Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.09.2003. In der FAZ sieht Ariel Dorfman die USA gar nicht so weit entfernt vom Chile vor dreißig Jahren. Auch in der taz erinnert Luis Sepulveda an den Putsch der Generäle. Die SZ sieht im Fall Wallraff einen alten Kampf von einer neuen Generation nachgespielt. In der NZZ preist Wolfgang Sofsky die Tugend der Tapferkeit. Und die FR hatte ein erschütterndes Erlebnis am Gardasee.

FAZ, 09.09.2003

Vor dreißig Jahren hat auch niemand von uns geglaubt, dass die Demokratie in Chile so leicht zu überwältigen sei, erinnert sich der chilenische Schriftsteller Ariel Dorfman (mehr). Die USA sieht er heute in einer ähnlichen Situation wie das Chile vor dem Putsch. "Wenn jemand sich verwundbar fühlt, wenn er sich als ewiges Opfer empfindet, wenn er in jedem Nachbarn und jedem Ausländer einen Feind sieht, dann ist ihm keine Strafe gegen seine eingebildeten Gegner schwer genug, geht ihm keine Maßnahme weit genug, um die eigene Ruhe wiederherzustellen. Dieses ist die Lehre, die wir dreißig Jahre nach dem Putsch ziehen müssen."

Wallraffs Pressekonferenz kann Andreas Rossmann nicht hinter dem Ofen hervorlocken. Nichts, was über das Gespräch mit der FAZ hinausgeht. Gespannt ist er allerdings, was Wallraff zu den Vorgängen um die Biermann-Ausbürgerung sagen wird. Günter Ewald, Biermanns Gastgeber von 1976, informiert uns im Gespräch, dass Biermann nach Erhalt der Nachricht sofort zu Wallraff wollte. "Jakob Moneta, damals Chefredakteur der Gewerkschaftszeitschrift 'Metall', fuhr Biermann daraufhin zu Wallraff." Auf der nächsten Seite wird kurz die literaturgeschichtliche Bedeutung Wallraffs abgehandelt, die natürlich noch glanzvoller wäre, "hätte er als Unterworfener der Stasi über seine Kontakte geschrieben." So. Pausenglocke. Die nächste Runde kommt bestimmt.

Petra Kolonko stellt uns den Langen Marsch chinesischer Künstler vor. Für die zweite Etappe suchen sie nun nach Sponsoren, was gar nicht so leicht ist. Denn "darf Coca-Cola mit auf den Langen Marsch?" Zhou Derong sorgt sich, weil Chinas Akademiker immer weniger Arbeit finden. Guillaume Paoli meditiert im zweiten Teil seiner Betrachtungen über Adorno und Amerika und fragt: "Muß man weiter adornieren?" Die Antwort erübrigt sich. "eeb" glaubt, dass Klaus Zehelein ab 2006 auch die neuen Aufgaben als Präsident der Bayerischen Theaterakademie bewältigen wird. Gerhard R. Koch erzählt vom vielfältigen Busoni-Klavierwettbewerb in Bozen, von den Anfängen bis heute. Timo John besichtigt die Stuttgarter Stiftskirche nach ihrem halbherzigen Umbau.

Nun haben alle Spieler ihre Karten ausgereizt, meint Michael Hanfeld auf der Medienseite zur verfahrenen Situation von Berliner Zeitung, Tagesspiegel, Springer, Holtzbrinck und Bauer. Alle warten auf Clements Ministerialentscheidung. Außerdem meldet Jürg Altwegg, dass die Schweizer Kulturzeitschrift Du nach langem Bangen jetzt an den Niggli-Verlag verkauft wurde und damit vielleicht doch noch eine Überlebenschance hat. Viel Glück.

Auf der letzten Seite hofft Wolfgang Sandner auf den amerikanischen Dirigenten John Axelrod aus Houston als neue Kraft im Musikbetrieb. Lisa Zeitz spaziert auf der High Line, der verwunschen brachliegenden Hochbahn im Westen Manhattans. Dass die französische Allzweckwaffe Frederic Beigbeder (mehr) sich an die literarische Beschreibung des 11. September macht, behagt Jürg Altwegg dagegen nicht so ganz.

Besprochen wird die Uraufführung von Michael Frayns "Democracy"-Drama über die Brandt-Guillaume-Affäre am Londoner National Theatre, Mozarts "Zauberflöte" in der mulitmedialen Inszenierung der katalanischen Compagnie La Fura dels Baus bei der Ruhrtriennale, Roland Kochs Ersatzinszenierung von "Was ihr wollt" zum Saisonauftakt am Wiener Burgtheater, Matthias Pintschers Violinkonzert zur Eröffnung des Frankfurter "Auftakt"-Festivals, sowie ein Buch, Friedrich Dieckmanns ernste Nationalerkundung "Was ist deutsch?".

TAZ, 09.09.2003

Der chilenische Schriftsteller und ehemalige Leibgardist von Salvador Allende, Luis Sepulveda (mehr hier), erinnert sich in einem Interview an den Putsch der Generäle am 11. September vor 30 Jahren. "Es ging alles sehr schnell. Wir waren nicht darauf vorbereitet, dass die Regierung zusammenbrach. Trotz unserer revolutionären Ansichten glaubten die meisten von uns, dass auch die Rechten die demokratischen Institutionen des Landes respektieren würden. Chile war schließlich eine alte Demokratie, mit einer 120-jährigen Tradition, trotz einiger dunkler Kapitel."

Tobias Rapp beerdigt die Girlgroup No Angels, die sich nach dreijähriger Existenz nun wegen "kollektiver Erschöpfung" auflöst. "Wie der Mythos es will, begann die Geschichte der Spice Girls mit einem Akt der Selbstermächtigung. Im medialen Dunkel der Villa, in der sich die fünf auf ihre Karriere vorbereiteten, feuerten sie ihren Manager und nahmen die Selbsterfindung in ihre eigenen Hände. Bei den No Angels verhält es sich genau andersherum: die Selbstbestimmung dürfte mit der Entscheidung begonnen haben, aufzuhören."

In knappest möglicher Form kündigt Francis Bergmann das morgen beginnende dritte Berliner Literaturfestival an ("groß, größer, Berlin"). Und Katrin Bettina Müller schwärmt von den Choreografien von Anne Teresa de Keersmaeker, die der "Geschichte der Musikrezeption eine ganz eigene Form der Reflexion verleihen" können.

Besprochen werden Philipp Tinglers Tagebuchroman "Ich bin ein Profi", Charles Simmons Literaturbetriebssatire "Belles Lettres", mehrere historische Romane (nicht nur) für Jugendliche, und in der Sektion Politisches Buch watscht Renee Zucker die Verschwörungstheoretiker des 11. September Bröckers, Hauß, von Bülow und Wisnewski ab und erklärt, wie ihnen "viel Spott erspart geblieben" wäre, wenn sie ihre Bücher zu "9/11" als Romane veröffentlicht hätten (mehr dazu in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Und hier findet sich wie immer TOM.

NZZ, 09.09.2003

Den Verlust einer Tugend zu beklagen, hat keinen besonders guten Ruf, Wolfgang Sofsky (mehr hier) fasst sich ein Herz und tut genau dies. Mut und Tapferkeit, meint er nämlich, gelte es wieder, in Kurs zu setzen in einer Zeit, da die "gelungene Selbstinszenierung" schon als "Garant für geistige Festigkeit" gilt. "Von Ministern und Präsidenten wird zwar fortwährend 'Mut zu unpopulären Entscheidungen' gefordert. Aber wenn die selbstverständliche Erfüllung der Amtspflichten bereits als Beweis politischer Courage gilt, ist der Verfall der Tugend längst besiegelt. So sind die Ansprüche gering, und echter Wagemut erscheint verdächtig. Der Courage haftet der Geruch der Torheit und Tollheit an. Verführen nicht Leichtsinn, Zorn oder pure Selbstüberschätzung die Menschen zur Verwegenheit? Nur zu gern führt man die Vernunft gegen die beherzte Aktion ins Feld oder identifiziert Furchtlosigkeit mit Tollkühnheit. Im Wertekanon des historischen Bürgertums, der Patrizier wie der Gelehrten, rangierte die Tapferkeit nie auf den vorderen Plätzen. Zweifellos benötigt richtiges Handeln nicht nur Mut, aber ohne eine kräftige Prise Kühnheit ist richtiges Handeln nicht zu haben."

Besprochen werden ein halbherziger Saisonauftakt an der Wiener Burg, Heinz Spoerlis Bach-Choreografien "In den Winden im Nichts" in Zürich und Bücher, darunter Mariusz Wilks Russland-Porträt "Schwarzes Eis", Uwe Timms Familiengeschichte "Am Beispiel meines Bruders", William Gaddis' Abrechnung "Das mechanische Klavier" und ein editorisches Großprojekt: die Herausgabe des Gesamtwerks von Charles Ferdinand Ramuz (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 09.09.2003

Einigermaßen erschüttert zeigt sich Ulf Jonak nach einem Besuch von Park und Villa der "Vittoriale degli Italiani", dem "Vermächtnis des Dichters und Faschisten" Gabriele D'Annunzio (mehr hier) am Gardasee. Die von Mussolini bezahlte und von dem Architekten Maroni entworfene Anlage sei reich an "Bizarrerien". So konnte Jonak "nicht anders, als, sensibilisiert vom Anblick mehrfach pittoresk platzierten Kriegsgeräts, hinter Maronis Landschaftsplanung, in deren Unnatur, die den Gehenden gängelt und ihm nicht die Freiheit lässt, beiseite zu treten, Analogien zu faschistischer Indoktrination zu vermuten." Bei der Rückreise durch "eine Kette von in den Fels gesprengter Tunnels" entlang des Sees dann dies: "Wir bilden uns ein, den Hauch ehemaliger militärischer Nutzung noch zu spüren. Unser Wohlgefühl, unser Sicherheitsbedürfnis ist arg strapaziert. Und tatsächlich kommen an einer Engstelle zwei sich begegnende Busse nicht aneinander vorbei." Soso.

Burkhard Müller-Ulrich berichtet vom Mantuaner Literaturfest, das sich inzwischen einen festen Platz im "globalisierten Business" solcher Veranstaltungen erobert habe. Claudia Wolff analysiert den folgenden Satz Adornos: "Noch das äußerste Bewusstsein vom Verhängnis droht zum Geschwätz zu entarten". Und in der Kolumne Times mager kommentiert Elke Buhr die Auflösung von No Angels: kein Vergleich zum Ende von Take that!
Besprochen werden die "großartige" Ausstellung "Backjumps - The Live Issu" im Berliner Künstlerhaus Bethanien, die erstmals Street Art, Aerosol-Kultur und Hiphop von internationalem Format zusammenträgt, eine Inszenierung der "Zauberflöte" in Bochum und die Uraufführung von Raimund Hoghes "Tanzgeschichten" in Hannoveraner ballhofeins.

SZ, 09.09.2003

Willi Winkler analysiert das "alte und neue Feindbild" Günter Wallraff. Wallraff sehe sich "heute wieder von den alten Feinden umstellt": den "Journalisten von der Springer-Presse", diesmal nicht von Bild, sondern "aus der um Seriosität bemühten Welt". Hier werde, so Winkler, "ein alter Klassenkampf von einer neuen Generation nachgespielt. Die Verhältnisse haben sich, und nicht zuletzt wegen Wallraffs masochistischer Wühlarbeit, erheblich verbessert. Die Bundesrepublik leidet nicht mehr unter Ausbeutung, sondern unter Arbeitslosigkeit. Die Vergangenheit ist gründlich bewältigt, und sei es, weil die alten Verbrecher einfach weggestorben sind. Eine datenmäßige Totalerfassung wie in der Gauck- oder Birthler-Behörde gab es für sie nicht. Es waren einsame Rächer, Leute wie Simon Wiesenthal, Beate Klarsfeld und Günter Wallraff, die im selbstgestellten Auftrag die Vergangenheit erhellen wollten. Journalistisch ist da nichts mehr zu gewinnen, aber warum nicht die Linken entgelten lassen, was man an den alten Nazis versäumt hat?"

Die Jugend im Iran ist eine verlorene Generation", behauptet Babak Rad. Bei den jüngsten Demonstrationen richte sich "der Protest inzwischen gegen Konservative wie Reformer", und das System werde "in seiner Gesamtheit" abgelehnt. Und mit ihm die Eltern, die für diese "Revolution auf die Straße gegangen sind. Diese Jugend erkennt die Autorität ihrer Eltern gar nicht mehr an, denn das Regime hat, obwohl es sich so konservativ gibt, die traditionellen Werte zerstört."

Weiteres: Georg Klein ventiliert in Fortführung seines Jubels um das "Wunder von Reykjavik" Stilfragen rund um Rudi Völler. Michael Schmitt würdigt die Erfindung der preiswerten Kunstmonografien im Wiener Phaidon Verlag. Sonia Zekri berichtet von der Sommerakademie in Sankt Petersburg. Volker Breidecker resümiert das "Festivaletteratura" in Mantua. Burkhard Müller bringt uns den italienischen "Padrone" näher ("Schlüsselfigur in einer Gesellschaft, die auf dem Klientelwesen beruht"). "pst" klärt einen aufschlussreichen Druckfehler in einem Flyer des Pentagon auf, und in der "Zwischenzeit" ist Hermann Unterstöger wieder verlässlich auf allerlei Verschwiemeltes gestoßen (etwa "Hauptknackpunkt" und "Downunderer").

"skoh" weist auf eine gemeinsame Internetseite von 66 der wichtigsten amerikanischen Kunstmuseen hin, die dort seit gestern "jene Kunstwerke aus ihrem Besitz veröffentlichen, deren Verbleib und Besitzerwechsel von der NS-Zeit bis heute unklar sind" (mehr hier). Ein Nachruf gilt schließlich dem Folksänger Warren Zevon.

Besprochen werden eine "grandiose" Dürer-Ausstellung in der Wiener Albertina, die größte seit 1971 in Nürnberg, zwei Inszenierungen der Ruhrtriennale: La Fura dels Baus mit "The Woman Who Walked Into Doors" und Mozarts "Zauberflöte", Premieren zum Spielzeitbeginn in Wien: "Was ihr wollt" im Burgtheater und "Antigone" im Volkstheater, sowie der Film "Agent Cody Banks" von Harald Zwart.

Sehr gelobt wird ein "Traktat" über al-Quaida von John Gray, Professor für europäische Ideengeschichte in London. Rezensiert werden außerdem Ariel Dorfmans Wunschtraum von der Bezwingung Pinochets, eine Biografie über Jutta Limbach und eine Hörspielbearbeitung auf CD von Prousts "Combray" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 10.09.2003

Adolf Muschg (mehr) erklärt uns mit Elan, wofür er und seine Akademie der Künste vom Staat bezahlt werden. In einem wunderschönen Plädoyer für die Kunst (das sogar frei zugänglich ist: danke FAZ!) dankt er der Gesellschaft für die Bereitschaft, sich etwas zu leisten, dessen Nutzen man im Vornherein nicht abschätzen kann. "Das Produkt einer Akademie ist nicht kalkulabel. Es beruht auf Eigenschaften ihrer Mitglieder (rund 360 in sechs Abteilungen, ein Drittel nichtdeutscher Nationalität), von denen keines geworden wäre, was es ist, wenn es sich damit begnügt hätte, ein Pensum gesellschaftlicher Erwartung abzuarbeiten. Wer Kunst kann, müßte per se ein Gegenstand des Interesses sein. Er braucht sich nicht weiter interessant zu machen oder seine Leistung als Dienstleistung zu empfehlen. Und wehe der Akademie, die dergleichen an seiner (oder ihrer) Stelle versuchte: Sie brächte sich um das einzige, was sie von anderen 'Kulturinstituten' unterscheidet: die eingeborene Empfindlichkeit gegen jegliche Institutionalisierung und die hochkarätige Unzurechnungsfähigkeit ihrer Mitglieder."

Weiteres: Leni Riefenstahl war eine mehr oder weniger naive "Karrierekampfmaschine", schreibt Wielfried Wiegand in seinem Nachruf, der es an Distanz zu sich selbst mangelte. Eine Charakterprobe ohne gleichen ist die Führung der Welt, stellt Uwe Walter in seinem Kommentar zu Peter Benders Essay über die Gemeinsamkeiten zwischen dem alten Rom und den USA fest. Die Amerikaner müssen nun erstmal beweisen, ob sie Frieden schaffen können wie die Römer. Die deutschen Stadionarchitekten müssen die Genialität des Colosseums dagegen nicht erreichen, ätzt "apl", die Nationalmannschaft würden ohnehin nicht so viele sehen wollen. Zwei israelische Persönlichkeiten werden achtzig Jahre alt: Jürgen Kaube gratuliert dem weitgereisten Soziologen Shmuel N. Eisenstadt, Joseph Croitoru sendet Glückwünsche an den Friedensaktivisten Uri Avnery. Edo Reents verabschiedet den bestgekleideten aller Folkrock-Interpreten, Warren Zevon. Matthias Grünzig besichtigt das überzeugend restaurierte Schloß Steinhöfel bei Berlin. Aus einer Meldung erfahren wir, dass die Deutsche Filmakademie nun endlich gegründet ist.

Unter der Diktatur war die chilenische Presse unfrei, aber lebendig, weiß Josef Oehrlein auf der Medienseite. Seitdem dominiert (o graus!) die rechtslastige Presse den Markt. Alexander Bartl fordert, dass die Stasi-Überprüfung des Rundfunks Berlin-Brandenburg im Rundfunkrat beginnen muss.

Auf der letzten Seite lesen wir Wolfgang Sandners Porträt des musikalischen Pioniers La Monte Young (mehr). "Ohne Präsenz in der Öffentlichkeit, ohne Siebdruckverfahren, ohne Populismus, ohne schnelle Links, ohne Auftritte und massenhaften CD-Ausstoß, im Grunde ohne sich von seinem orientalischen Sitzkissen in Lower Manhattan zu erheben, hat er die Musik vorangebracht." Andreas Rossmann dankt dem scheidenden Leiter der Ruhrfestspiele Hansgünther Heyme für dessen reformatorische Leistung. Und Thomas Rietzschel jubelt über die Restaurierung der Berliner Gartenstadt "Atlantic", wo Berlin sich von seiner besten, weil ehrlichen Seite zeigt.

Besprochen werden Heinz Spoerlis animierendes Bach-Ballett "In den Winden im Nichts" in Zürich, Andreas Homokis Eröffnung der Berliner Opernsaison mit einer flachen "Csardasfürstin", Gaspard Noes filmischer Höllensturz "Irreversibel", Paulus Böhmers singulärer Dichtungszyklus "Kaddish I - X" sowie Ralf Liedtkes naturwissenschaftliche Aktualisierung der Naturphilosophie von Novalis.

TAZ, 10.09.2003

Für die taz verabschiedet Claudia Lenssen die "bizarre Medienikone" Leni Riefenstahl, die hart "an ihrer Transformation vom verhassten Nazi-Urgestein zum schlanken Senior-Model westlicher Global-Kultur gearbeitet" habe. "Die vitale Grenzgängerin und Selbstdarstellerin übertrumpfte die historische Femme fatale. Riefenstahls Bilder stehen für frivole Monumentalität, abrufbar aus dem immensen Archiv der Stile, aus dem sich Werbung und Popkultur zyklisch bedienen. Sie sind wie Geister, die man nicht mehr aus dem Haus bekommt."

Im Streit um die geplante RAF-Ausstellung in den Berliner Kunstwerken litten beide Seiten gemeinsam an einer "Überschätzung des kritischen Potenzials der Kunst" meint Wolfgang Ullrich. "Tatsächlich zeichnet es die wichtigeren künstlerischen Arbeiten zur RAF aus, sich auf eine Entscheidung zwischen Mythisierung und Entmythisierung gar nicht erst einzulassen und so eine Konkurrenz mit dem Film und anderen Medien zu vermeiden. Viele Künstler haben begriffen, dass sie dabei notwendig die Verlierer wären, und wählen deshalb lieber bild- und selbstreflexive Verfahren. Allein deshalb ist die gegenwärtige Debatte so absurd, da sie in antiquierten Kategorien geführt wird, die Charakter und Intention der zeitgenössischen Kunst überhaupt nicht mehr gerecht werden."

Harald Fricke kann sich nicht entscheiden, ob er nun einem Musik- oder einem Filmereignis beiwohnte, angesichts der neuen Vermarktungsstrategien eines Londoner Konzerts von David Bowie, das per Satellit simultan in 68 Berliner Kinos übertragen wurde.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Aktions-Skulpturen von Roman Signer in der Sammlung Hauser und Wirth in Sankt Gallen und eine Ausstellung des österreichischen "Witzbildchenzeichners" Mahler mit dem schönen Titel "Kunsttheorie versus Frau Goldgruber" in der Galerie der Stadt Wels, die Autor Martin Zeyn dennoch zu der Frage veranlasst: "Warum sind die autobiografischen Arbeiten von Comicautoren oft so depressiv?" Rezensiert wird John McTiernans Whodunit "Basic". (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr)

Und hier TOM.

FR, 10.09.2003

Viel Platz hat die FR anlässlich des Todes von Leni Riefenstahl freigeräumt. Christoph Schlingensief glaubt, dass mit Riefenstahl ein "Stück unbequemes Deutschland" gestorben sei. Er prophezeit, dass es "viele Kulturbeflissene und Historiker" geben werde, "die jetzt wieder anfangen, Biografien zu schreiben. Die Nazischergin ist tot, endlich kann man über einem Gesamtkunstwerk meditieren". Als "vor allem Bildermacherin" würdigt Peter W. Jansen Leni Riefenstahl in seinem Nachruf. Dass die Schönheit ihre Bilder ideologisch instrumentalisiert werden konnte, habe sie nie begriffen. Doch, so Jansen: "Das Schöne ist auch des Schrecklichen Anfang. Es ist ein deutsches Missverständnis seit Goethes Tasso, dass erlaubt sei, was gefällt. Diesem Verständnis wohnt prinzipiell eine tiefe Unmenschlichkeit inne, weil es den Menschen zur Arabeske macht." Und auf Seite drei porträtiert Daniel Kothenschulte Riefenstahl als "verführte und gleichzeitig verführende Avantgardistin". Außerdem zu lesen sind Auszüge aus einem Gespräch, das die FR im April 2002 mit Riefenstahl geführt hat, es geht unter anderem um die gegen sie erhobenen Vorwürfe und ihren Unterwasserfilm.

In der Kolumne Times mager bedauert Christian Schlüter die "obsessive Anschlusssuche" in der neuen Ausgabe der Zeitschrift Merkur, deren stets verlässliche Orientierungsfunktion für die Debattenkultur sich im "Generationskonflikt" erschöpfe. "Was dem Merkur abgeht, nämlich Jugend und also Zukunft, nimmt er als interne Differenz wieder in sich auf und thematisiert sie als Krieg der Generationen. Re-entry hätte Niklas Luhmann so etwas genannt, oder operative Geschlossenheit."

In der Reihe "Sätze von Adorno" interpretiert Michael Rutschky heute: "Das Ganze ist das Unwahre". Er beginnt mit dem Geständnis: "Damals in den sechziger Jahren, als wir jung waren und Adorno zu lesen begannen, schlug der Satz ohne Verzögerung ein. Das Ganze ist das Unwahre, der Satz sagte genau aus, was man das Lebensgefühl nennt, die umgreifende Stimmung, in der ich mich durch meine Tage bewege." Rudolph Walther informiert über die Fortsetzung des "Kulturkampfs" in Frankreich, der mit der Bestreikung und nachfolgenden Absage der Sommertheaterfestivals ihren Anfang nahm.

Besprochen werden Ron Sehltons "wunderbare" Kinokomödie "Hollywood Cops" mit Harrison Ford und drei Bild-Textbände über Adorno (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr)

NZZ, 10.09.2003

Zum Tod von Hitlers Lieblingsregisseurin Leni Riefenstahl schreibt Peter W. Jansen: "Selten hat es so viel Übereinstimmung gegeben zwischen einem Auftraggeber, der als Künstler gescheitert war, und der Künstlerin, die seinem Material zu dem Ausdruck verhalf, der ihm schon innewohnte. Sie lassen sich nicht mehr unterscheiden, die Arrangements der Aufmärsche und Aufzüge, die politische Ikonografie der Macht, die sich als Bild vor der Abbildung gigantisch vor die Anschauung rückt, von dem zu Bildkompositionen organisierten Filmbild... Die Montage, ein Werk von makelloser Schönheit - und sie imprägniert die Filme noch einmal mit dem Willen zur Kunst -, ist allein Riefenstahls Werk. In ihm herrscht ein Terrorismus des Schönen, dessen unschuldige Seele sich nach Bedarf vergiften lässt."

Ansonsten gibt es Rezensionen: Besprochen werden Michail Kononows Roman "Die nackte Pionierin", Peter Benders Studie "Weltmacht Amerika", Art Spiegelmans gesammelte Titelblätter für den New Yorker "Küsse aus New York" und Ulla Hahns Roman "Unscharfe Bilder" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 10.09.2003

In drei Texten und mit einer ganzen Palette bei Intellektuellen, Filmemachern etc. eilig eingeholten Sentenzen reagiert die SZ auf den Tod von Leni Riefenstahl. Als zumindest "phantastisch in ihrer Genrezugehörigkeit" würdigt Fritz Göttler ihre umstrittenen Filme, auf Seite drei resümiert Joachim Käppner noch einmal Riefenstahls bewährten "Code der Verdrängung". Im Nachdruck eines Artikels aus dem Jahr 1975 befindet die im vergangenen Jahr verstorbene Filmtheoretikerin Frieda Grafe, der Inhalt von Riefenstahls Bildern sei "zu schwerwiegend, um die filmischen Artikulationen zu analysieren". Unter den durchaus differenzierten Promi-Nachsätzen seien hier nur Klaus Theweleit ("Verdient keinen Nachruf. Hat sie sich alles schon selbst gemacht. Und man hat's ihr abgenommen. Soll nicht in Frieden ruhen"; hier) und der Historiker Hans Mommsen zitiert ("Es war typisch für dieses Regime, dass es Leute so groß machte, die nur ein so kleines politisches Gehirn besaßen"; hier). (Übersicht der restlichen: hier)

In einem Essay erklärt Martin Urban die Ursachen und Grundlagen des menschlichen Traums von der "Unverwundbarkeit" im Allgemeinen und den diesbezüglichen Traum der USA im Besonderen: "Angst entsteht im Kopf, unabhängig von der tatsächlichen Bedrohung. Je größer die Angst, desto höher rüstet sich der Mensch. Die eigene Waffe ist Symbol dafür, gegen alles gewappnet zu sein; das Wort wappnen kommt denn auch vom Mittelhochdeutschen "wapenen" gleich rüsten, bewaffnen. Ist es Zufall, dass dort, wo die Menschen am besten bewaffnet sind, das Leben am wenigsten sicher ist?"

Der Schriftsteller Georg Klein, neuer SZ-Beauftragter in Sachen Rudi Völler, erklärt heute das urdeutsche Talent zur "negativen Grandiosität". Gerwin Zohlen lobt die "mustergültige" Restaurierung der Gartenstadt Atlantic im Berliner Wedding. Burkhard Müller schwärmt von der Vielfalt italienischer Dolci.

Auf der Medienseite wird vom Verkauf der Kulturzeitschrift DU an den Schweizer Niggli-Verlag berichtet, und Willi Winkler kommentiert das politische Echo auf Völlers Rundumschlag. Gemeldet werden schließlich noch die Verleihung des Balzanpreises an den Physiker und Astronomen Reinhard Genzel (hier) und neue Vorstöße in Sachen Fusion in den Musiksparten zwischen Bertelsmann und AOL Time Warner (hier).

Besprochen werden die Uraufführung von Michael Frayns Willy Brandt-Stück "Democracy" am Londoner National Theatre, Joel Schumachers Film "Die Journalistin" über die irische Reporterin Veronica Guerin und eine Ausstellung von Oliver Bobergs "illusorischen Modellwelten" im Kunstverein Hannover. Und natürlich gibt es Rezensionen, darunter der Briefe von Thomas Mann an seinen "Entdecker" Richard Schaukal, ein bisher nur auf französisch erschienene Studie von Bernard Bruneteau über Visionen eines "braunen Europa" der Hitler-Kollaborateure in der Vichiy-Regierung und Stuart Pigotts Reise durch die globalisierte Welt des Weines (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).