Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.01.2004. Die taz freut sich, dass die Puffgänger in der Musikindustrie abgesägt werden. Die FR freut sich über britische Teenager, die eine Doppelkinnträgerin zum Superstar gewählt haben. In der NZZ fürchtet Felix Philipp Ingold ein Um-sich-Greifen antidemokratischer Kulturologie in Russland. In der SZ bangt der Produzent Günter Rohrbach mal wieder um den deutschen Film. Die FAZ bringt die Gehirndebatte zu einem glücklichen Ende und freut sich über einen freitragenden Schreibtisch namens Kant.

TAZ, 23.01.2004

Ralf Niemczyk beobachtet einen Strukturwandel in der Musikindustrie, dem er nur gutes abgewinnen kann: "Nach einer jüngst veröffentlichten Studie des US-Bankhauses Morgan Stanley über den amerikanischen Tonträgermarkt ist die Plattenindustrie für den Kapitalmarkt schlicht nicht mehr interessant. Die Banker weisen nach, dass der Produktlebenszyklus von physischen Tonträgern unweigerlich zu Ende ist. Und genau darauf sind die Strukturen der größeren Labels mit ihren Verwaltungs- und Marketing-Wasserköpfen ausgerichtet. Und darum müssen diese jetzt leider alle sterben. Sorry, aber is so! Andererseits - und jetzt soll der Friedhofsgesang verstummen - ist dieses Fazit des Morgan-Stanley-Reports eine der besten Nachrichten seit Jahren. Endlich verschwinden diese ganzen Rendite-Typen aus dem Rock & Roll und halten sich wieder an Containerschiffe oder Junk Bonds von den Caymaninseln. Die Herstellung von Popmusik wird im kommenden goldenen Zeitalter wieder von Spinnern übernommen. Mit dem derzeitigen Personalexodus verschwindet - rein strukturell betrachtet - auch die Generation der Puffgänger und Föhnfrisuren im Popgeschäft."

Weitere Artikel: Kathrin Kruse berichtet von den Haute Couture Schauen in Paris (Bilder hier). Diesmal war sie bei Hanae Mori. Auf der zweiten Meinungsseite meldet Niklaus Hablützel Schwierigkeiten bei ebay: laut sächsischem Landeskriminalamt hätten "die Betrugsfälle bei der Online-Auktionsplattform enorm zugenommen, von 28 Fällen im Jahr 2000 auf 2.300 Fälle im letzten Jahr."

Besprochen werden die Ausstellung "Podai - Malerei aus Westafrika" im Düsseldorfer museum kunst palast und neue Alben der Wu-Tang-Clan-Rapper RZA und Raekwon.

Schließlich Tom.

FR, 23.01.2004

Kerstin Grether freut sich, dass die Sieger in den zweiten Staffeln der Superstar-Schauen mehr Bodenhaftung haben als ihre Vorgänger. Das liegt wohl daran, dass jetzt dem Volk die Wahl überlassen ist: "Die 19-jährige Doppelkinnträgerin Michelle, die gerade die zweite Staffel der englischen Pop Idols gewonnen hat, sieht aus, als ob sie Kate Moss, Kylie Minogue und den ganzen süßlich-anbiedernden Wettbewerb zum Frühstück verspeist hätte. Wenn junge Mädchen vorsichtshalber die dicksten Mädchen wählen, zeigt das, dass sie ernsthaft verstanden haben, dass Leistung sich nicht mehr auf Hunger abstimmen lässt, wenn man eine Stimme haben will, die was taugt in der neoliberalen Welt."

Weitere Artikel: Thomas Medicus berichtet über das neue Trendquartier in Berlin, den Boxhagener Platz in Berlin-Friedrichshain. Soll die Ursprungsbezeichnung "Made in Germany" ersetzt werden durch "Made in the European Union"? Burkhard Müller Ullrich ist dagegen. Sehr zufrieden ist dagegen Oliver Herwig mit dem neuen Servicezentrum der Münchner Finanzämter, das die Architekten Peck + Daam als gläsernen Pavillon und "kitschfreie Zone" gebaut haben. Michael Rudolf hat für Times Mager ein EEG machen lassen.

Besprochen wird die Ausstellung der drei bedeutendsten Original-Handschriften des Nibelungenliedes im Karlsruher Schloss.

NZZ, 23.01.2004

Felix Philipp Ingold führt uns in die Kulturologie ein, die in Russland immer stärker um sich greift, um eine angebliche Andersartigkeit des Landes zu untermauern: "Statt mit Begriffen und Argumenten operiert es gern mit Assoziationen oder Metaphern, und mit vagen Konzepten wie der 'russischen Idee', der 'russischen Seele', der 'russischen Mentalität' verbindet es sich vorzugsweise zu einer ebenso vagen 'russischen Weltanschauung'." Doch im Grunde ist es für Ingold nur eine "wissenschaftlich bemäntelte Schützenhilfe" für autoritäre und antidemokratische Kräfte: "Heute dient der 'kulturologisch' beglaubigte Rückgriff auf das Klischee der 'russischen Seele' vorab der Erklärung all der gravierenden Fehlleistungen und Missstände, welche den 'Umbau' der ehemaligen Sowjetunion in ein funktionstüchtiges demokratisches Staatswesen bisher verhindert haben."

Weitere Artikel: Marc-Christoph Wagner besucht den dänischen Autor Jens Christoph Grondahl (mehr) in Kopenhagen, der ihm folgendermaßen erklärt, wie und warum man Schriftsteller wird: "Der Schäfer aus Sizilien wurde nicht zum Schriftsteller, weil er jeden Tag von einer wunderschönen Natur umgeben, sondern weil sein Mittagessen stets in Zeitungspapier eingewickelt war. Mit anderen Worten: Autoren sind immer auch Leser. Haben Sie eine Vorstellung davon, wie viele Schriftsteller in jungen Jahren krank und an das Bett gefesselt waren?" Jörg Restorff bespricht eine Ausstellung im Zeppelin-Museum Friedrichshafen: Der zweifache Documenta-Teilnehmer Hermann Pitz hat sein Atelierinventar mit fast 800 Werken ausgestellt. Jeroen van Rooijen wirft einen Blick auf die Modebranche und stellt fest, dass die Kreativität durch den steigenden wirtschaftlichen Druck ins Hintertreffen geraten ist.

Auf der Filmseite berichtet Dirk Naguschewski von dem Niedergang der Kinokultur im Senegal und kündigt die 9. Afrika-Filmtage (Cinemafrica-Festival) in Zürich an. Besprochen werden die Filme "Mona Lisa Smile" (mehr) von Mike Newell und "Secretary" (mehr) von Steven Shainberg.

SZ, 23.01.2004

Für Günter Rohrbach, Produzent und Präsident der Filmakademie, droht wieder einmal das Ende des deutschen Films: "Nicht ausgeschlossen, dass es ihn demnächst nicht mehr gibt". Grund ist die Ankündigung der Kinobetreiber, gegen das neue Filmförderungsgesetz zu klagen. Thomas Steinfeld fragt in Bezug auf Florian Gerster - und Marcio Amoroso -, wieso Berater eigentlich ihre Kunden immer als "besonders zickige Menschen" erscheinen lassen. Detlef Esslinger berichtet von einer Pressekonferenz, auf der Gunther von Hagens gegen Vorwürfe anstammelte, die Leichen hingerichteter Chinesen zu fleddern.

Salomon Korn erklärt im Interview mit Sonja Zekri, warum der Zentralrat der Juden die Zusammenarbeit mit der Stiftung Sächsischer Gedenkstätten aufgekündigt hat. Sebastian Handke beklagt, dass die Bundesregierung die Förderung des Collegium Budapest einstellt, nun begibt sich die ureuropäische Institution auf Sponsorensuche in den USA. Zu lesen ist Elisabeth Schweegers Laudatio auf den bayerischen Staatsoperintendanten Peter Jonas, der gestern den Kulturellen Ehrenpreis der Stadt München erhalten hat. Ijoma Mangold meldet, dass Verlagsleiter Lothar Menne den Ullstein Verlag verlässt.

Besprochen werden das "bonbonbunte, wahnwitzige, psychedelische" Album "Talkie Walkie" des französischen Pop-Duos Air, Mike Newells neuer Julia-Roberts-Film "Mona Lisas Lächeln", die Ausstellung "Videos - 25 Jahre Videoästhetik" im Düsseldorfer NRW-Forum, "Das Mädchen Rosemarie" als Musical in Düsseldorf, Simon Stephens Stück "Port" im Theater Graz sowie ein Konzert des russischen Pianisten Boris Berezowsky, den Wolfgang Schreiber für heillos unterschätzt hält (Der Saal war nicht einmal voll!).

Und Bücher, darunter eine Biografie Theoderichs des Großen, Marco Carinis Fritz-Teufel-Biografie und Robert Stinnetts Geschichte des Angriffs auf Pearl Harbour (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 23.01.2004

Christian Schwägerl bringt in einem langen Aufmacher die FAZ-Gehirndebatte zu einem glücklichen Abschluss. "Konflikte kündigen sich an um menschliche Identität und Autonomie", schreibt er. Aber: "Der Gegensatz von biologischem Prozess und freiem Willen, von unbewussten chemischen Reaktionen und Selbstbewusstsein, ist .. konstruiert. Je schärfer die Biologie die neuronalen Prozesse beschreibt, desto stärker werden diese als ermöglichende Kräfte von Lernen, Abwägen und freiem Willen hervortreten anstatt als einschränkende Determinanten..."

Weitere Artikel: Ilona Lehnart freut sich auf das Wiederaufblühen der deutsch-amerikanischen Freundschaft, der nach dem deutsch-russischen Kulturjahr nun das Jahr 2004 gewidmet ist. Jürg Altwegg meldet, dass Zürcher Archiv-Funde aus dem Brecht-Nachlass nun nach Berlin gehen. Frank Pergande deutet das Projekt des Wiederaufbaus der Potsdamer Garnisonkirche als Symptom des Brandenburger Größenwahns, der sich zuletzt in Chip- und Zeppelinfabrikprojekten manifestierte. Rainer Burger berichtet, dass der Zentralrat der Juden die "Stiftung Sächsische Gedenkstätten" verlässt, weil er eine Relativierung der Naziverbrechen durch die Erinnerung an kommunistische Verbrechen und eine "Re-Nationalisierung des Gedenkens" (so Salomon Korn) fürchtet (mehr hier und hier). Lorenz Jäger besuchte eine Pressekonferenz des Plastifikators Gunther von Hagens, der beteuerte, mit seinem Leichenhandel nur das beste für China im Sinn zu haben. Stefanie Peter schreibt zum Tod Czeslaw Niemens, des populärsten polnischen Rocksängers. Aleksandr Lavrov berichtet, dass das Historische Archiv in Petersburg, das zentrale Akten zur Geschichte Russlands im 19. Jahrhundert beherbergt, geschlossen wird, weil die Russische Föderation scharf ist auf seine Gebäude.

Die Medienseite bringt den Vorabdruck eines Essays von Norbert Schneider, Chef der Landesmedienanstalt NRW, der hier über den Tod in der Fernsehunterhaltung nachdenkt. Marcus Theurer berichtet von Kompromisssignalen der öffentlich-rechtlichen Sender in der Frage der Gebührenerhöhung. Gina Thomas hat eine BBC-Dokumentation über die Kelly-Affäre gesehen, die die Rolle der BBC in der besagten Affäre journalistisch fast, aber nicht ganz makellos ausleuchtet (hier eine ausführliche Seite der BBC zur Affäre). Jürg Alwegg meldet, dass sich französische Intellektuelle für den Sender Histoire einsetzen, einen Privatsender, der mangels Publikumsinteresse eingestellt werden soll.

Für die letzte Seite schlendert Andreas Rossmann über die Kölner Möbelmesse und empfiehlt unter anderem die einbeinigen, und tatsächlich sehr hübschen Wand-Anlehnungstische von Jonas & Jonas - diese Firma hat sogar einen "gewitzten Schreibtisch" namens "Kant" im Programm. Alexandra Kemmerer berichtet von einer New Yorker Klage namibischer Herero-Verbände gegen die Bundesrepublik und (mal wieder) die Deutsche Bank - es geht um Entschädigung für die Menschenrechtsverletzungen bei den Herero-Aufständen am Anfang des letzten Jahrhunderts. Und Jürgen Kaube stellt uns den Philosophieprofessor Volker Gerhardt vor, der einer rekordverdächtigen Anzahl von akademischen Gesellschaften vorsteht und dabei zahllose Publikationen verfasst (im Perlentaucher wird er nur von Herfried Münkler übertroffen).

Besprochen werden der Film "Ararat" (in dem Atom Egoyan der armenischen Leidensgeschichte nachgeht), das Leben und Sterben der Nitribitt als Musical in Düsseldorf, und die Oper "I Was Looking at the Ceiling and Then I Saw the Sky" von John Adams, aufgeführt von der Young Opera Company in Freiburg.