Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.05.2004. Die FAZ schildert die Lage in Tschetschenien. Die NZZ macht eine literarische Entdeckung erster Güte in Slowenien. SZ und taz streiten weiter um die Flick-Collection.

FAZ, 25.05.2004

Mainat Abdullajewa, Korrespondent für die Nowaja gaseta und für Radio Liberty, schildert die grausigen Zustände in Tschetschenien - Entführungen und Folterungen von Zivilisten - und beschreibt die Reaktionen auf die Ermordung des von Moskau eingesetzten tschetschenischen Präsidenten Achmad Kadyrow. Die meisten Tschetschenen glauben, dass die Russen dafür verantwortlich waren: "Die zweiundvierzig Jahre alte Sura, eine Mitarbeiterin in der Stadtverwaltung von Grosnyj, ist sicher, dass Kadyrow von seinen Waffenbrüdern ermordet wurde. 'Das haben die Russen getan', sagt sie. Kadyrow sei in letzter Zeit unkontrollierbar geworden, er verlangte den Erlös tschetschenischen Öls für seine Republik - dabei sind all die Kriegsjahre die Ölgelder in den russischen Staatshaushalt geflossen. Darüber hinaus besaß Kadyrow bereits seine eigene Armee. Bei Meinungsverschiedenheiten mit dem Kreml hätte er sich leicht gegen die Russen erheben können, und Putin hätte eine 'Antiterroroperation' gegen den eigenen Protege führen müssen."

"Ein globaler Wettbewerb um die knappste Ressource, den Hochqualifizierten, ist entstanden und nimmt, befeuert vom demographischen Kindermangel in vielen Ländern, stetig an Schärfe zu." Doch Deutschland ist darauf schlecht vorbereitet, meint Christian Schwägerl mit Blick auf das Zuwanderungsgesetz, über das heute in Berlin "auf höchster politischer Ebene" beraten wird. Schwägerl beschreibt die Lage am Beispiel von Angelos Chaniotis, gebürtiger Grieche und griechischer Staatsbürger, der 1998 zum ordentlichen Professor an der Universität Heidelberg ernannt und damit zum Beamten auf Lebenszeit wurde. "Obwohl EU-Bürger und Beamter auf Lebenszeit, bekam er in Deutschland keine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung, sondern musste in regelmäßigen Abständen zur Ausländerbehörde, um interessante Nachweise einzureichen: über Wohnung, Einkommen, Versicherungen. Nur so wurde seine Aufenthaltsgenehmigung verlängert, um jeweils ein oder zwei Jahre. 'Die Leute auf dem Ausländeramt waren sehr freundlich, aber die ganze Prozedur vermittelte das Gefühl: Du gehörst hier nicht dazu, du bist ein Fremder', sagt Chaniotis."

Weitere Artikel: Wiebke Hüster schreibt zum fünfzigjährigen Bestehen der Compagnie von Maurice Bejart. Andreas Rosenfelder berichtet von einem Seminar der Evangelischen Akademie Tutzing über "Minarette in Deutschland". Felicitas von Lovenberg durfte nach St. Petersburg zur Frühjahrstagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Rüdiger Klein stellt das neue, von den Architekten Diezinger und Kramer gebaute Ausbildungszentrum in Ingolstadt vor. Gina Thomas schreibt zum Tod des schottischen Dramatikers Robert MacDonald.

Auf der Medienseite erinnert Marcel Beyer in der Reihe "Stimmen" an das Furby, "jener in Plüsch verkleidete Apparat mit Mikrochip und Infrarotsensoren, der vor ein paar Jahren den Spielzeugmarkt beherrschte, inzwischen aber längst vergessen ist". Und Souad Mekhennet beschreibt die Reaktionen der arabischen Welt auf die Bilder von Abu Ghraib.

Auf der letzten Seite porträtiert Paul Ingendaay den Schriftsteller Francisco Ayala, der 2006 hundert Jahre alt wird. Dirk Schümer schildert einen Streit um die vierte Brücke über Venedigs Canal Grande, die der "Architektenstar" Santiago Calatrava gebaut hat: Sie ist nicht rollstuhlgerecht.

Besprochen werden eine Ausstellung Teresa Margolles' im Frankfurter Museum für Moderne Kunst, Tobi Baumanns Film "Wixxer", Juri Ljubimows Inszenierung von Wwedenski und Charms am Moskauer Taganka-Theater, die Uraufführung von Vykintas Baltakas "Cantio" bei der Münchener Biennale und eine Ausstellung von Roman Ondak im Kölnischen Kunstverein.

NZZ, 25.05.2004

Andreas Breitenstein macht eine Entdeckung erster Güte: den slowenischen Schriftsteller Lojze Kovacic. "An Tragik und Tiefe, an erzählerischer Dichte und sprachlicher Kraft können es 'Die Zugereisten' mit den großen Erinnerungsbüchern des europäischen Ostens von Peter Nadas über Danilo Kis und Ismail Kadare bis Czeslaw Milosz aufnehmen." Hubertus Adam berichtet, dass um den Wiederaufbau von Walter Gropius' Meisterhaus in Dessau gestritten wird, von dem allerdings außer dem Keller "schlicht nichts mehr erhalten" ist.

Besprochen werden Luc Bondys Inszenierung von Martin Crimps "Cruel and Tender" mit Kerry Fox und Joe Dixon ("Zwei unglaubliche Schauspieler", wie Barbara Villiger Heilig jauchzt), eine Aufführung von Verdis "Vespri Siciliani" im Opernhaus Zürich und Bücher, darunter die Tagebücher von Harry Graf Kessler und Ihsan Oktay Anars Atlas unsichtbarer Kontinente" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 25.05.2004

In Times mager denkt Sebastian Moll über das Politische in den diversen Kunstsparten der USA nach, unter besonderer Berücksichtigung der aktuellen Biennale des Whitney-Museums. Die amerikanische Kunst, schreibt er, scheue nicht wirklich die politische Verantwortung. "Sie tut es nur scheinbar... Vom Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit, sagt Adorno, drängt die Kunst nur, wenn sie rätselhaft und unbestimmt bleibt. Kurz, die Kunst ist desto politischer, je weniger sie sich Mühe gibt, dies zu sein. Heute wie vor 35 Jahren."

K. Erik Franzen versucht, das Verhältnis zwischen dem Europäischen Netzwerk zur Vertreibung und dem geplanten "Zentrum gegen Vertreibungen" zu erhellen ("Bei aller Vorsicht handelt es sich um den längst überfälligen Beginn eines ernsthaften Dialogs auf europäischer Ebene zum Thema Vertreibung"). Und auf der Medienseite wirft Tilman P. Ganglof einen Blick auf die Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen (FSF), die seit zehn Jahren das Treiben der privaten Fernsehsender überwacht.

Besprochen werden die "nicht zimperliche" Ausstellung "Privatisierung - zeitgenössische Kunst aus Osteuropa" von Boris Groys in den KunstWerken Berlin, die Uraufführung von Martin Crimps "Cruel an Tender" bei den Wiener Festwochen, die Uraufführung von Adriana Hölzskys Oper "Der Gute Gott von Manhattan" nach einer Hörspielvorlage von Ingeborg Bachmann und die Autobiografie von Papst Johannes Paul II. (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 25.05.2004

Die Schlacht der offenen Briefe in Sachen Flick-Collection geht weiter. Brigitte Werneburg berichtet von der Forderung Michael Fürsts, Direktoriumsmitglied im Zentralrat der Juden, nach einem Verzicht auf die Ausstellung in Berlin und stellt dies der Auffassung von Michael Blumenthal, Direktor des Jüdischen Museums in Berlin, gegenüber, der die Ausstellung befürwortet. Fürst hält die fehlende Hinterfragung des Staates, was eigentlich hinter der Sammlung stehe, und Flicks Entscheidung selbst, ihm seine Kunst zu schenken, für problematisch. Der Staat dürfe die Teilschenkung nicht akzeptieren. "Er würde andernfalls sofort in den Verdacht geraten, korrumpierbar und käuflich zu sein."

Weiteres: In tazzwei diskutieren in einem Streitgespräch Gerd Gebhardt von der phonographischen Wirtschaft (IFPI) und Oliver Moldenhauer von Attac über die Klagewelle der Musikindustrie gegen illegale Downloads aus dem Internet. Sebastian Moll würdigt den genau vor 200 Jahren geborenen amerikanischen Nationalphilosophen Ralph Waldo Emerson. In seiner Jazz-Kolumne erinnert Christian Broecking an das "Nachleben" des Art Ensemble of Chicago ("Favors war der lächelnde Zweite von rechts" - was ungefähr genau das ist, was man wissen möchte). Und auf der Medienseite argumentiert der Chef der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF), Joachim von Gottberg, dass Kinder eine Sendung wie "Jackass" manchmal brauchten, um wenigstens "medial auf die Kacke hauen" zu können, wo sie doch schon daheim so wenig rebellierten.

Besprochen werden eine groß angelegte Retrospektive von Video- und Fotodokumenten der Performances von Vanessa Beecroft in der Kunsthalle Bielefeld und Richard Powers' Familienroman "Der Klang der Zeit" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr)

Und hier TOM.

SZ, 25.05.2004

Auch die SZ dokumentiert die allmähliche Eskalation des Streits um die Flick-Collection. Nach seinem Austausch offener Briefe mit Friedrich Christian Flick (mehr dazu hier) kritisiert Salomon Korn, Vizepräsident des Zentralrats der Juden, in einem neuen Beitrag die verteidigende Haltung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Korn buchstabiert dafür die zentralen Argumentationslinien in deren Presseerklärung vom 18. Mai durch und fragt sich, ob demnächst auch eine "Göring-Collection" ins Haus stünde. "Einmal angenommen, es geben einen Enkel Hermann Görings, der eine Kunstsammlung von Art und Qualität der 'Flick-Collection' besäße: die Stiftung Preußischer Kulturbesitz würde sie vermutlich in Berlin zeigen - vorausgesetzt, sie bliebe konsequent und wiche nicht von ihrer Begründung ab, mit der sie die Ausstellung der 'Flick-Collection' bisher zu rechtfertigen versuchte."

Weiteres: Thomas Steinfeld bereitet seelisch und moralisch auf Anfang Juni vor, wenn die Konferenz der deutschen Kultusminister endgültig über die Rechtschreibreform entscheiden wird. Unklar sei nämlich, welche das überhaupt sein werde. Sonja Zekri informiert über die drohende Schließung des Staatlichen Historischen Archivs in Sankt Petersburg, das in 6,5 Millionen Dokumenten und 350.000 Büchern Russlands Geschichte seit Ende des 18. Jahrhunderts dokumentiert. Daniel Jütte resümiert eine internationale Tagung in Zürich über das Verhältnis von Schrift und Bild, und Stephan Schlak fasst ein Gespräch auf Schloss Hardenberg über Vertrauen zusammen. "alex" macht sich über "Sprachgewölk" aus Kairo lustig; im Rahmen eine Projekts des Goethe-Instituts betätigt sich derzeit dort der Schwarzwälder Dichter Jose Oliver einen Monat lang als Stadtschreiber: "Wattig, wortreich, kryptisch zwischen Unsinn und Gewölk hin- und herspurend". Und in der Zwischenzeit sinniert Joachim Kaiser über Vergessenes und "Erinnerungs-Wunder".

Besprochen werden die Erstaufführung von von Adriana Hölzskys Oper "Der Gute Gott von Manhattan" bei den Schwetzinger Festspielen, zwei Uraufführungen von Stücken von Rebekka Kricheldorf: "Ballade vom Nadelbaumkiller" im Stuttgarter Theater im Depot und "Floreana" im Theater am Neumarkt in Zürich, eine Inszenierung von Alban Bergs "Wozzeck" an der Komischen Oper Berlin, der Film "Musik für Hochzeiten und Begräbnisse" der norwegischen Regisseurin Unni Straume , eine umfassende Retrospektive von Filmen der Künstlerin Chantal Akerman am Pariser Centre Pompidou und Bücher, darunter eine Studie über Anglistik und Amerikanistik im Dritten Reich, eine Abhandlung über Tabus, der erste Band einer Bibliografie der alchemistischen Literatur, Hanns Zipperts Erklärungsversuch "So funktioniert Deutschland" und der Roman "Bis zum Ende der B-Seite" von Jamal Tuschik (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).