Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.02.2005. In der Welt fordert die Autorin Necla Kelek einen Abschied von Multikulti und eine neue Politik der Integration. Die SZ erklärt, warum das deutsche Lesepublikum wesentlich kosmopolitischer ist als das amerikanische: Es liest Übersetzungen. In der NZZ erzählt der polnische Außenminister Adam Daniel Rotfeld, wie er in einem katholischen Waisenhaus den Holocaust überlebte. Die FAZ fürchtet ein zweites Kölner Loch.

Welt, 26.02.2005

Die Autorin Necla Kelek, die in einem demnächst erscheinenden Buch über Zwangsheiraten und türkische "Importbräute" in Deutschland recherchiert hat, kritisiert im Forum die Ideologie des Multikulturalismus und fordert eine neue Politik der Integration: "Ich bin für das neue Zuwanderungsgesetz, das jeden Einwanderer verpflichtet, Deutsch zu lernen, und ihm ermöglicht zu erfahren, welche Rechte er in unserer Demokratie hat. Eine zivile Gesellschaft lebt nicht von Verboten, sondern von Normen und Werten, über die gesellschaftlicher Konsens erzielt wurde. Auch die Zwangsheirat und arrangierte Ehen werden nicht zuerst durch Verbote verhindert; vielmehr wird es sie erst dann nicht mehr geben, wenn allen klar ist, dass unsere Gesellschaft sie nicht akzeptiert. Und dieser politische Wille muss sich auch in deutlichen Maßnahmen ausdrücken. Wir müssen die Schwächsten dieser Gesellschaft schützen. Hier sind es die Importbräute und Frauen, die diese Familienstrukturen verlassen wollen. Aber wir müssen auch über unsere Gesellschaft diskutieren. Ich würde mir wünschen, dass wir deutschen und türkischstämmigen Demokraten in diesem Land selbstbewusster die Errungenschaften unserer Republik verteidigen."

Die Literarische Welt druckt einige Gedichte Rainer Werner Fassbinders ab, die demnächst (wieder?)veröffentlicht werden, ein Auszug:

"Den letzten Akt,
Den schreibe mit Gewalt
Wenn dich das Grauen packt
Dann wirst du alt."

Außerdem zieht Michael Wolfssohn in einem längeren Essay eine vorläufige Bilanz der zweiten Intifada: "Israel hat gewonnen, doch nicht gesiegt. Die Palästinenser haben verloren und sind nicht besiegt. " Und Uwe Wittstock porträtiert den Lyriker und Maler Gerald Zschorsch, denn die DDR für ein paar Gedichte vier Jahre ins Gefängnis steckte.

TAZ, 26.02.2005

Vom einem literarisch-literarkritischen Gipfeltreffen, bei dem es gar lustig zuging, berichtet Michael Rutschky, der das eher unheimlich fand. Es trafen sich Marcel Reich-Ranicki und Durs Grünbein (mehr) im Kanzleramt: "Europa und die Literatur - gibt es überhaupt eine andere als die europäische? - baute Reich-Ranicki schon mit dem ersten Statement ein klares Schema auf, wie die Komödie es braucht. Die Nordamerikaner schreiben ebenso wie die Inder englische, die Südamerikaner schreiben spanische und portugiesische Literatur. Alles, was an der Weltliteratur interessiere, sei europäisch geprägt, ein froh und bestimmt vorgetragener Eurozentrismus, der das Publikum, vage, aber entschieden auf die Anerkennung der anderen, der fremden Kultur getrimmt, zum Lachen kitzelte, als wäre eine Zote erzählt worden. Da konnte Durs Grünbein, tief durchdrungen von der Literaturfrömmigkeit der sozialistischen DDR, mit seinem eher feierlichen Begriff von Weltliteratur (die sich als Hochgebirge von Homer bis Joyce erstrecke) keinen Stich machen."

Weitere Artikel: Im Interview spricht der Regisseur Terry George über seinen dreifach Oscar-nominierten Film "Hotel Rwanda". Gerrit Bartels kommentiert bissig den Wirbel um Imre Kertesz Wechsel vom Suhrkamp- zurück zum Rowohlt-Verlag. Besprochen werden ein Buch des Kunst-Kurator-Stars Hans-Ulrich Obrist und - hymnisch - "Kirillow", der neue Roman von Andreas Maier. Im Magazin werden rezensiert: Eine Studie über den "Mythos Attac", ein Sachbuch über "Das Gewissen der Medizin" und einige andere Bücher. (Mehr dazu in der Bücherschau des Tages.)

In der Reihe "Erlesens erhalten" wundert sich der Schriftsteller Joseph von Westphalen über das Epiphanische der Zeitung: "Rätselhaft ist das logistische Wunder, täglich ein paar hunderttausend Exemplare einer Zeitung wenige Stunden nach dem Druck so perfekt zu vertreiben, dass fast an allen Orten des Landes oder der Welt, wo es eine Nachfrage gibt, auch das Angebot besteht, diese Zeitung zu kaufen. Ebenso rätselhaft aber ist das spurlose Verschwinden all dieser Exemplare am anderen Tag."

Im taz mag: Unter dem Pseudonym Liama Menina berichtet eine Studentin von ihrem seltsamen Job als Teil der afghanischen Zivilbevölkerung, den sie allerdings im bayerischen Hohenfels, einem Trainingslager für amerikanische Soldaten, ausübt: "Deshalb sind wir jetzt C.O.B.s, 'Civilians on the Battlefield', Statisten auf dem Schlachtfeld. Wir Studierende, Arbeitslose aller Altersklassen, Aussteiger, Künstler, Familienväter, die einen Monat Zeit haben, um in einer irrealen Zwischenwelt zu leben, werden 'afghanische Dorfbevölkerung'. Ohne Internet, in einem Gebiet mit schlechtem oder, netzabhängig, gar keinem Funktelefonempfang. Jeder von uns verdient neunzig Euro pro Tag, ein Einsatztag dauert von 5 bis 22 Uhr. Wenn wir 24-Stunden-Dienst haben, werden es 100 Euro sein, alles auf Lohnsteuerkarte. Wer bei einem Regelverstoß erwischt wird, bekommt nur siebzig Euro pro Tag und fährt auf eigene Kosten zurück."

Und Tom.

NZZ, 26.02.2005

Adam Daniel Rotfeld, heute polnischer Außenminister, dessen gesamte Familie im Holocaust ermordet wurde, erinnert sich an sein Überleben in einem Waisenhaus in der heutigen Ukraine: "Drei Knaben waren aus jüdischen Familien. Sie kamen dorthin, nachdem der Metropolit der griechisch-katholischen Kirche, Andrzej Szeptycki, entschieden hatte, alle ihm unterstehenden Klöster sollten auch jüdische Kinder verstecken. Dank dieser Aktion wurden fast 150 Mädchen (in Frauenklöstern) und Knaben (in Männerklöstern) gerettet."

Besprochen werden Shakespeares "Richard II." im Zürcher Schauspielhaus, Opern von Verdi und Lortzing auf Münchner Bühnen, eine Ausstellung von Mark Handforth im Kunsthaus Zürich und einige Bücher, darunter Meditationen Philippe Jaccottets über Giorgio Morandi.

In Literatur und Kunst ist ein Schwerpunkt der Malergruppe "Die Brücke" gewidmet, die vor hundert Jahren gegründet wurde. Christian Saehrendt erinnert daran, "wie umstritten die 'Brücke'-Kunst in den vier verschiedenen Systemen war, die Deutschland seit 1919 prägten". Und Martin Seidel betrachtet Ernst Ludwig Kirchners "Brücke"-Gemälde, in dem er der schnell aufgelösten Malerschule 1926 ein Denkmal setzte.

Außerdem erinnert Andrea Bollinger an die "konservative Feministin" Meta von Salis. Caroline Schnyder liest die "Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen". Thomas Maissen meldet die Ankunft des Historischen Lexikons der Schweiz beim Buchstaben C. Eine ganze Seite ist der Erinnerung an den ehemaligen NZZ-Feuilletonchef Hanno Helbling gewidmet, der vor kurzem gestorben ist. Es schreiben Ludwig Schmugge, Michael Krüger, Victor Conzemius und Hugo Loetscher.

FR, 26.02.2005

Der Soziologe Peter Fuchs und Cornelia Steinert, Mitarbeiterein des Deutschen Roten Kreuzes, weisen darauf hin, dass Hartz-IV-Folge "für das Leben vieler Menschen und insbesondere für das Leben vieler Kinder verheerende Folgen hat.(...) Zum Beispiel - und wir nennen zur Einstimmung auf das Problem nur dieses barbarische Exempel - sind die Sozialhilfesätze für Kinder und Jugendliche insbesondere ab dem 7. Lebensjahr dramatisch gekürzt worden. Das gilt nach Hartz IV für Familien, die in gewisser Weise doppelt arm sind: geldarm und arbeitsarm. Sie sind es, die in die Verelendung getrieben werden."

Weitere Artikel: Martina Meister berichtet von den neuesten Tendenzen, alte Pariser Gebäude nach Art "Potemkinscher Dörfer" mit "gläsernen oder metallenen Hüllen" zu verunstalten. Den Ausgang des Architekturwettbewerbs um das "Porsche-Museum" in Stuttgart kommentiert Christian Holl. Gunnar Luetzow stellt jüngere Versuche zur Rehabilitation der Faulheit vor. Auf den Medien-Seiten erfahren wir, warum ein Filmförderer die Privatsender als "Gauner, Geier, Halsabschneider" beschimpft.

Besprochen werden Katharina Wagners Inszenierung von Lortzings "Waffenschmied" in München und Elias Perrigs "Richard II"-Version in Zürich.

Im Magazin - Achtung, e-paper! - gibt es ein Interview mit dem Shooting-Star Julia Jentsch, eine Reportage über US-Senioren in der Wüste und das Protokoll einer Nachtschicht bei der Telefonseelsorge.

FAZ, 26.02.2005

Die Stadt Köln ist für nassforschen Urbanismus fast noch bekannter als die Stadt Frankfurt, und Andreas Rossmann ist zur Stelle, ihn anzuprangern. Dem Opernhaus der Stadt, einem wertvollen Nachkriegsbau der zweiten Moderne von Wilhelm Riphahn droht der Abriss, weil ein Neubau angeblich billiger kommt als eine Sanierung. Rossmann erinnert an das Museum am Neumarkt: "Acht Jahre nachdem der Wettbewerb entschieden und drei Jahre nachdem der Vorgängerkomplex abgerissen wurde, ist nur das 'Loch' ausgehoben und noch kein Grundstein für ein Haus gelegt, das immer wieder abgespeckt und umgeplant wurde und kaum mehr als ein passabler Funktionsbau zu werden verspricht."

Weitere Artikel: Jürgen Kaube wundert sich über das Festhalten der französischen Schüler am rigiden System des Zentralabiturs. Niklas Maak meditiert übe den morbiden Charme und die Zerfallstendenz der Kreidefelsen auf Rügen. Heinrich Wefing hat im Kanzleramt einem Gespräch zwischen Marcel Reich-Ranicki und Durs Grünbein über Europas Literatur gelauscht. Herwig Birg setzt seinen "Grundkurs Demografie" mit der fünften Lektion fort, in der wir lernen, dass es nicht zu viele Alte, sondern zu wenige Junge gibt. "hd." meldet, dass der Dirigent Philippe Jordan wegen unüberwindbarer Differenzen mit dem Regieteam Herrmann nicht mehr die Salzburger "Cosi" dirigieren will. Gerhard Rohde schreibt zum Tod des Opernsängers Josef Metternich. Martin Thoemmes berichtet über die Entlassung Ronny Kabus' als Leiter des von Bund und Niedersachsen finanzierten Ostpreußischen Landesmuseums (das in Lüneburg Asyl fand) - die Vertriebenenverbände kippten ihn, weil er kein Menschenrecht auf Rückgabe Ostpreußens propagieren wollte. Dieter Bartzetzko gratuliert dem plumpen Berliner Dom (hier wäre doch mal ein lohnendes Objekt für den Abriss!) zum Hundertsten. Jürgen Kesting gratuliert der Sängerin Mirella Freni zum Siebzigsten.

In der ehemaligen Tiefdruckbeilage erinnert Arnold Stadler an die Leiden des adipösen Adalbert Stifter. Und Hubert Wolf begrüßt die Seligsprechung des Bischofs von Galen, der sich gegen die Euthanasieprogramme der Nazis (allerdings nicht gegen den Mord an den Juden) engagierte.

Auf der Schallplatten-und-Phonoseite geht's um ein Recital des Sängerpaars Alatie/Simoneau, neue CDs der deutschen Gruppen Mutter und Milch, das Debüt der britischen Band Bloc Party, eine neue Platte der Flying Pickets und um die Memoiren, das Wolf Conservation Centre und die neue CD von Helene Grimaud. Auf der Literaturseite werden ein Band mit Filmkritiken Siegfried Kracauers und ein neues Buch von Günter de Bruyn besprochen.

Besprochen werden Ernst Kreneks Oper "Johnny spielt auf" in Köln, eine Ausstellung mit Zeichnungen Ed Riuschas in Washington und der Thriller "White Noise" mit Michael Keaton.

In der Frankfurter Anthologie stellt stellt Kurt Oesterle den "Cor der Toten" von Conrad Ferdinand Meyer vor:

"Wir Toten, wir Toten sind größere Heere
Als ihr auf der Erde, als ihr auf dem Meere!
Wir pflügten das Feld mit geduldigen Taten,
Ihr schwinget die Sicheln und schneidet die Saaten, (...)"

SZ, 26.02.2005

Ijoma Mangold berichtet, wie unfassbar man in den USA die deutsche Lust am Fremden findet: "Die amerikanischen Lektoren trauen ihren Augen nicht, wieviel fremdsprachige Literatur auf dem deutschen Buchmarkt übersetzt wird." Und tatsächlich: "Deutschland ist ein reiches Übersetzungsland. Etwa jedes achte Buch, hat der Börsenverein des Deutschen Buchhandels errechnet, das 2003 in Deutschland erschien, wurde aus einer anderen Sprache übersetzt. Das sind in absoluten Zahlen 7.574 Titel -- 12,3 Prozent der Gesamtproduktion. Schaut man sich nur die Belletristik an, ist der Anteil übersetzter Bücher noch viel größer: 31 Prozent, also fast jeder dritte Roman wurde aus einer anderen Sprache ins Deutsche übersetzt. Zum Vergleich: Nur ein bis zwei Prozent aller Neuerscheinungen in den USA sind Übersetzungen."

Weitere Artikel: Thomas Steinfeld stellt fest, dass die Türkei den Genozid an den Armeniern noch immer verdrängt und begründet es mit einer gewissen Orientierungslosigkeit: "Die Türkei aber hat ein anderes Problem: Sie hat ihre Stelle in der Welt bis heute nicht gefunden." Gustav Seibt hat zugehört, als sich im Kanzleramt der Kritikerpapst Marcel Reich-Ranicki und der Dichterpapst Durs Grünbein über "Europa als Text" unterhielten. Kai Martin Wiegandt informiert darüber, wie französische Bibliotheken dem Google-Digitalisierungsprojekt (vgl. Meldung) Paroli bieten wollen. Ira Mazzoni berichtet, dass auf Rügen fast alle unglücklich sind über die unsicheren Aussichten, die sich für das von den Nazis gebaute Ostseebad Prora nach seinem Verkauf ergeben.

Außerdem: Jens Malte Fischer gratuliert der Sopranistin Mirella Freni (Fan Site) und Andrian Kreye dem New Yorker Jazz-Club Village Vanguard (Homepage) zum Siebzigsten. Gemeldet wird, dass Rolf Hochhuth die Verteidigung des Holocaust-Leugners David Irving jetzt doch für eine "Riesendummheit" hält und sich mit Paul Spiegel zu einem öffentlichen Streitgespräch treffen will. Arnd Wesemann stellt den New Yorker Dramatiker John Jesurun vor, der gerade am Berliner Prater arbeitet. Eine spannende Oscar-Nacht verspricht Susan Vahabzadeh. Wir erfahren auch, dass Pierre Boulez sich gegen das Bayreuther Hausverbot für Christoph Schlingensief ausgesprochen hat.

Besprochen werden ein brillanter Auftritt von Simon Rattle und den Berliner Philharmonikern in München, Stephane Vuillets Film "25 Grad im Winter". Auf der Literaturseite geht es heute um die Be- und um Umarbeitung klassischer Werke: Lothar Müller denkt über die Möglichkeiten der Klassikerparaphrase nach. Das Nibelungenlied wird in seinen Nachdichtungen verfolgt, zudem werden Bearbeitungen antiker Mythen und Shakespeares Dramen als Novellen untersucht. Gustav Seibt unternimmt einen "Streifzug durch die Welt der Kinder- und Jugendbibeln".

Im Aufmacher der SZ am Wochenende gießt Willi Winkler eimerweise Hohn über Peter Hahne. Im Vorabdruck gibt es zwei bisher unveröffentlichte frühe Erzählungen von Rainer Werner Fassbinder. Michael Frank stellt die Stadt Bratislava vor, und das "Preßburger Gefühl". Tobias Timm hat mal getestet, ob man als (falscher) Hartz-IV-Empfänger ein dem Zugriff der deutschen Ämter entzogenes Konto in der Schweiz eröffnen kann. Klare Antwort: Geht, man braucht nur die richtige Bank. Vom Schloss, dass Valery Gistard d'Estaing sich zugelegt hat, berichtet Johannes Willms.

Im Interview bekennt sich Julia Jentsch ("Sophie Scholl") zu Zweifeln an sich selbst und den Medien: "Man hat ja ein eigenes Gefühl für sich, und dann liest man, wie andere Leute einen sehen -- und das krieg ich manchmal nicht mehr zusammen. (...) Man denkt: Welche Person bin ich denn gerade? Da kann man richtig durchdrehen im Kopf. Ich frage mich, will ich das denn überhaupt? Will ich, dass irgendwo ein Foto von mir gedruckt wird, und die Leute schauen das an? Und eigentlich will ich das nicht."