Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.03.2005. In der SZ beklagt der Historiker Götz Aly die "Geschichtsfeigheit" und "üppige Verwahrlosung" der Berliner Gedenkstätten. Die taz stellt richtig: Als Gewaltopfer konnte Rudi Dutschke gar kein potenzieller Terrorist sein. In der FR beschreibt Natan Sznaider die Stimmung in Tel Aviv nach dem jüngsten Selbstmordattentat. Die FAZ freut sich über die Oscars für Clint Eastwood

SZ, 01.03.2005

Kulturstaatsministerin Christina Weiss will die drei bisherigen Berliner NS-Gedenkorte - die Topographie des Terrors, das Haus der Wannsee-Konferenz und die Gedenkstätte Deutscher Widerstand - zusammen mit dem Holocaust-Mahnmal in einer Stiftung zusammenfassen. Der Historiker Götz Aly hat sich die bestehenden Gedenkstätten noch einmal genauer umgesehen - und ist schlichtweg entsetzt über eine "üppig ausgestattete Verwahrlosung" und "sturzlangweilige Schriften" in "unverändert anspruchslosem Komsomolzen-Layout": "Geschichtsfeige blenden die Berliner Gedenkstätten größere historische Zusammenhänge aus. Sie vermeiden das Verwirrende, das Uneindeutige und tragen damit zur Dekontextualisierung von Geschichte bei. In ihrem aktuellen Zustand liefern sie das Muster dafür, wie man auch andere historische Ereignisse des 20. Jahrhunderts, etwa Bombenkrieg und Vertreibung, bequem gegen die Fragen nach den geschichtlichen Zusammenhängen abschotten kann - sei es in selbstmitleidiger oder auch rechtsradikaler Weise. Damit betreiben sie objektiv Gegenaufklärung. Sie tragen zu einer geschichtspolitischen Häppchenkultur bei, die jeden ermuntert, sich das gerade Passende auszusuchen und dann politisch-ideologisch zu verwursten" (Hier ein Vorabdruck zu Götz Alys neuem Buch "Hitlers Volksstaat").

Heute um elf Uhr startet der Perlentaucher seinen englischsprachigen Dienst signandsight.com. Aus diesem Anlass druckt die SZ den Eröffnungstext von Thierry Chervel, in dem er dafür plädiert, in Europa das Englische als lingua franca anzuerkennen: "Hat Deutschland nicht in den Augen vieler internationaler Kenner die besten Feuilletons der Welt? Auch wenn die Feuilletonredakteure nicht selten dem Missverständnis erliegen, ihre eigenen Artikel für das eigentlich Wichtige zu halten, auch wenn Recherche oder das Erzählen von Geschichten in deutschen Feuilletons eher als inopportun gelten: Sie reflektieren eine einzigartige Kulturlandschaft mit erstklassigen Opernhäusern und Museen in jeder mittleren Stadt, und sie sind ein einzigartiger Debattenraum... Hier schreiben Günter Grass über das Copyright oder Andrzej Stasiuk über die Ukraine. Gerade die relative Offenheit zu Osteuropa ist eine ungeheure Stärke. Hier ist Deutschland deutlich weniger provinziell als Westeuropa und die englischsprachigen Länder. Hätte Imre Kertesz den Nobelpreis gewonnen, wenn er nicht in Deutschland solche Erfolge gefeiert hätte? Jenseits der Grenzen ist darüber wenig bekannt, weil das Deutsche allgemein als eine Art Altgriechisch der Gegenwart gilt und wenig praktiziert wird. Wäre es nicht an der Zeit, einiges davon ins Englische zu übersetzen?" Hier der ganze Essay.

Für Tobias Kniebe hat die Oscar-Verleihung als Triumph rüstiger Greise genossen, besonders imponiert hat ihm die fidele Mutter des 74-jährigen Clint Eastwood. Fritz Göttler bedauert trotzdem, dass Martin Scorsese keinen Oscar für "The Aviator" bekommen hat. Burkhard Müller sagt es endlich einmal: Ein weiblicher Rückenakt auf dem Buchcover ist nicht mehr originell! Antje Weber war auf einer Tagung in München, die sich dem Typus des "working girl" widmete. Thomas Urban berichtet, dass in Polen Hitlers "Mein Kampf" neu verlegt wird.

Besprochen werden Peter Mussbachs und Kent Naganos Inszenierung von Richard Strauss' "Salome", Andreas Kriegenburgs "Lear" im Hamburger Thalia Theater, Tankred Dorsts neues Stück "Die Wüste" am Theater Dortmund, Uwe Bolls "Alone in the Dark" und Bücher, darunter Amir D. Aczel Orientierungsgeschichte "Der Kompass" und Amitav Goshs Roman "Hunger der Gezeiten" (mehr in unserer Bücherschau ab14 Uhr).

TAZ, 01.03.2005

Muss, wer Rudi Dutschke sagt, auch Gewalt sagen? Zur Debatte um diese Frage beginnt die taz heute eine Reihe zur Aufarbeitung des Selbstverständnisses der 68er-Bewegung. Den Auftakt macht der Soziologe und einstige Aktivist der Außerparlamentarischen Opposition Klaus Meschkat. Er setzt sich mit einer Publikation des Hamburger Instituts für Sozialforschung auseinander, in der Wolfgang Kraushaar "ein Gewaltopfer wie Rudi Dutschke vorzugsweise als potenziellen Terroristen" behandele und damit "als Historiker der 68er-Bewegung nicht ernst zu nehmen" sei. Vielmehr dienten "doch die Untaten terroristischer Gruppen der gegenwärtigen amerikanischen Führung vor allem als Vorwand, nahtlos an die Vietnamkriegstradition schrankenloser militärischer Intervention anzuknüpfen. Wenn Millionen friedlicher Demonstranten in ganz Europa einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg nicht verhindern konnten - sollten wir nicht erst einmal mit Interesse und Sympathie auf die Versuche Rudi Dutschkes und seiner Freunde zurückblicken, die US-Kriegsmaschine zum Halten zu bringen?"

Weiteres: Die Oscar-Verleihungen kommentiert Bert Rebhandl; er stellt fest, dass Hollywood im Jahr 2005 ganz einfach so weiter mache wie bisher - genau "so wie der Präsident, gegen den die ganze symbolische Macht der Filmindustrie nichts half". In der Kolumne "Theorie und Technik" räsoniert Robert Misik über den Begriff Hybridität - laut seiner Analyse "das Wort der Stunde in der Kulturtheorie". Besprochen wird schließlich der Roman "Die entführte Prinzessin" von Karen Duve. (mehr dazu in unserer Bücherschau ab 14 Uhr)

Und hier Tom.

FR, 01.03.2005

In Times mager erinnert Alexander Kluy einigermaßen emphatisch an "einen der klügsten, geistvollsten, brillantesten, exzentrischsten Autoren, die England in den letzten 125 Jahren hervorbrachte": Lytton Strachey (ausgesprochen: Litten Strekkii, mehr). "Er war in allen praktischen Dingen herrlich unpraktisch, homo-, auch ein bisschen bisexuell, einer der besten Freunde Virginia Woolfs (einen Hochzeitsantrag, den er ihr machte, zog er postwendend zurück) und ausgestattet mit einer Stimme, die im Bass begann und in einem furiosen Quieken am Ende oder in der Mitte langer Sätze endete."

Weitere Artikel: Der Soziologe Natan Sznaider beschreibt die Stimmung in Tel Aviv nach dem jüngsten Selbstmordattentat: "Man konnte an den Gesichtern der Menschen ablesen, dass sie wussten, dass nun die Zeit der Illusionen vorbei ist, dass es zwar Waffenstillstand gibt, aber dass man immer noch in die Luft gehen kann." Daniel Kothenschulte kommentiert eine "fehlgeleitete" Oscar-Gala.

Im Forum Humanwissenschaften beschreibt Marianne Leuzinger-Bohleber den derzeitigen Dialog zwischen Psychoanalyse und Neurowissenschaften. Und Nico Stehr erzählt, wie John Maynard Keynes während der Weltwirtschaftskrise vergebens versuchte , den deutschen Kanzler Heinrich Brüning von den Vorzügen seiner Ideen zu überzeugen.

Besprochen werden eine Inszenierung von Dea Lohers "Leviathan" im Schauspiel Frankfurt und Bücher, darunter eine Biografie des Bankiers Hermann Josef Abs und ein Band zu diversen Ansätzen der Gedächtnisforschung. (siehe hierzu unsere Bücherschau ab 14 Uhr)

NZZ, 01.03.2005

Ach, fangen wir doch einfach mit dem ersten Absatz einer Erzählung von Elsa Morante an, die heute in der NZZ vorabgedruckt wird (leider nicht online). Er ist so schön! "Ich war ein Knabe von dreizehn Jahren, Schüler des Gymnasiums. Unter all meinen weder schönen noch hässlichen Mitschülern gab es einen, der wunderschön war. Er war zu aufsässig und zu faul, um Klassenbester zu sein; aber alle wussten, die geringste Anstrengung hätte genügt, und er wäre es geworden. Keiner von uns besaß eine so klare und glückliche Intelligenz wie er. Der Klassenbeste war ich; ich hatte ein poetisches Wesen, und wenn ich an den Gefährten dachte, nannte ich ihn unwillkürlich Erzengel..." Morantes Erzählungen erscheinen demnächst bei Wagenbach.

Weitere Artikel: Joachim Güntner hat der Berliner Tagung "Politik der Schuld" zugehört, in der Forscher wie Ulrich Bielefeld oder Jan Reemtsma das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Vergangenheit erkundeten. Maike Albath schreibt zum Tod des Lyrikers Mario Luzi. Einige wichtige Besprechungen sind Büchern gewidmet: Dorothea Dieckmann schreibt über Oek de Jongs Roman "In der äußersten Finsternis". Jürgen Brôcan liest die neuesten Gedichte von Rosmarie Waldrop ("Ein Schlüssel zur Sprache Amerikas"). Besprochen werden außerdem Rainer Malkowskis letzter Gedichtband, eine Ausstellung zur Ästhetik der Alltagskultur in Bremen, eine Ausstellung über den Fotografen Robert Capa in Berlin und ein Ballettabend unter der Leitung von Martin Schläpfer in Mainz.

FAZ, 01.03.2005

Sieg des Methusalems, aber kein Komplott - so kommentiert Michael Althen die Oscar-Vergabe und zitiert den Gewinner Clint Eastwood: "Es laufen hier zwar eine Menge junger Typen herum, aber den Geldgebern sei gesagt: 'Vergesst nicht die älteren Herrschaften!' Die Senioren und Seniorinnen sind hier und immer noch bereit, ihr Bestes zu geben." Und dann noch höchstes Lob für Eastwood: "Nicht dass es diese Oscars noch wirklich dazu gebraucht hätte, aber sie bekräftigen, was mittlerweile jedem klar sein dürfte: dass Clint Eastwood zu den allergrößten Regisseuren des amerikanischen Kinos zählt, der nun auch zu jenen Größen wie Wilder, Lean und Spielberg aufgeschlossen hat, die mehr als einmal für die beste Regie ausgezeichnet wurden." (Hier eine englische Liste aller Gewinner.)

Und weiter: In der siebten Lektion im "Grundkurs Demografie" bricht Herwig Birg eine Lanze für die Methusalems und stellt fest: "Alternde Gesellschaften sind nicht automatisch weniger innovativ und produktiv als junge." Zumal die Jugend auch nicht mehr das sei, was sie mal war. Christian Geyer meditiert über eine von Julia Jentsch in einem Interview gestellte Frage: "Gegen was soll man heute sein?" In seiner Kolumne erzählt der Heinz Berggruen, wie er vom Dichter Paul Eluard mit Geld, das er nicht hatte, seinen ersten Picasso erwarb. Paul Ingendaay porträtiert die "echte Antiquität" Paco Ibanez. Aus Frankreich berichtet Jürg Altwegg, dass die Verleihung der Cesars - also der französischen Oscars - in diesem Jahr zum Triumph für den Autorenfilm, genauer gesagt für Abdellatif Kechiches "L'Esquive" geriet. Glossiert werden Joschka Fischers Redekünste in eigener Sache. Eine Abschiedsrede auf die Leuchttürme hält Edo Reents. Gemeldet wird, dass sich Rolf Hochhuth nun doch keineswegs für seine Verteidigung des Holocaust-Leugners David Irving zu entschuldigen gedenkt. Auf der Medienseite informiert Nina Rehfeld über die große Krise des öffentlichen US-Rundfunks PBS und ihre Folgen.

Aus Siena berichtet Dirk Schümer von der Wiedereröffnung der Schauräume des Palazzo Chigi-Saracini, aus Dresden Eleonore Büning vom Beginn der Strauss-Festtage, aus Mainz Wiebke Hüster von neuen und alten Choreografien des Mainzer Balletts. Ein Ausstellung Innsbrucker Architekten hat Oliver Elser besucht. In Hamburg gib es einen "Lear" und ein neues "Nicht-Stück" von Rene Pollesch, in Berlin einen "Troilus" an der Volksbühne, in Frankfurt eine Inszenierung von Dea Lohers "Leviathan". In Köln gaben die Chemical Brothers ein Konzert. Besprochen werden die Einspielung zweiter Haydn-Sinfonien des Freiburger Barockorchesters unter Rene Jacobs und die Gedichte von Gherasim Luca. (Dazu mehr in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr.)