Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.02.2004. In der NZZ kritisiert Adam Michnik die "gefährliche Rhetorik" der Deutschen. Die FAZ möchte den Europäern wieder Latein beibringen, ohne Ansehen der Konfession. In der taz erklärt Dieter Kosslick, warum es wunderbar ist, wenn George Clooney mit einem Jungfilmer aus Bangladesch diskutiert. Die FR erklärt, wie man einen Anteil an den Einstürzenden Neubauten erwirbt. In der SZ meint Daniela Dahn, dass wir kein Zentrum gegen Vertreibungen brauchen.

NZZ, 06.02.2004

Adam Michnik, einstiger Dissident und heute Herausgeber der größten polnischen Tageszeitung "Gazeta Wyborcza", blickt im Gespräch mit Gerhard Gnauck auf das neue Deutschland. Was Michnik da sieht, ist zum Heulen: "In Deutschland hat sich das Klima in jüngster Zeit verändert. Adenauer sagte, man sei fünfzig Jahre lang Hochstapler gewesen, jetzt müsse man vorsichtig sein. Ich habe manchmal den Eindruck, die neue Generation habe dieses Gebot vergessen. Sie verhält sich so, als habe es den Zweiten Weltkrieg nicht gegeben... Zweiter Punkt: Die Deutschen, das größte Volk in Europa, suchen nach einer neuen Identität. Die 68er Generation will sich abreagieren, weil sie zu den Verbrechen des Kommunismus und zur DDR früher geschwiegen hat. Und drittens: Welches Europa wollen wir? In Deutschland gibt es einen ziemlich starken Antiamerikanismus, nicht nur Anti-Bushismus. Eine gefährliche Rhetorik. Viel Kritik an Bush und viel Verständnis für Putin, für das, was er in Tschetschenien treibt. Dabei muss man doch Unruhe empfinden, wenn sich Russland in Richtung autoritärer Lösungen bewegt."

Weiteres: Hans-Theodor Wohlfahrt erwartet freudig die anstehende Wiedereröffnung des Londoner Coliseum, des opulentesten und größten Varietetheater des Edwardian Age. Hanno Helbling stöhnt entnervt über die Renitenz der Cadolzburger, die sich dagegen wehren, an ihrer so genannten "Judensau"-Skulptur eine distanzierende Tafel anzubringen. Beatrice Eichmann-Leutenegger blickt in die Losen Blätter, deren neue Ausgabe dem Luftkrieg in der Literatur gewidmet ist. Gemeldet wird, dass der Philosoph Dieter Henrich den (mit 20.000 Euro dotierten) Internationalen Kant-Preis der Zeit- Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius erhält.

Besprochen werden die Julian-Schnabel-Schau in der Frankfurter Kunsthalle Schirn und eine Ausstellung zu Alison und Peter Smithson im Londoner Design Museum.

Auf der Filmseite berichtet Heinz Kersten vom Max-Ophüls-Festival in Saarbrücken und besprochen werden Jane Campions erotischer Thriller "In the Cut" und Catherine Hardwickes Regiedebüt "Thirteen".

Auf der Medienseite gibt Martin Hitz einen betrüblichen Ausblick auf die Zukunft der Zeitungsbranche: "Gemäß einer kürzlich unter dem Titel "Zeitungsverlage im Umbruch" publizierten Studie des Beratungsunternehmens Ernst & Young ist das Volumen der Stellenanzeigen in Deutschland in den letzten drei Jahren um fast 70 Prozent eingebrochen. Zwar seien die Stellenmärkte stark konjunkturabhängig und deshalb äußerst volatil, ein Einbruch in dieser Größenordnung müsse aber als bisher einmalig bezeichnet werden. Die Berater sagen der Branche denn auch eine düstere Zukunft voraus. Die Zeiten hoher Gewinnmargen seien für die meisten Zeitungsverlage vorbei, und auch das 'duale Finanzierungskonzept' - zwei Drittel des Erlöses aus Anzeigen, ein Drittel aus dem Vertrieb - dürfte der Vergangenheit angehören. Ernst & Young geht davon aus, dass das Rubrikengeschäft, das den Löwenanteil der Anzeigenerlöse von Tageszeitungen ausmacht, dauerhaft an die Internet-Konkurrenz verloren gehen wird."

"Ras" fragt außerdem, wie angeschlagen die BBC wirklich ist.

FAZ, 06.02.2004

Mit Sympathie berichtet Hannes Hintermeier von der "Ad Fontes"-Initiative des Pfarrers Walter Brandmüller, der den Europäern wieder Latein beibringen will und dies "ohne Ansehen der Konfession". Und um Brandmüller in seinem Kampf um Medienaufmerksamkeit zu unterstützen, macht Hintermeier gleich einen Vorschlag: "Vielleicht müsste die katholische Kirche in Deutschland ... auch mal vor der eigenen Türe kehren und sich auf einen Medienpartner besinnen, der zu den größten Buchhändlern und Medienversendern gehört: Der Augsburger Weltbild Verlag hat unlängst die Umsatzmilliarde überschritten; gehören tut der stetig wachsende Medienriese zu fünfundneunzig Prozent den vierzehn deutschen Diözesen, der Rest der Bonner Soldatenseelsorge. Wäre es nicht denkbar, als Eigentümer den Wunsch zu äußern, nicht nur immer billigere Bücher zu fordern, sondern auch einmal wieder Inhalte zu befördern?" (Was der Initiative übrigens an erster Stelle zu fehlen scheint, ist eine Internetadresse.)

Jürgen Kaube kommentiert in der Leitglosse die politisch korrekte Abschaffung des Sarotti-Mohrs als Markenzeichen bei der Stollwerck-Schokoladenfabrik. Joseph Hanimann bespricht neue Pariser Theateraufführungen, darunter Bob Wilsons Spektakel nach La Fontaine in der Comedie Francaise. Andreas Rossmann war dabei als der Berliner Volksbühnen-Intendant Frank Castorf recht weitschweifig sein erstes Programm als Leiter der Ruhrfestspiele in Recklinghausen erläuterte. Hans-Peter Riese schildert den Kampf der Barnes-Foundation in Philadelphia mit ihrer kostbaren Impressionisten-Sammlung gegen die engen Grenzziehungen des Stiftungsgründers, die sein Werk in den Ruin zu treiben drohen. Mark Siemons hat Berliner Intendanten zugehört, als sie sich bei einer Exklusivanhörung für die grüne Kulturpolitikerin Antje Vollmer stritten, wer in Berlin das beste Theater macht und darum die besten Subventionen verdient. Der FAZ-Wirtschaftsemeritus Hans D. Barbier hat ein weiteres seiner epischen, von Frank Schirrmacher moderierten Gespräche mit bedeutenden Zeitgenossen abschreiben lassen - diesmal traf er den bedeutenden Hessen Roland Koch, um mit ihm die "Zumutungen der Sozialreformen" zu erörtern.

Auf einer ganzen Kinoseite wird über die Berlinale berichtet. Michael Althen schreibt über "Something's Gotta Give" mit Jack Nicholson und Diane Keaton: "Der Film ist wahnsinnig lustig, überraschend traurig und hoffnungslos romantisch; das Buch ist so pfiffig geschrieben, dass man sich fragt, warum das eigentlich nur die Amerikaner so hinkriegen." Andreas Kilb sieht sich Andres Veiels Langzeitdokumentation "Die Spielwütigen" im Panorama an. Bert Rebhandl stellt südkoreanische Filme aus dem Forum vor. Auf dieser Seite dürfen sogar Internetsurfer die FAZ-Berichterstattung verfolgen.

Auf der Medienseite meditiert Michael Allmaier in der Serie "Stimmen" über die Stimme Egon Hoegens, der einer der Pioniere unter den deutschen Rundfunksprechern war.

Auf der letzten Seite schildert Eleonore Büning atemlos und begeistert fünf "folles journees" in Nantes, ein Festival klassischer Musik, das es schafft mit erstklassigen Aufführungen ein ganz neues, auch junges Publikum anzuziehen - und dies ohne Anbiederung an den Jugendjargon. Jordan Mejias meldet, dass das höchste Gericht von Massachusetts sein die Homosexuellen-Ehe einforderndes Urteil, das den Präsidenten Bush so provozierte, nun noch einmal bestätigt und zugespitzt hat: " Was nun? Massachusetts wird Mitte Mai als erster amerikanischer Bundesstaat die Schwulenehe ohne Wenn und Aber einführen. Das können auch die Parlamentarier nicht mehr verhindern.". Und Lorenz Jäger freut sich, dass ein jüngst entdeckter Planet eines fernen Sonnensystems, auf dem man eine Atmosphäre aus Luft feststellt, nach dem Gott Osiris benannt wurde.

Besprochen wird eine Ausstellung der Hamburger Sammlung Falckenberg im Kopenhagener Louisiana-Museum.

TAZ, 06.02.2004

Zur Zeit wird man überall in Berlin mit "Hi, I'm a talent" begrüßt. Fünfhundert unbekannte Film-Nachwuchsleute aus aller Welt diskutieren hier eine Woche lang übers Filmemachen. Berlinale-Leiter Dieter Kosslick erklärt im Interview Sinn und Zweck seines Talent-Campus: "... das Besondere sind doch die Stars und Regisseure, die zur Berlinale kommen und den Talenten erzählen können, wie und warum sie Filme machen. Wenn George Clooney mit einem jungen Filmemacher aus Bangladesch redet, dann ist das doch wunderbar".

Weitere Artikel: Katrin Bettina Müller berichtet von einer Anhörung über "Die Zukunft der Berliner Theater" im Bundestag, zu den Antje Vollmer eingeladen hatte. Neue Vorschläge gab es dabei offenbar nicht. Besprochen wird das neue Album von Air "Talkie Walkie",

Auf den Berlinale-Seiten werden zwei Schwerpunkte vorgestellt: die Reihe "Perspektive Deutsches Kino" und der Südafrika-Schwerpunkt im Forum. Andreas Veiel spricht im Interview über seinen Film "Die Spielwütigen", der vier Schauspielschüler vom Anfang bis zum Ende ihrer Ausbildung begleitet. Besprochen werden der niederländische Dokumentarfilm "De Prijs van de Overleven" über Holocaust-Überlebende, ein Film über Klaus Nomi, der thailändische Film "Baytong", der Wettbewerbsfilm "Something's Gotta Give" mit Jack Nicholson.

Auf der Meinungsseite geißelt der Publizist Warnfried Dettling das Versagen unserer politischen Elite. Und der Soziologe Norman Birnbaum erklärt, was die jetzigen Demokraten von Bill Clinton unterscheidet: "Die so genannten neuen Demokraten unter Clinton verlieren an Einfluss. Sie wollten das Wirtschaftswachstum stimulieren, um mehr Arbeitsplätze und Wohlstand zu schaffen, sowie die direkte gesellschaftliche Umverteilung reduzieren. Die Demokraten von heute setzen wieder auf mehr Umverteilung, Re-Regulierung und kehren damit zur ihren Werten von Anfang und Mitte des 20. Jahrhunderts zurück."

Schließlich Tom.

FR, 06.02.2004

"Was für ein Festivalauftakt", jubelt Daniel Kothenschulte über den "Cold Mountain", den Berlinale-Eröffnungsfilm von Anthony Minghella. "Es ist ein Film von finsterster Schönheit und einer anrührenden Emotionalität, die manchmal so einfach vorgebracht wird wie beim frühen Griffith... Wer in Europa das amerikanische Kino liebt, wird dafür vielleicht offener sein als unentschlossene Oscarjuroren."

Thomas Winkler unterhält sich mit Blixa Bargeld über die neue Produktionsmethode der Einstürzenden Neubauten. Dabei zeichnen Fans Anteile und dürfen der Band live per Internet bei den Aufnahmen über die Schulter sehen: "Es gab ja auch einige Unterstützer, die gar nicht glücklich damit waren, dass der kreative Prozess zu offensichtlich geriet, weil er dadurch natürlich auch entzaubert wurde. Aber dass ein Kunstprodukt das Ergebnis einer Kommunikation ist, das ist nun mal eine Tatsache. Der Versuch, gerade in der Unterhaltungskultur, den Künstler als einen Idioten darzustellen, der die Kunst aus sich selber heraus, sozusagen autonom schöpft, der ist nur notwendig für Bands, die auf Sand gebaut sind."

Weitere Artikel: Peter Michalzik warnt die Stadt Frankfurt vor einer "hoffnungslosen Torheit", nämlich den amtierenden Kulturdezernenten Hans-Bernhard Nordhoff von der SPD im Amt zu bestätigen: "Nie macht er sich die Sache der Kunst zu eigen, nie kämpft er für sie, seine Prioritäten sind politisch motiviert. Deshalb verbreitet er so viel Aufbruchsstimmung wie ein Rentner bei der Gartenarbeit." Christian Thomas beschäftigt sich mit den neuesten Gerüchten aus Frankfurt, nach denen die Direktorin des Deutschen Architekturmuseums, Ingeborg Flagge, ihren Vertrag nicht über 2005 verlängern will. In Times mager bedauert Thomas Medicus, dass sich der Kriegsfotograf James Nachtwey offenbar immer noch nicht von seinen schweren Verletzungen erholt hat. Michael Rüsenberg berichtet vom rheinländischen Drei-Städte-Jazzart-Festival. Besprochen wird Robert Carsens Inszenierung von Janaceks "Katja Kabanova" für die Vlaamse Opera in Antwerpen und Gent.

SZ, 06.02.2004

Deutschland braucht kein Zentrum gegen Vertreibung, meint die Schriftstellerin Daniela Dahn: "Obwohl es heftig bestritten wird, kritisiert man mit dem Slogan 'gegen Vertreibung' rückwirkend eben doch, was die Alliierten und mit ihnen andere Staaten für richtig hielten. Wer bedingungslos kapituliert, sollte nach einem halben Jahrhundert nicht anfangen, Bedingungen zu stellen."

Weitere Artikel: Victor F. Vekselberg, mit geschätzten 2,5 Milliarden Dollar Vermögen der "viertreichste Steuerzahler" Russlands, hat für sein Land bei Sotheby's die Faberge-Sammlung ersteigert, berichtet Stefan Koldehoff. "Der assistierte Suizid zählt nun endgültig zum Standardrepertoire helvetischer Heilkunst", behauptet akis., nachdem er sich durch die neue Richtlinie der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) geackert hat. Ganztagsschulen, Eliteuniversitäten oder lieber Frühförderung? Der Pädagoge Jürgen Oelkers glaubt nicht, dass die deutschen Kulturminister fähig sind, die Bildungskrise zu meistern: "Diese Einschätzung hat zu tun mit der Strategie der Bildungspolitik, ständig Patentrezepte zu präsentieren, die gut klingen, aber nicht erprobt sind. Die Rezeptpolitik korreliert auf paradoxe Weise mit der fatalen Neigung der Bildungsverwaltung, verordnen zu wollen, was sich entwickeln muss." Angekündigt wird das Konzert, mit dem Christian Thielemann seinen Einstand als neuer Generalmusikdirektor der Müchner Philharmoniker gibt: Bruckners Fünfte. Aus Gründen, die sich im Netz nicht recht erschließen, werden eine Reihe von Internetadressen bekannter Persönlichkeiten vorgestellt: Walter Kempowski, Elfriede Jelinek, Benjamin von Stuckrad-Barre, Anna Roth, Christian Kracht, Freunde von Houellebecq, Else Buschheuer, Sibylle Berg und ein Fan von Javier Marias.

Besprochen werden die Donald Judd-Retrospektive in der Tate Modern, ein Konzert der Hamburger Philharmoniker mit ihrer künftigen Chefin Simone Young am Pult ("Ein großes Aufatmen ging durch den Saal. Hamburgs Musikfreunde müssen nicht mehr befürchten, dass die Zukunft in den Abgrund sinkt, wenn Ingo Metzmacher am Ende der nächsten Spielzeit geht", schreibt Werner Burkhardt) und Richard Strauss' "Salome" am Essener Aalto-Theater.

Berlinale: In Kurzkritiken werden "sechs unbekannte Renner des New Hollywood der sechziger Jahre" vorgestellt, die in der Retrospektive der Berlinale gezeigt werden. Tobias Kniebe hat sich durch den Katalog zur Retrospektive geblättert. Und Anke Sterneborg sieht lauter traurige Jungs in der Reihe "Perspektive Deutsches Kino".