Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.09.2003. Die Zeit berauscht sich an Rem Kohlhaas' niederländischer Botschaft in Berlin. In  der FR kritisiert Richard Wagner den Antifaschismus der westeuropäischen Linken. Die FAZ testet einen cremigen Morlacca auf der Käsemesse von Bra. Das Kopftuch-Urteil wird von unserem sonst so politischen Feuilleton mit Vorsicht goutiert.

Zeit, 25.09.2003

Die Rückkehr zum ästhetischen Gegenstand, die bei der Hallenser Feuilletonkonferenz ausgerufen wurde, lässt sich heute in der Zeit aufs schönste beobachten. Eine Fülle von Artikeln lockt in Museen, Theater und Kinos. Zudem bringt die Zeit heute schon ihre erste Literaturbeilage des Herbstes, 44 Seiten mit Aufmacher über Hanns-Josef Ortheils Roman "Die große Liebe", besprochen von Ulrich Greiner, und einem Artikel des Lyrikers Alexander Nitzberg über die jungen wilden Moskauer Lyriker. Der Perlentaucher wertet die Beilage in den nächsten Tagen aus - die nächste kommt dann schon zur Buchmesse.

Aufmacher des Feuilletons ist Hanno Rauterbergs rauschhafte Hymne auf die von Rem Kohlhaas entworfene niederländische Botschaft in Berlin: "Offenbarung und Geheimnis, dies Wechselspiel der Gegensätze durchzieht den Bau, er gibt sich nach außen streng und verliert im Inneren jede Kontrolle." Ach, hätte man Kohlhaas ein wenig mehr Einfluss in Berlin nach der Wende gegeben. Schon bei der Planung des Potsdamer Platzes geißelte er prophetisch das "kleinbürgerliche, altmodische, reaktionäre, unrealistische, banale, provinzielle und vor allem dilettantische Bild der Stadt", das da entstehe. Bilder von der Botschaft hier in Flash unter "Projects".

Weitere Artikel: In der Leitglosse begrüßt Thomas E. Schmidt den neuen Goethe-Chef Andreas Schlüter im Amt. Jörg Lau stellt richtig, dass der Bund die Vertriebenenverbände bereits mit 18 Millionen Euro jährlich unterstützt und dass es bereits ein Netzwerk von Institutionen gibt, die ein "Zentrum gegen Vertreibungen" als redundant erscheinen lassen. Klaus Dermutz führt ein langes Gespräch mit dem Schauspieler Ignaz Kirchner vom Burgtheater über Gott, Brecht und höhere Schauspielkunst. Der bedeutende Ostpublizist Friedrich Dieckmann bricht eine Lanze für seinen Lieblings-DDR-Maler Max Uhlig, der in der zur Zeit laufenden DDR-Schau in Berlin kaum vertreten sei. Eva Schweitzer resümiert eine New Yorker Tagung über die Medien und den Irak-Krieg, in dem als bedeutendster europäischer Pressevertreter auch Zeit-Herausgeber Josef Joffe ein paar Worte verlieren durfte. Peter Kümmel erkundet die Lage an den Hamburger Theatern, und hier besonders am Thalia und am Schauspielhaus. Christof Siemes besucht die Istanbuler Biennale für zeitgenössische Kunst und findet sie ebenso bedeutend wie die von Venedig. Lisbet Rausing, Millionärstochter und Mäzenatin, bedauert, dass das europäische Stiftungswesen ein privates Engagement für Kunst und Kultur erschwert. Dokumentiert wird Martin Mosebachs Intervention auf der Hallenser Feuilletontagung. Und Jenni Zylka porträtiert die Rocksängerin Peaches.

Besprochen werden ein Oratorium für den von den Nazis ermordeten Pianisten Karlrobert Kreiten in Düsseldorf, eine Filmdokumentation über Jacques Derrida, Gary Ross' Film "Seabiscuit" (mehr hier) und Christian Petzolds neuer Film "Wolfsburg" (mehr hier).

Im politischen Teil gibt es bereits eine Doppelseite über das Kopftuch-Urteil (Michael Thumann findet das Kopftuch gut, Gero von Randow dagegen kritisiert einen lauen Multikulturalismus der deutschen Gerichte, und Martin Klingst findet, dass sich das Vefassungsgericht gedrückt hat.) Fürs Dossier hat Thomas Kleine-Brockhoff eine Reportage über Arnold Schwarzeneggers Wahlkampf (join Arnold!) in Kalifornien geschrieben. Und in den Zeitläuften wirft Ernst Klee der Deutschen Biografischen Enzyklopädie die Schönung von Wissenschaftlerbiografien in der NS-Zeit vor.

FR, 25.09.2003

Hilal Sezgin lobt die Karlsruher Verfassungsrichter dafür, die Kopftuchfrage an den Multikulturalismus der Länder verwiesen zu haben. "Vor dem 11. September war Toleranz ein selbstverständlicher Luxus der liberalen Wohlstandsgesellschaft; jetzt will sie politisch erkämpft und privat mühsam erlernt sein. Wo man vorher mit einem Plädoyer für die Religionsfreiheit automatisch auf der Seite der Guten stand, muss man jetzt auch ein paar Argumente parat haben, warum der Islam doch nicht so rückständig und von seinem Wesen her fanatisch ist, wie er scheint... Wer vorher annahm, einfach so vor sich hin leben und glauben zu können, der weiß, auch er ist mitgemeint, wenn von den Selbstmördern die Rede ist, von den Barbaren, von den Rückständigen, von Unterdrückern und Unterdrückten und ihren Befreiern und diesem sichtbaren Stückchen Stoff, an dem sich beide Seiten festklammern."

Die Debatte um Günter Wallraffs Stasi-Kontakte nimmt der rumäniendeutsche Schriftsteller Richard Wagner (mehr hier) zum Anlass, den Antifaschismus der DDR und der westdeutschen Linken kritisch zu beleuchten. "Der Antifaschismus blieb ein politisches und ideologisches Instrument, um die bürgerliche Opposition zu denunzieren und sich selbst zum besseren Deutschland stilisieren zu können. So kam es vor, dass sich die militanten 68er und verdeckte Stasi-Leute trafen, um den gemeinsamen Feind, den bundesrepublikanischen Staat, zu bekämpfen. Die DDR lieferte dazu entsprechende Dokumente... Die Kampfansage der DDR aber galt der Westbindung und damit der Demokratisierung Deutschlands. Dass viele der 68er dieser Art Kampf das Wort geredet haben, indem sie mit Ho-Chi-Minh-Rufen und dem Mao-Büchlein gegen Amerika antraten und den Vietnamkrieg mit Auschwitz gleichsetzten, sollte endlich zu denken geben. Denn aus solchen Schlagworten ist ein triviales Weltbild entstanden, dass bis heute wirkt. An diesem Weltbild hat Wallraff leider mitgestrickt und er beruft sich auf seine Vereinfachungen bis heute. Diesmal, um sich herauszureden."

Andere Themen: Stephan Hilpold porträtiert Hans Gratzer und sein Theater an der Josefstadt in Wien. In der Kolumne Times Mager können wir lesen, das Berlusconi jetzt angekommen ist, wo sich sein verkümmertes staatsmännisches Wesen am heimischsten fühlen dürfte. Bei Benito Mussolin.

Besprochen werden eine Ausstellung der Fondation Beyeler bei Basel zum hundertsten Geburtstag des amerikanisch-litauischen Malers Mark Rothko, die Ausstellung "Japans Schönheit, Japans Seele" des Nationalmuseums Tokio in der Bundeskunsthalle Bonn und Gary Ross' Film "Seabiscuit" (hier zur Website des Films).

SZ, 25.09.2003

"Das eine ist, ob die von der Bundesregierung beabsichtigte drastische Absenkung der Kilometerpauschale für Pendler steuerpolitisch rational oder gar sozial gerecht ist - darüber lässt sich streiten", kommentiert Gerhard Mätzig den entsprechenden Regierungsbeschluss. "Das andere aber ist, und darüber lässt sich nicht mehr streiten, welche fatalen, im wahrsten Sinn flächendeckenden Konsequenzen die jahrzehntelange steuerliche Förderung des Pendelns zwischen Wohnort und Arbeitsplatz (vor allem im Verbund mit der Eigenheimförderung) für die Erosion der Städte und den Landschaftsverbrauch hatte... Die Kürzung der Pendlerpauschale, wie sie die Bundesregierung vorhat, geht darum unabhängig von deren Intentionen in die richtige Richtung. Irgendwann wird man vielleicht auch noch die Reste der Eigenheimförderung streichen und der Bodenversiegelung durch metastasenhaft wuchernde 'Möbel-Giganten' entgegentreten - dann können die Füchse endlich in die traurig verödeten Doppelhaushälften auf dem Lande einziehen."

"Es ist ein einmaliges religiöses Kopf-an-Kopf-Rennen, das sich da unter donnerndem Pferdegetrampel und Dolby-Streichorchestern im amerikanischen Kino ankündigt", freut sich Jörg Häntzschel. "Hier blutet Jesus Christus in Mel Gibsons verbitterter katholischer Breitwand-'Passion', die, obwohl sie kaum einer gesehen hat, seit Monaten diskutiert wird". In Eric Tills Film 'Luther', (der morgen in die amerikanischen Kinos kommt,) "wirft sich Joseph Fiennes als getriebener und sinnsuchender Martin Luther bei Blitz und Donner in den Schlamm."

Weitere Artikel: Reinhart Koselleck periodisiert die Weltgeschichte in ein Vorpferde-, ein Pferde-, und ein Nachpferdezeitalter und plädiert dafür, dass es auch in Zukunft dauerhafte Bedingungen gibt, unter denen es auch für ein Pferd menschenmöglich sein kann zu überleben. Andrian Kreye kolportiert amerikanische Klagen über das Fehlen ausländischer Literatur. Stefan Koldehoff erklärt, warum Lloyds für ein gestohlenes Leonardo-Gemälde eine Million Pfund zahlen will. Anke Sterneborg hat sich mit dem Hollywood-Regisseur und Drehbuchautor Gary Ross auch über seinen neuen Film "Seabiscuit" unterhalten. Wilhelm J. Jacobs gratuliert dem Philosophen Hermann Krings zum 90. Geburtstag. "G.K." schreibt zum hundertsten Geburtstag des amerikanischen Malers Mark Rothko. Dorothee Müller war in Ulm auf einem Kongress des Internationalen Forums für Gestaltung zur Design- und Architekturausbildung. Renate Klett hat das 23. Theaterfestival 'Orestiadi di Gibellina' besucht. Arnd Wesemann bewundert die Dressurkünste des Choreografen Arthur Kuggeleyn. Katrin Molnar berichtet über eine Tagung der Universität Zürich ("Allgemeinwissen und Gesellschaft"), die sich der Frage nach den tatsächlichen Leistungen von enzyklopädischen Wissensaufbereitungen gewidmet hat. Fritz Göttler erklärt, wieso Bryan de Palmas Film "Scarface" (mit Al Pacino) nach zwanzig Jahren jetzt ein Hip-Hop-Highlight ist. Und hier erzählt Lothar Müller eine hübsche kleine New-York-Geschichte.

Besprochen werden die Ausstellung "Traumfabrik Kommunismus" in der Frankfurter Schirn, Robert Rodriguez' Film "Irgendwann in Mexiko" mit Antonio Banderas, Ridley Scotts neuer Film "Matchstick Men", Michael McCarthys Straßburger Inszenierung der Param-Vir-Oper "Ion" nach Euripides und Midas Dekkers' Versuch über Raupen, Kinder und andere Plagen (mehr ab 14 Uhr in der Bücherschau des Tages).

TAZ, 25.09.2003

"Obwohl wir den Kopf drehen können, ist die Stirn immer vorn", stellt Burkhard Brunn im zweiten Teil der taz-Reihe "Der Körper ist ein Phänomen" fest. Und: "Die Stirn ist wesentlich ein durch Kampf und Widerstand definierter Teil unseres Körpers, dem die Hörner fehlen. Das belegen gewisse Schlägermethoden".

Weitere Artikel: Knuth Hornbogen hat im Ulmer Stadthaus die Ausstellung "ulmer modelle - modelle nach ulm" über die kurze, aber glorreiche Geschichte der Ulmer Hochschule für Gestaltung gesehen.

Ansonsten ist Donnerstag Kinotag, besprochen werden Christian Petzolds neuer Film "Wolfsburg", Robert Rodriguez letzter Teil seiner Mariachi-Trilogie "Irgendwann in Mexiko" und Steven Shainbergs Film "Secretary".

Und schließlich TOM.

NZZ, 25.09.2003

Maria Becker erinnert an den Maler Mark Rothko. Besprochen werden die ersten Inszenierungen Hans Gratzers, neuer Direktors des Wiener Theaters in der Josefstadt und Bücher, darunter Chris Wares bisher nur auf Englisch erschienener Comicband "Quimby the Mouse" und politisch-philosphische Abhandlungen über die Frage der sozialen Gerechtigkeit von Nancy Fraser und Axel Honneth (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 25.09.2003

Dirk Schümer ist über die Käsemesse im piemontesischen Städtchen Bra geschlendert, hat hier einen von Almhirten gerührten cremigen Morlacco probiert oder dort einen nach transsylvanischem Rezept hergestellten Oscypek. Doch wie lange wird es diese Käsesorten noch geben? Abgestumpfte Konsumenten und europäische Hygieneverordnungen drohen die Käsevielfalt auszurotten."...nur noch Fassungslosigkeit macht sich breit, als ein geplagter Ire von einem neuen Gesetz erzählt, nach dem alle Käsereien regelmäßig mit Chlorlauge gereinigt werden müssen - der Tod für alle Bakterien und Schimmelpilze." Das wäre das Ende des "krümelig-säuerlichen Rohmilch-Pecorino aus den Marken, der mit einer aussterbenden weil schwarzfleckigen Birnensorte aus Pesaro serviert wird".

"Karlsruhe hat gesprochen, und man weiß kaum mehr als vorher", kommentiert Patrick Bahners das Kopftuch-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und bemerkt weiter: "In der Debatte fällt auf, dass einige Beteiligte nicht einmal wissen, was sie wollen. So ließ die in Fulda tagende katholische Bischofskonferenz am Vorabend der Urteilsverkündung verlauten, sie wolle sich nicht festlegen, sitze man doch, wie Kardinal Lehmann mit der ihm eigenen Prägnanz formulierte, 'selbst im Glashaus'."

Weitere Artikel: J.A. meldet die Veröffentlichung einiger Lieder von Jacques Brel gegen des letzten Willen (mehr dazu hier). Gina Thomas schreibt zum Tod des britischen Journalisten Hugo Young. Niklas Maak gratuliert dem Kunsthistoriker Christoph Luitpold Frommel zum Siebzigsten. Werner Spies erinnert an den Maler Mark Rothko, der vor 100 Jahren geboren wurde, Norbert Oellers an den ebenfalls 100 Jahre alten Germanisten Benno von Wiese.

Auf der Filmseite berichtet Paul Ingendaay über das Filmfestival von San Sebastian, und Michael Althen stellt Blake Edwards gerade auf DVD erschienene Kinoserie um den "Rosaroten Panther" vor. Auf der letzten Seite porträtiert Kerstin Holm die Tänzerin Anastasia Wolotschkowa, die gerade vom Bolschoi-Ballett wegen Übergewichts gefeuert wurde. Und Felicitas von Lovenberg versucht, die gestern von Jens Bisky in der SZ geäußerten Zweifel am Tagebuch der Anonyma auszuräumen.

Besprochen werden die Ausstellung "Robert Filliou - Genie ohne Talent" im Düsseldorfer Museum Kunstpalast, Gary Ross' Film "Seabiscuit", eine "Salome" an der Opera Bastille mit Karita Mattila in der Titelpartie und Bücher, darunter zwei Gedichtbände von Giuseppe Ungaretti und Juan Gelman, Sachbücher und Reisebücher (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).