Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.08.2004. Die FAZ findet Dagmar Ottmanns Offenen Brief peinlich. Alle anderen Zeitungen sind beeindruckt. In der FR plädiert Horst Meier für einen Volksentscheid über die Todesstrafe. Die NZZ sieht 800.000 Chinesen beim Online-Spiel zu. In der taz verrrät Frank Baumbauer, welches Theater einen Regisseur einen Zentimeter kleiner macht. Und alle trauern um Henri Cartier-Bresson.

FAZ, 06.08.2004

Einen bösen Kommentar liefert Patrick Bahners zum Offenen Brief Dagmar Ottmanns, der gestern in der Zeit veröffentlicht wurde: Peinlich findet er ihn, weil hier ein Familienstreit öffentlich ausgetragen werde. "Welche Motive eine Schwester leiten, die ihrem Bruder die einfachste moralische Empfindung abspricht, entzieht sich öffentlicher Erörterung. Die Opfer sind jedenfalls nicht darauf angewiesen, dass ihnen die reiche Erbin eines verurteilten Kriegsverbrechers ihre Stimme leiht."

Weitere Artikel: Dirk Schümer erzählt die Geschichte der leidenschaftlichen Affäre Italo Calvinos mit der schönen, zehn Jahre älteren Gräfin Elsa de' Giorgi - ihre Briefe werden jetzt veröffentlicht, obwohl sie eigentlich noch ein Vierteljahrhundert unter Verschluss bleiben sollten. Mehr Hormone als Druckerschwärze findet Schümer in Sätzen wie: "Liebste, Hefe meines Lebens, Farbe meiner Netzhaut, Wohlgeruch, Sonne, wenn ich dich besitze, erscheint es mir, als müsse ich auf immer hoch über der Welt hinschreiten wie zu Pferde." Eine Doppelseite ist den archäologischen Schätzen in Olympia gewidmet. Brita Sachs erzählt, wie Stefan Huber den Münchner Petuelpark mit Kunst "erweckt" hat. Frank Pergande stellt uns die Merseburger Rudolf-Reliquie vor - eine mumifizierte Hand, "mit der ich meinem Kaiser Treue schwur". Patrick Bahners nennt sein "Lieblingsbuch": Jane Austens "Überredung". G.T. meldet, dass Hachette Livre den englischen Verlag Hodder Headline gekauft hat.

Auf der letzten Seite porträtiert Roswin Finkenzeller das Schachgenie Bobby Fisher. Wir lesen einen Auszug aus Maria Frises Erinnerungen an ihre schlesische Kindheit und Jugend. Und Jürg Altwegg erzählt, dass Johnny Halliday per Gerichtsbeschluss all seine Orginalaufnahmen von Universal zurückerhält.

Besprochen werden ein "Parsifal" in Baden-Baden - Kent Nagano hat die Oper zum ersten Mal dirigiert und "mit Glanz und Gloria bestanden", jubelt Eleonore Büning, eine Ausstellung zum Werk des Ingenieurs und Zukunftsforschers Werner Sobek in der Münchner Pinakothek der Moderne, Abderrahmane Sissakos Film "Warten auf das Glück" und Bücher, darunter Rolf Degens Studie über das höchste der Gefühle: "Wie der Mensch zum Orgasmus kommt" - Eberhard Rathgeb fühlte sich nach der Lektüre "informiert, aber doch nach wenigen Seiten deprimiert" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 06.08.2004

Henri Cartier-Bresson ist gestorben - die NZZ würdigt den Fotografen mit mehreren Artikeln. Der Filmautor Heinz Bütler erinnert sich an Begegnungen mit "HCB": "Gern isst Cartier-Bresson beim Chinesen um die Ecke. Vielleicht hat er eine Durian? Seit seinen Jahren im Fernen Osten ist er ganz verrückt nach dem deliziösen weißlichen Fleisch der Frucht des Zibetkatzenbaums, der seit Jahrhunderten in den Regenwäldern Südostasiens kultiviert wird. Für Europäer riecht die Durian nach faulen Eiern, verdorbenem Fleisch oder nach Käse, der mit Terpentin übergossen wurde, daher der Name Stinkfrucht. Cartier-Bresson verteidigt die Durian jedoch leidenschaftlich: Stinkfrucht oder Königin der Südfrüchte - jede Definition, wie jedes Foto auch, ist eine Frage der Perspektive."

Samuel Herzog schreibt den Nachruf, Marc Zitzmann sammelt französische Stimmen, und Claudia Schwarz legt uns noch einmal die Retrospektive im Berliner Martin-Gropius-Bau ans Herz.

Andrea Köhler porträtiert Robert Silvers, den Herausgeber der New York Review of Books, der mit seinen 75 Jahren nicht an Ruhestand denkt: "Ein Workaholic, der sieben Tage die Woche bis abends spät über Manuskripten brütet, ist der 75-Jährige ein Musterbeispiel an Energie und Disziplin. Fünf Assistenten und mehrere freie Lektoren arbeiten den Herausgeber-Dioskuren zu, doch kein Manuskript geht in Druck, das nicht beide selber gesichtet und redigiert haben. Silvers ist bekannt dafür, dass er seine Autoren noch am Weihnachtsabend mit Korrekturen verfolgt."

Weiteres: Paul Jandl meldet, dass die Wiener Traditionsverlage Zsolnay und Deuticke nun beide zum Haus des Hanser-Verlags gehören.

Auf der Filmseite informiert Margarete Wach über Situation der polnischen Filmszene, die mangels staatlicher Unterstützung auf "Digitaltechnik und Selbstausbeutung" angewiesen ist. Robert Richter zeigt, wie es um das tschechische Kino bestellt ist. Besprochen wird der Film "Par sour la bouche" von Alain Resnais.

Auf der Medienseite stellt Nikola Wohllaib das Buch "Das Internet und China" des Literaturwissenschaftlers Weigui Fang (mehr hier) vor. Einige Eigenarten des chinesischen Web: zum Beispiel Online-Spiele mit 800.000 Mitspielern. Russell Mills berichtet über Konzentrationsprozesse in den kanadischen Medien.

FR, 06.08.2004

1931 hielt Henri Cartier-Bresson "die erste Leica in der Hand. Von nun an ging alles sehr schnell: Ein Jahr später zeigte die New Yorker Galerie Julian-Levy bereits seine Fotos. Zehn Jahre später wurde ihm die seltene Ehre einer posthumen Ausstellung zu Lebzeiten zuteil. Das New Yorker Museum of Modern Art hatte sie organisiert, weil die Alliierten Cartier-Bresson nach dem Krieg als vermisst gemeldet hatten. Er war allerdings aus deutscher Gefangenschaft geflohen, hatte sich der Resistance angeschlossen und die Befreiung von Paris dokumentiert. Aber das Museum war fair: Cartier-Bresson meldete sich als lebendig zurück und durfte die Ausstellung mitgestalten." Jetzt ist er wirklich tot. Martina Meister schreibt den Nachruf.

Weitere Artikel: Volksentscheide? Warum nicht, meint der Hamburger Rechtsexperte Horst Meier. Aber wenn man sie einführt, dann auch für alles, also auch für Entscheidungen über die Todesstrafe oder den Abriss der Holocaustgedenkstätte entscheiden zu lassen. Alles andere fände Meier paternalistisch. In Times Mager sinniert Silke Hohmann über Geschmack, Versace und Immendorff. Besprochen wird Lutz Hachmeisters Biografie Hanns Martin Schleyers.

TAZ, 06.08.2004

Sabine Leucht porträtiert den Theaterregisseur Frank Baumbauer als Intendanten der Münchner Kammerspiele - wo er's als Nachfolger von Dieter Dorn bei Publikum und Presse nicht leicht hat: "In der kommenden Spielzeit, die unter dem Motto 'Bekenntnisse' steht, wird Michael Thalheimer zum ersten Mal in München inszenieren, ebenso der rasende Kapitalismuskritiker Rene Pollesch, die anderen Best-ofs des deutschen Theaters waren bereits da. Die bisherigen Versuche mit jungen Regisseuren fielen dagegen eher kläglich aus. Mit Ausnahme vielleicht von Monika Gintersdorfer fehlte den meisten entweder die Originalität oder der Atem, sie auch heil bis ans Ende einer Inszenierung zu bringen. 'Da haben wir', gibt Baumbauer zu, 'sicher auch was zerstört, weil ich nicht damit gerechnet habe, dass der Begriff "Münchner Kammerspiele" schon viele einen Zentimeter kleiner macht.'"

Weitere Artikel: Brigitte Werneburg referiert den Offenen Brief Dagmar Ottmanns zur Ausstellung der Kunstsammlung ihres Bruders Friedrich Christian Flick. Auf der Suche nach einem neuen Verlag für das Kursbuch empfiehlt die taz heute den Verbrecher Verlag. Besprochen werden CDs von AzadFerris MC und Raptile.

Den Nachruf auf Henri Cartier-Bresson schreibt Thomas Lachenmaier auf den Tagesthemenseiten. Ebenfalls dort befindet sich ein Dossier zu den drohenden Studiengebühren.

Schließlich Tom.

SZ, 06.08.2004

Fritz Göttler schreibt zum Tod des Fotografen Henri Cartier-Bresson, für den das Fotografieren "eine Art Orgasmus" war: "Fotografieren, das heißt, den Atem anhalten, wenn sich im Augenblick der flüchtigen Wirklichkeit all unsere Fähigkeiten vereinigen. Dann bereitet das Einfangen der Bilder physische und geistige Freude."

Weitere Artikel: Joachim Nettelbeck betrachtet mit einer gewissen Skepsis, dass die EU jetzt auch die "Kreativität der Grundlagenforschung" stimulieren möchte. Er befürchtet, "dass dieses neue Ziel mit den alten Mitteln verfolgt wird, mit Verfahren und Kriterien der von der Industriepolitik abgeleiteten Forschungspolitik. "ff", "midt" und "zri" haben ein kleines Glossar zur Sprache der fünfziger Jahre zusammengestellt, die mit dem "Junggesellen" und dem "Leichtmatrosen" zurückgekehrt scheint. In der Kolumne "Vom Satzbau" beweist die Autorin Katrin de Vries, wie frei und beschwingt es sich ohne Kommata schreibt.

Der Historiker Norbert Frei spricht in einem kurzen Interview über die Bedeutung des Namen Flick in der Bundesrepublik und sein Forschungsprojekt zur Firmengeschichte desselben. Gemeldet wird dazu, dass Salomon Korn Dagmar Ottmanns Offenen Brief zur Kunstsammlung ihres Bruder Friedrich Christian Flick begrüßt. Zu den Angelegenheiten der Familie Flick schreibt auch Hans Leyendecker auf der Seite 3. Gemeldet werden außerdem Buhrufe gegen den Parsifal-Darsteller Endrik Wottrich und ein Paul-Hindemith-Preis für Jörn Arnecke.

Besprechungen widmen sich der Ausstellung "En Guerra" im Centre de Cultura Contemporania de Barcelona, einer Ausstellung zu Friedrich II in Bad Piermont, einem "Parsifal" mit Kent Nagano im Festspielhaus Baden-Baden, Wiltrud Baiers filmischem Provinzporträt "Schotter wie Heu" und Büchern, darunter Peter Handkes "Don Juan" und Kinderbücher (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).