Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.12.2004. Diedrich Diederichsen fragt sich in der taz, ob der HipHop angesichts seines Sexismus und seiner Homophobie überhaupt noch zu retten ist. In der FAZ erklärt Hans Zehetmair, warum er sich zum Vorsitzenden des Rats für Rechtschreibung wählen lässt und die Interpunktion komplizierter machen will. Die FR findet die Art Basel Miami schön bunt. Die NZZ blickt sich auf dem amerikanischen Glaubensmarkt um.

NZZ, 03.12.2004

Friedrich Wilhelm Graf hat sich auf dem amerikanischen Glaubensmarkt umgetan, den "europäische Säkularisierungszeloten" ja nur schwer verstehen: "Die meisten Amerikaner investieren ins erhoffte Seelenheil ungleich mehr Ressourcen als statistische Durchschnittseuropäer. Viele Konsumenten religiöser Güter und Dienstleistungen verhalten sich strikt optional. Sie wählen qualitätsbewusst aus und konfrontieren die Religionsanbieter mit der klaren Botschaft, dass auf konkurrenzbestimmten Sinnmärkten langfristig nur überlebt, wer Gott ein klares, scharf konturiertes Profil zu geben vermag. Protestantische main line churches mit einem Wischiwaschigott haben in den letzten dreißig Jahren zunehmend an Glaubensmarktanteilen verloren."

Annemarie Pieper gratuliert dem Basler Philosophen Hans Saner zum Siebzigsten. Gemeldet wird, dass der Film "Finding Neverland" des Schweizer Regisseur Marc Forster von US-Kritikern zum Film des Jahres 2004 gekürt wurde. Besprochen werden eine Schau der leuchtenden Bilder des Fra Carnevale in Mailand, eine Ausstellung über Hochhausarchitektur in Düsseldorf und die Schau "Nachts. Wege in andere Welten" in Hannover.

Auf der Filmseite liefert Christoph Egger einen Werkstattbericht über einen ungewöhnlichen Dokumentarfilm, der der Herkunft eines Elefanten nachgeht: "Wie kommt das Hotel Elephant in Brixen zu seinem Namen? Worauf verweist das Fresko an der Hauswand mit seinem mächtigen Elefanten? Der Filmemacher Karl Saurer aus Einsiedeln, der seit vielen Jahren schon an der Zelig Film School im benachbarten Bozen als Gastdozent Dokumentarfilmseminare durchführt, hat sich diese Frage bei jedem Besuch von neuem gestellt und nach Antworten zu suchen begonnen. Je deutlicher ihm die Zusammenhänge wurden, desto konkreter erschien eine Filmidee: 'Rajas Reise'.

Besprochen werden Hans Weingartners Film "Die fetten Jahre sind vorbei" und ein Dokumentarfilm über Derrida.

Auf der Medienseite bringt uns Edgar Schuler das demokratisierende Potenzial von Politainment näher. Gemeldet wird, dass der libanesische Hizbollah-Sender al-Manar zwei Wochen nach Sendebeginn das Ausstrahlungsverbot in der Europäischen Union droht.

Berliner Zeitung, 03.12.2004

Geht es in der Ukraine wirklich um einen Streit zwischen Ost und West? Nein, meint der ukrainische Schriftsteller Mykola Riabtschuk und nennt ein paar Zahlen: "Jüngste Umfragen zeigen, dass 20 Prozent der ukrainischen Russen den 'Nationalisten' Juschtschenko unterstützten, während 30 Prozent der ethnischen Ukrainer für den 'Pro-russischen' Janukowitsch stimmten. Sie lassen auch erahnen, dass sehr viel mehr - und womöglich wichtigere - Trennlinien durch die Gesellschaft verlaufen als die zwischen Ethnien oder Sprachgruppen. So ist die einzige Altersgruppe, in der Janukowitsch mehr Rückhalt genießt als Juschtschenko, die der Rentner. Und was Bildung betrifft, so führt Janukowitsch nur bei den Personen mit Grundschulbildung oder unvollendeter höherer Schulbildung."
Stichwörter: Ethnien, Ukraine

TAZ, 03.12.2004

Diedrich Diederichsen fragt sich, ob der HipHop angesichts seines Sexismus und seiner Homophobie überhaupt noch zu retten ist. Ausgerechnet Snoop Doggs neue CD gibt ihm den Glauben ans Genre wieder: "Eines der Argumente ist die Single 'Drop It Like Its Hot', für die die Neptunes ein delikates Mikadospiel von abstrakten Beats geklöppelt haben, gekrönt vom lakonischen Schnalzen einer Human Beat Box. Schön auch hier zu hören, dass die englische Sprache, auch wenn man sie besser versteht als andere fremde Sprachen, auch und gerade im um Deutlichkeit so bemühten Rap oft reiner Klang bleibt. Zugleich schillert hier das Zentral-Paradox des HipHop: Je wahrer, ernster, unmittelbarer, schmuckloser er sein will, desto künstlicher, inszenierter, rollenspielhafter wirkt er. Je nachdrücklicher der Zuhältermann böse guckt, desto posenhafter - und desto genießbarer. Bei Snoop ist das immer eine Möglichkeit: es könnte sein, dass er das alles ganz gut weiß. Er spielt mit der Möglichkeit der Selbstironie, mit der Distanz des Signifyin(g) und lässt dem Stumpfo in seinem Publikum aber auch die Deutung offen, ihn als straighten Pimp, der seine Ho mit harter Hand kontrolliert, blöde zu bewundern - ein Virtuose der Ambivalenz wie zuletzt nur Busta Rhymes."

Weiteres: Uwe Rada sieht in der Ukraine eine offene, postsowjetische Zivilgesellschaft entstehen. Dirk Knipphals berichtet von einer Konferenz in Berlin: Delegierte aus vier Nationen trafen sich, um den "Fortschritt in unterschiedlichen Kulturen" zu diskutieren und hatten Spaß dabei. Susanne Messmer schickt einen Brief aus Singapur.

Schließlich Tom.

FR, 03.12.2004

Auf der Art Basel in Miami denkt man groß, berichtet eine faszinierte Silke Hohmann "Auch das macht den gewissen Charme von Miami aus: Groß und bunt sind hier keine despektierlich gemeinten Attribute. Zu zeigen, was man hat, ist auch eine der Tugenden der großen ortsansässigen Sammler Miamis, Braman, Rubell und de la Cruz etwa, die ihre Privathäuser und -museen dem Publikum zugänglich machen. So kann man sich einfühlen in die Situation, jeden Morgen mit vier Picassos im Schlafzimmer aufzuwachen oder hinter dem Frühstücksraum eine in Auftrag gegebene Gruppenausstellung sein eigen nennen zu können."

Eine Meldung besagt, dass der Berliner Senat mit dem Abriss der Treppentürme von Peter Zumthor auf der Topografie des Terrors begonnen hat.

Weitere Artikel: Hilal Sezgin hat ein Klischee-Glossar zum Islam zusammengestellt. Besprochen werden die Ausstellung "Direkte Malerei" in der Mannheimer Kunsthalle und Bücher, darunter ein Band von Debra Hamel, die den Prozess der Hetäre Neira rekonstruiert (mehr in unserer Bücherschau des Tages heute ab 14 Uhr).

FAZ, 03.12.2004

Der ehemalige bayerische Kultusminister Hans Zehetmair erklärt im Aufmacher, warum er sich zum Vorsitzenden des neuen Rats für Rechtschreibung wählen lässt und verkündet schon mal, was er an der reformierten Rechtschreibung noch besser machen will: "Wir brauchen mehr und nicht weniger Interpunktion, weil Satzzeichen den Sprachfluss und den Sinnzusammenhang strukturieren."

Weitere Artikel: Reinhard Wandtner stellt eine in der Zeitschrift Brain präsentierte Studie vor, die Symptome der Alzheimererkrankung an Texten der Schriftstellerin Iris Murdoch ermittelte, die vor dem Ausbruch der Krankheit geschrieben wurden (hier das Abstract des Artikels, Brain, hier ein Bericht der BBC). Hannes Hintermeier wirft einen Blick auf die erstaunlichen Ergebnisse der Antiquariatsbestsellerliste bei zvab. Jordan Mejias schildert Rechtsprechung und Rechtspraxis beim Thema Integration in den USA. Gustav Falke resümiert einen Vortrag der Islamkundlerin Jytte Klausen in der Berliner American Academy. Hubert Spiegel betrachtet ein historisches Gruppenfoto deutscher Verleger, das bei der Buchmesse vom Fotografen Thomas Kierek angefertigt wurde. Annette Zerpner verfolgte das 19. "Treffen junger Autoren" in Berlin.

Auf der Medienseite schildert Michael Martens ein Experiment des serbischen Senders B 92: Prominente Politiker kutschierten als Taxifahrer Zufallsgäste durch die Stadt.

Auf der letzten Seite erzählt Wigbert Löhr die wechselvolle Geschichte des Soester Patroklischreins aus dem 14. Jahrhundert, der im Krieg zum Teil zerstört wurde und verloren ging. Gina Thomas berichtet über Sparmaßnahmen an britischen Universitäten, die selbst die Architekturschule in Cambridge nicht unverschont lassen. Und Heinrich Wefing porträtiert den neokonservativen Publizisten Gary Schmitt, der den Irak-Krieg schon abgehakt hat und jetzt einen Konflikt mit dem Iran ansagt, der die transatlantischen Beziehungen womöglich vollends ruiniert.

Besprechungen gelten einer Ausstellung über den Einfluss von Comics auf die zeitgenössische Kunst in Stuttgart, einer Ausstellung über Antoni Gaudi in Bremen, zwei Dokumentarfilmen über Salvador Allende und die deutsche Kommunistin Olga Benario und einer Ausstellung über das jüdische Leben im Mittelalter in Speyer.

SZ, 03.12.2004

"Es gibt in Deutschland kein Ethos des Krieges", stellt Jürgen Busche fest und vermisst bei der Truppe eine soldatische Erziehung, die auch für den Ernstfall taugt: "Der Offizier beschreitet seine Laufbahn wie ein landesüblicher Beamter. Niemand bereitet ihn hinreichend darauf vor, dass die Führung eines Bataillons im Kosovo etwas anderes ist als die Leitung des Postamts in Hamburg-Rahlstedt. Gewiss spüren die Soldaten, dass ihnen bei den Auslandseinsätzen auf dem Balkan oder in Afghanistan etwas anderes bevorstehen könnte als bei einem Manöver in der Lüneburger Heide. Aber was es heißen könnte, töten zu müssen und getötet zu werden, darauf gibt ihnen die Gesellschaft, in der sie ihr Leben ernst nehmen, keine Antwort."

Sonja Zekri sieht die Propaganda Lügen gestraft, die in der ukrainischen Opposition nur einen amerikanischen Handlanger sieht - auch wenn sie tatsächlich von Europa kränkend vernachlässigt wurde: "Den Mütterchen, die die Demonstranten aus Badewannen voller Pelmeni verköstigen, den Bauern, die das Vieh im Stich lassen, um ein verhasstes Lügenregime fortzujagen, ist die US-Politik herzlich egal."

Weiteres: Willibald Sauerländer feiert die Ausstellung "Eyes, Lies and Illusions" in der Londoner Hayward Gallery, das er überhaupt allen Museen der Stadt an "Witz, Intellektualität und Experimentierfreude" weit voraus sieht. Rainer Komers berichtet, dass Mühlheim die Sammlung Nekes nicht aufkaufen kann und sich stattdessen mit Imitaten begnügen muss. Reinhard J. Brembeck ärgert sich, dass der SWR weiter bei Ensembles und Rundfunkauftrag sparen will. Till Briegleb kündigt Hamburgs erste Triennale für das Jahr 2007 an. Sefan Koldehoff weiß, warum das Metropolitan Museum die derzeit um die Welt reisende Tutanchamun-Ausstellung nicht zeigen wird: Zu teuer!

Christine Dössel misstraut der neuen deutschen Rückbesinnung, in deren Zuge nun auch "Die Nibelungen" ihre Renaissance erleben, für Dössel eh recht "seltsame Helden", die wir uns da auserkoren haben. In derselben Rubrik berichtet Alexander Kissler von einer Ausstellung im Deutschen Rundfunkarchiv in Fürth, die an "Kriegsweihnachten 1939 bis 1945" erinnert. Thomas Thiemeyer berichtet von einer Tagung über "Erkenntnis und Wahrnehmung im Musem" in Essens Zeche Zollverein. Constanze von Bullion war auf dem Festakt zum 50. Jubiläum der Jerusalemer Gedenkstätte Jad Vaschem. Karl Bruckmaier schreibt einen Nachruf auf den Musiker Kevin Coyne.

Besprochen werden Tom Kühnels Inszeneriung von Ibsens "Gespenster" und Bücher, darunter Dag Solstad "Elfter Roman" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).