Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.03.2005. In der FAZ kritisiert Hussain Al-Mozany die arabischen Intellektuellen, die über die Gewalt in der eigenen Kultur schweigen. Die NZZ ist ergriffen vom Gedichtband Thomas Klings. In der SZ erklärt eine Irakerin, warum sie sich vor den Amerikanern fürchtet. In der taz erklärt Caroline Fourest Tariq Ramadan zu einem islamistischen Fundamentalisten. Die FR beobachtet die Entstehung einer modernen ukrainischen Nation

TAZ, 02.03.2005

Caroline Fourest, die in einem Buch die Reden des islamischen Intellektuellen Tariq Ramadan analysiert hat, erklärt im Interview, warum sie den Mann für einen muslimischen Fundamentalisten hält: "Er hasst die liberalen Muslime. Er nennt sie 'Muslime ohne Islam'. Er lehrt den politischen Islam der "Muslimbrüder", das ist ein fundamentalistischer Islam. Wenn ein Muslim die individuellen Freiheiten, den Rationalismus und die Trennung von Religion und Politik verteidigt, sagt er: 'verwestlicht'."

Besprochen werden die Inszenierung von Theresia Walsers "Die Kriegsberichterstatterin" in München, Wolfgang Murnbergers Film "Silentium" und Claudius Seidls Buch "Schöne junge Welt".

Schließlich Tom.

FAZ, 02.03.2005

Nach dem jüngsten Selbstmordattentat im Irak mit über hundert Toten schreibt der irakische Autor Hussain Al-Mozany einen erbitterten Kommentar gegen die arabischen Intellektuellen, die diese Gewalt in der eigenen Kultur verdrängten: "Statt die brutale Gegenwart zu reflektieren, werden sie eher mit europäischen Dichterkollegen den nicht mehr ganz neuen Antiamerikanismus feiern und in Bierlaune Mahmud Darwischs Credo aus dem Gedicht 'Lob des langen Schattens' skandieren: 'Ich uriniere auf die Amerikaner.' Die islamischen Fundamentalisten dürfen weiter von ihrem paradiesischen Puff träumen."

Ellen Kohlhaaas schildert in einer interessanten Reportage die heroische Arbeit der Zagreber Oper, die mit wenig Subventionen auskommen muss: "Die Opernvorstellungen sind immerhin zu 85 Prozent ausgelastet, das Ballett gar hundertprozentig. Obwohl die Opernkarten im Verhältnis zu den Gehältern sehr teuer sind, leisten sich gerade die Älteren ihren regelmäßigen Opernabend, den sie sich oft von den Grundbedürfnissen absparen. Für sie gehört die Hochkultur noch selbstverständlich zum Leben - nicht zuletzt ein habsburgisches Erbe. Die mittlere Generation dagegen bröckelt immer mehr ab - eine Folge des materiellen Überlebenskampfs, aber auch des kommunistischen Regimes, dem speziell die Oper als vermeintlich feudalistisches Relikt verpönt war."

Weitere Artikel: Die Hausfrau und Mutter Gabriele Dietrich plädiert gegen Kinderkrippen und für die Mutter deutscher Bauart, wofür nach ihrer Auskunft auch jüngste Ergebnisse der Hirnforschung sprechen. In der Leitglosse gratuliert Jürgen Kaube dem Perlentaucher nochmals zur Förderung der Bundeskulturstiftung für seinen englischsprachigen Dienst signandsight.com, bezweifelt aber, dass die Inhalte deutscher Feuilletons zur internationalen Verbreitung taugen. Henning Ritter gratuliert der Übersetzerin Eva Hesse zum Achtzigsten. Renate Schostak meldet, dass das vor Wochen mit viel Hallo begrüßte angebliche Mozart-Porträt in der Berliner Gemäldegalerie in Wahrheit das Porträt eines Münchner Kaufmanns namens Steiner ist. Jürgen Kesting hat sich die Konzerte junger Geiger und Violoncellisten beim Deutschen Musikinstrumentenfonds angehört und streicht dessen Arbeit für die Nachwuchsförderung heraus. In seinem "Grundkurs Demografie" annonciert Herwig Birg neue Ungleichheiten durch die Schrumpfung der Bevölkerung, die etwa zu "Verteilungsstress zwischen den Generationen" führe.

Auf der Medienseite berichtet Michael Hanfeld,dass der Musiksender Viva von seinem neuen Besitzer MTV noch radikaler geschleift wird als bisher angenommen ("Von 290 Mitarbeitern verlieren bei Viva 270 ihren Job", zitiert er den Betriebsratsvorsitzenden). Und Katharina Iskandar meldet, dass die Deutsche Welle jetzt auch Fernsehen für die arabische Welt macht.

Die letzte Seite bringt einen Vorabdruck aus einem neuen Buch Andreas Thalmayrs: "Heraus mit der Sprache - Ein bisschen Deutsch für Deutsche, Österreicher, Schweizer und andere Aus- und Inländer". Und Christian Geyer stellt den Markenforscher Udo Koppelmann vor, der die Subtilitäten seines Fachs in der neuesten Nummer von Brandeins darlegt.

Besprochen werden Bernardo Bertoluccis Film "Shandurai und der Klavierspieler", Ibsens "Brand" in Stephane Braunschweigs Straßbruger Inszenierung und das neue Buch des Papstes.

SZ, 02.03.2005

Im Aufmacher beschreibt eine unbekannt bleiben wollende Irakerin ihr Leben in Bagdad, das vor allem von einem geprägt ist: Angst: "Ich bin eine irakische Frau, Mutter zweier Kinder, des 16-jährigen Samer und des 10-jährigen Ahmed, und die Angst begleitet mich inzwischen überall hin, sogar ins Bett, wo sie uns nachts alle überfällt, meine Söhne und mich, weil wir Angst davor haben, dass wir getrennt voneinander sterben, jeder in seinem Zimmer, wenn eine Rakete aus Versehen unser Haus trifft. Dann ist da die Angst, am Morgen aufzuwachen und zu erfahren, dass die beiden in der Nacht irgendwo anders gestorben sind. Oder die Angst, mitansehen zu müssen, wie Amerikaner unsere Tür eintreten und das ganze Haus auf den Kopf stellen, so wie sie es dauernd machen." (Angst vor dem "echten" irakischen Widerstand hat sie aber nicht).

"Die besten Gründe für die simple Kunst des Mordens scheint es gegenwärtig in Salzburg zu geben", freut sich Fritz Göttler über den neuen Brenner-Krimi "Silentium", der außerdem mit dem "besten Marlowe" aufwartet, "den man sich heute denken kann". Ein wenig gegen den Strich interpretiert Felix Berth den neuen Armutsbericht, nach dem "jede vierte alleinerziehende Mutter, jeder vierte alleinerziehende Vater" regelmäßig aufs Sozialamt und sein Kind "mit äußerst knappen Regelsätzen großziehen" muss: "Nicht Kinder gefährden also die Finanzen, sondern die Trennung der Eltern. Tim B. Müller berichtet von einer Berliner Tagung über Schuld und Politik.

Jutta Göricke hat bei der Linzer Ausstellung "Just do it" über die Macht der Marken erfahren, mit welch fiesen Tricks sich Unternehmen gegen subersive Angriffe verteidigen: "Wenn die Spaßguerilla Lachsalven verschießt, lacht immer öfter das Imperium zurück und verwurstet die Ideen der Subkultur." Ralf hertel gratuliert der Übersetzerin Eva Hesse zum achtzigsten Geburtstag.

Auf der Medienseite geißelt Heribert Prantl die Novellierung des Urheberrechts (hier die Entwürfe des Bundesjustizministeriums): "Es wird zwar künftig noch viel mehr kopiert, gescannt, gebrannt oder sonst vervielfältigt werden als heute - aber die Urheber werden dafür noch weniger erhalten als heute. Stattdessen werden die Hersteller solcher Geräte gut verdienen und die Verwertungsgesellschaften, die die Interessen der Kreativen vertreten, werden mit dem Ofenrohr ins Gebirge schauen.

Besprochen werden zwei neue Inszenierungen von George Feydeau und Tennessee Williams am Deutschen Theater und neue Platten, etwa eine von Ian Bostridge und Mitsuko Uchida modernisierte "Schöne Müllerin", eine historische "Elektra mit Inge Borkh, eine Aufnahme von Monteverdis Marienvesper unter Rinaldo Alessandrini und ein offenbar sensationelles Album des Jazz-Trios Wollny/Kruse/Schäfer ("So was Spannendes, Humorvolles war seit der Berliner Band Der rote Bereich nicht zu hören!)".

Bücher werden natürlich auch rezensiert, darunter Eva Menasses Roman "Vienna" und eine neue Werkausgabe von Franziska von Reventlow (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

NZZ, 02.03.2005

Michael Braun liest "Auswertung der Flugdaten", den neuesten Gedichtband von Thomas Kling und zeigt sich ergriffen: "Am Anfang dieses faszinierenden Buches steht der große 'Gesang von der Bronchoskopie', ein ergreifender, an Todesahnungen rührender Gedichtzyklus, in dem das lyrische Subjekt seine Lage 'am rande der grube' reflektiert. Es sind Gedichte von der kühlen medizinischen Erkundung und Durchleuchtung des Körpers, Gedichte eines schwer Versehrten, der den für seine Dichtung typischen kulturarchäologischen Blick auf sich selbst richtet. Der Leib des lyrischen Subjekts erscheint nicht als bloß physisches Objekt der medizinischen Visite, sondern als Geschichtsmaterie, der Eingriff in den Körper firmiert als geologisches Experiment."

Weitere Artikel: Anlässlich einer Filmreihe, die zur Zeit in Zürich läuft, stellt Alexandra Stäheli einige jünger Filme vor, die sich mit dem Nahostkonflikt befassen. Marc Zitzmann erinnert an den Herzog von Saint-Simon, dessen 250. Geburtstag zu feiern ist. Stefan Jordan stellt das Lyrik-Kabinett München vor. Besprochen werden eine "Salome" von Richard Strauss in Dresden, ein Band von Johannes Paul II. über "Erinnerung und Identität" und Matthias J. Fritsch Studie über "Religiöse Toleranz im Zeitalter der Aufklärung" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 02.03.2005

Die orange Revolution in der Ukraine war ein erster Schritt zur Herausbildung einer modernen Nation, meinen Claudia und Uwe Dathe. Die "entscheidende Bedeutung" komme dabei "einem umfassenden Institutionenwandel zu, den Juschtschenkos Sieg ermöglichte". Denn "sein Sieg wurde, wenn auch unter dem Druck der Massen, so doch auf institutionellem Weg erkämpft. Juschtschenkos Ziel war nicht, Institutionen zu stürmen, sondern sie zu stärken. Abend für Abend erläuterte er der frierenden Menge die Aufgaben des Parlaments und der Gerichte, unterstrich die Bedeutung dieser Institutionen für die politische Umgestaltung des Landes und kanalisierte so die politische Energie seiner Anhänger. Indem die Ukrainer erlebten, dass die Institutionen, die fast 14 Jahre dem Machterhalt einer politischen Clique dienten, grundlegende Änderungen herbeiführen können, begannen viele, seine Modernisierungsideen zu akzeptieren. Das wurde schon am 26. Dezember deutlich, als nicht nur Heerscharen von ausländischen Wahlbeobachtern ins Land kamen, sondern auch Zehntausende Ukrainer in Wahlkommissionen mitarbeiteten und die Stimmenauszählung kontrollierten."

Weitere Artikel: Thomas Meyer war bei einer Tagung des Hamburger Instituts für Sozialforschung und des Deutschen Historischen Museums über die "Politik der Schuld", die ihm den Verfall akademischer Sitten in Deutschland vorführte: "Der erste Redner, der polnische Journalist Adam Krzeminski, wurde nicht einmal vorgestellt. Da war es nur konsequent, wenn er am zweiten Tag mehrfach als 'Herr Kwasniewski' angesprochen wurde - der aber ist polnischer Staatspräsident." In Times Mager fragt sich Hilal Sezgin, warum der "Gedanke des Kaschierens, der hierzulande jede Garderobe über Konfektionsgröße 38 beherrscht, der Engländerin völlig fremd" ist. Besprochen werden eine Ausstellung mit Werken Willem de Koonings im Kunstforum Wien und Bücher, darunter Gerhard Roths Roman "Das Labyrinth" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).