vor, das am 23. April, dem Welttag des Lesens, realisiert werden soll.Besprochen werden Donizettis Oper "La favorite" in Wien, eine CD mit Janaceks "Jenufa" unter Bernhard Haitink, 4 CDs, auf denen österreichische Orgeln vorgestellt werden, Aufnahmen des Praak-Quartetts und einige Bücher, darunter eine Abhandlung über die Geschichte Kölner Straßennamen und Gedichte von Franco Fortini. (Siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr.)

FR, 19.02.2003

Verena Mayer erzählt die skurrile Geschichte um das reparaturbedürftige irakische Schiff "Al-Zahraa", das wegen des plötzlich in Kraft getretenen Embargos seit geschlagenen zwölf Jahren als "weltpolitisches Strandgut" in Bremerhaven liegt. "Das Schiff knarrt leicht im Wellengang, sonst rührt sich nichts. Wenn man genau schaut, sieht man eine kleine Luke, die von einer Neonröhre erhellt ist - der einzige Hinweis, dass sich etwas tut auf irakischem Territorium. Denn hinein gelangt man nicht so leicht, Journalisten und anderen Neugierigen wird der Zutritt hartnäckig verweigert. Das regt seit einem Jahrzehnt zu gleichen Teilen Fantasie und Misstrauen an, ein verlassenes Schiff ist ja immer ein Topos des Rätselhaften, ein irakisches ganz besonders. Wenn man sich im Hafen nach der Al-Zahraa erkundigt, hört man oft das Wort Geheimdienst. Der irakische Geheimdienst habe ein Auge auf das Schiff, heißt es, und: Die haben bestimmt ihre Gründe, warum sie niemanden auf das Schiff lassen. Von einem Helikopterlandeplatz wird gemunkelt, in einer Zeitung war bereits von Geisterschiff die Rede.

Weitere Artikel: In einer neuen Folge ihrer "Flatiron Letters" erklärt Marcia Pally, wie wichtig die freie Wahl für den "American Way of Life" ist. Gabriele Hoffmann freut sich über das gelungene "Ensemble" der Stuttgarter Kulturmeile, die nun mit der Fertigstellung des "Haus der Geschichte Baden-Württemberg" ihren Abschluss gefunden hat. Martina Meister erzählt ein Hauptstadtmärchen: "Warum das Tempodrom das Luftigste unter den Berliner Luftschlössern ist". In Times mager stellt Jürgen Roth der "keuschen" und slanglosen Gemeinsprache den Totenschein aus. Und aus Großbritannien wird gemeldet, dass es bei Erscheinen des neuen Harry-Potter-Bandes zum Preiskrieg kommen wird.

Auf der Medienseite berichtet Konrad Lischka, dass Wissenschaftler in den amerikanischen Fachzeitschriften nun der Selbstzensur unterliegen und verlinkt auf die gemeinsame Erklärung von 32 Fachjournalen. Schließlich berichtet "rid", dass die Taunusfilm GmbH vor dem Aus steht.

Besprochen wird "Enemy of the Enemy", das neue Album der Asian Dub Foundation.

TAZ, 19.02.2003

Wladimir Kaminer stellt den russischen Schriftsteller Eduard Limonow vor, dem der aus dem russischen Untergrund vergebene und mit einem Rubel dotierte Andrej-Bely-Preis verliehen wurde. Einst war er Dissident. Als Nationalbolschewist mit dem Vorbild Lenin kehrte er 1992 aus dem Exil zurück und hätte gern mal wieder eine kleine Revolution angezettelt: "Lenin schaffte es, in einem Land, das er kaum kannte, zusammen mit Leuten, die ihn kaum verstanden, an die Macht zu kommen - indem er alle Debatten über die politische Zukunft des Landes blockierte, Liberale, Demokraten und Rechte beschimpfte und mit einem Dutzend Soldaten das Telegrafenamt besetzte. Das kann ich auch, dachte sich Limonow 1992. Nur ein Haken war dabei. Lenin hatte zwar nur eine kleine Partei, aber immerhin hatte er eine. Limonow hatte gar nichts." Manchmal kennt die Geschichte auch glückliche Fügungen!

"Amerikas konzentrierte Verachtung" gilt derzeit Frankreich, und nicht Deutschland. Schade eigentlich, meint Michael Streck aus Washington, denn vielleicht hätte sonst die Berlinale, die nicht gerade arm an politischen Stellungnahmen war, etwas mehr Beachtung in der amerikanischen Presse gefunden. Allein die Leser der New York Times hätten mit zwei Tagen Verspätung vom Gewinner des Goldenen Bären erfahren. Natürlich, denn er sei ja kein Amerikaner. "Die einschlägigen Blätter und TV-Stationen interessiert es schlichtweg nicht, wenn ausländische Filme Preise gewinnen und was Hollywood-Stars neben dem Laufsteg in Berlin treiben." Dies, so Streck, sage auch Einiges über die amerikanische Medienlandschaft aus: "Grundsätzlich gilt seit der Machtübernahme der Republikaner im Weißen Haus: Wer in den USA kritische Stimmen lesen will, muss online gehen."

Besprochen wird Lars-Ole Walburgs Inszenierung von Rainald Goetz' "Heiligem Krieg" an den Münchner Kammerspielen. Susanne Messmer stellt in der Kolumne Modernes Lesen einige Bücher vor.

Und schließlich Tom.

SZ, 19.02.2003

Krieg beginnt mit Lüge und Verfälschung, meint Ivan Nagel und hat ein "Falschwörterbuch" des Krieges zusammengestellt, in dem Wörter wie "Vorbeugung" und "Terrorismus" zu finden sind. Das allerwichtigste Wort jedoch ist natürlich "Krieg": "Der Aufmarsch von 200.000 Soldaten um die Grenzen des Irak heißt nicht 'Kriegsvorbereitung', sondern (seit Monaten dulden wir das): 'Drohkulisse'. Der Zweck ihrer Anwesenheit ist nicht der 'Krieg', sondern der 'Weltfrieden'. Der Irak gefährdet nur die 'Sicherheit', nicht die 'Ölwirtschaft' der USA und ihrer Bürger. Gegen ihn hat man keinen 'Angriff' vor, sondern 'Entwaffnung'. Entrissen werden ihm dabei die (atomaren, biologischen, chemischen) 'Massenvernichtungswaffen' - von der Weltmacht, die sie in den größten Mengen besitzt und Atombombe, Agent Orange, Napalm auch schon verwendet hat." Hoffentlich, so Nagel, werden die Amerikaner zu verhindern wissen, dass George Bush auch noch "Freiheit" und "Demokratie" zu Einträgen im Falschwörterbuch macht.

Weitere Artikel: Thomas Steinfeld kann dem Vergleich zwischen millionenschweren Managern und virtuosen Künstlern nicht ganz folgen. Tim B. Müller berichtet, wie Michael Naumann in einer Rede Abschied von der Bildung nahm. Wolfgang Schieder rät, sich nicht allzu viel von der Freigabe der vatikanischen Akten zu erwarten. In der Kolumne sinniert "Imue" über die Sprinter unter den Literaten. Und "Akis" berichtet, dass die CDU/CSU fürs Erste den Streit um die Bioethik beilegt.

Mittwoch ist Musiktag: Christine Heise hat mit Nick Cave (mehr hier) über Johnny Cash, Disziplin und Melancholie geredet. Karl Lippegaus stellt "Psicotic Music' Hall" vor, das neue Programm des französischen Sängers Pascal Comelade, dessen Markenzeichen japanische Spielzeug-Pianos und anderen Trödelmusikalien sind. Besprochen werden "More Melody", das neue Album der Phenomonological Boys, das Sparks-Album "Lil' Beethoven", Calexicos "Feast of Wire", Susanne Brokeschs elektronische Musik, Eliza Carthys Traditional-Sammlung "Anglicana" und die "Fünfzehn Neuen DAF-Lieder".

Außerdem werden besprochen Martin Scorseses Epos "Gangs of New York", Werner Fritschs "Schwejk?" am Linzer Landestheater, Maurizio Pollinis Münchner Chopin- und Debussy-Konzert und Bücher, darunter Margriet de Moors Roman "Kreutzersonate", Verena Luekens New-York-Reportage und Frantisek Smahels Geschichte der Hussitischen Revolution (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).