Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.04.2005. In der FAZ enthüllt Giorgio Agamben die Nackten der Vanessa Beecroft als angezogen. In der FR geht Peter Fuchs das Problem der Leidenschaft mit Verve an. In der SZ fürchtet die Autorin Vera Tokombajewa einen Krieg der Clans in Kirgisien.

FR, 12.04.2005

In einem Essay denkt der Systemtheoretiker Peter Fuchs darüber nach, warum "Passion verdächtig" und "Leidenschaft unmodern" geworden ist. "Die aus den Bäuchen leben, sind längst nicht mehr so recht ernst zu nehmen oder entsprechen bestenfalls den sozial zirkulierenden Beschreibungen von Künstlern, denen etwas entgangen ist: der ironische Realismus, der der deutlichste Effekt der Postmoderne zu sein scheint. Leidenschaften sind komisch geworden, sie werden, wenn man sie mitteilt, formuliert als gedämpfter Enthusiasmus. In Leidenschaft entbrennen, vor Leidenschaft vergehen, alles Sehnen, Zittern, Klagen und Schreien, das Heulen und das Zähneknirschen, die Wollust und der Rest der sieben Todsünden, kurz: das Frenetisch-Panische in all seinen Erscheinungsformen... Wir haben für dergleichen (leicht amüsiert) allenfalls eine limited generosity - in Salzburg bei Jedermann. Im Alltag würde es uns ganz einfach mächtig erschrecken und an der civilite dessen zweifeln lassen, der uns dergleichen anbietet." Fuchs empfiehlt, dieses Problem "mit Verve" anzugehen.

Besprochen werden die Uraufführung von Ulrich Hubs "Schlafzimmer von Alice" am Staatstheater Darmstadt, das er auch selbst inszenierte, das neue Album des kanadischen Songwriterduos Kate und Anna McGarrigle und Bücher, darunter eine Studie über die Geschichte von Pass und Kontrolle sowie ein Sammelband, der nach dem Gegenstand der Gender Studies fragt (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

NZZ, 12.04.2005

Andreas Breitenstein hat György Konrads Erinnerungen an die ungarische Nachkriegszeit "Sonnenfinsternis auf dem Berg" gelesen. Unwiderstehlich findet er den Charme von Konrads Paraderolle des "intelligenten Trottels", aber bei Breitenstein schwingt auch Skepsis mit: "Es mutet paradox an: Auf die Jahre der Unterdrückung blickt Konrad zurück als Utopie, die ihren Reiz aus der 'Intimität des Zusammengesperrtseins' bezog. Sein Ausnahmezustand - das war ein aufs Elementare zurückgeworfenes Dasein und die mit der Dissidenz zunehmende Entbindung vom Terror des Sozialen. Das war die Entdeckung der Langsamkeit und die Entfaltung der Kreativität, das Glück des Ehemannes und Vaters, der Genuss des Bohemiens und Schürzenjägers. Der Preis dafür lag darin, eine Unperson zu sein, 'ein Mensch, den es nicht gab, der nicht hätte existieren dürfen und der schon allein mit seiner Anwesenheit eine Norm verletzte'."

Angela Schader schreibt einen Nachruf auf die simbabwische Autorin Yvonne Vera. Des weiteren besprochen werden Heidi Fischers Basler Inszenierung des "Käthchens von Heilbronn" ("Da ist ein Schmelzen und Fließen, ein Schreien und Flüstern, das alle Herzkammern durchspült", seufzt Alfred Schlienger), die Ausstellung "Hermann Hesse und der Suhrkamp-Verlag" im Museum Hermann Hesse in Montagnola, eine Schau Schweizer Baukünstler im Architekturmuseum Basel, Peter Eötvös' Oper "Tri Sestri" in Bern, ein Schönberg-Konzert in der Zürcher Tonhalle und Bücher, darunter Karen Duves Märchenroman "Die entführte Prinzessin" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 12.04.2005

In der Kolumne Theorie und Technik untersucht Isolde Charim in Folge der Papstbeerdigung, ob die allgemeine Geständnisfreudigkeit vom Sex auf die Religion übergegangen ist. Mit Foucault gesprochen lasse sich das von zu beobachtende Phänomen auch anders fassen: Nach seiner Analyse galt das körperliche Begehren als unser innerster Kern, nun scheine es, als würde ihm das metaphysische Begehren den Rang ablaufen. "Früher war das Medium des Geständnisregimes im Wesentlichen die Kirche mit ihren über die Jahrhunderte ausgefeilten Beichtpraktiken. Später kam dann noch eine Reihe anderer Medien hinzu: medizinische, wissenschaftliche, literarische - in allererster Linie jedoch die Psychoanalyse. Heute jedoch haben wir die mediale Öffentlichkeit als privilegiertes Medium des Geständnisses, die Religion aber ist zu deren neuestem Inhalt geworden: Aus einem Medium des Geständnisses ist sie zu dessen 'obszönstem' Gegenstand geworden."

Weitere Artikel: Mark Terkessidis berichtet über die Landkarten, die Besucher in Israel und Palästina in die Hand gedrückt bekommen, deren Nutzwert allerdings beschränkt ist: Es geht darauf eher um Politik als um Orientierung. Und in seinem dritten Brief aus Bangladesch erzählt Jochen Neumeyer von einem Besuch beim Dalai Lama, "inklusive Schal-Attacke und Jim-Morrison-Ebenbilder".

Besprochen werden eine Ausstellung mit Porträts des Fotografen Cecil Beaton von Twiggy und Johnny Weissmuller über Camus und Warhol bis Marilyn Monroe und Mick Jagger im Kunstmuseum Wolfsburg. Beaton habe in seinem Aufnahmen Schönheit nicht nur dokumentiert, sondern die moderne Vorstellung von ihr mitgeschaffen. Außerdem das Deutschland-Wanderbuch von Harald Schmidts Gegenpart Manuel Andrack. (mehr dazu in unserer Bücherschau ab 14 Uhr)

Und hier Tom.

FAZ, 12.04.2005

Der Philosoph Giorgio Agamben höchstselbst schreibt über Vanessa Beecrofts schwarz-rot-gold-haarige Nackte in der Berliner Neuen Nationalgalerie. Sie seien aber gar nicht nackt, meint er, denn "laut dem Axiom, das die christliche Theologie des Kleides begründet, ist menschliche Nacktheit, wenn überhaupt, nur vorläufig und negativ möglich. Zum einen, weil im Eden der kreatürliche Körper sogleich von der göttlichen Gnade bekleidet wurde; zum anderen, weil dieser nach dem Fall in ein Kleid gehüllt ist, dessen Notwendigkeit die Taufe begründet; und schließlich, weil im Paradies die Seligen ein neues Glorienkleid erhalten werden, das nicht abgelegt werden kann."

Marta Kijowska erklärt, warum in Polen nach dem Tod Johannes Pauls II. aber auch des im letzten Jahr zu Grabe getragenen Nobelpreisträgers Czeslaw Milosz eine Epoche unweigerlich zu Ende gegangen ist, die Zeit nämlich, in der sich das polnische Nationalbewusstsein aus Literatur und Katholizismus speiste. "Es kann durchaus sein, dass die neuere polnische Geschichte ohne die Wahl Karol Wojtylas zum Oberhaupt der katholischen Kirche (1978) und ohne den Nobelpreis für Czeslaw Milosz 1980 ganz anders verlaufen wäre. Die Jahre davor waren eine Zeitspanne, die von Kampf und Entbehrungen gezeichnet war und in der mancher nationale Mythos zerstört und die Geduld der Polen auf eine harte Probe gestellt wurde. Für neue Erhebungen hätte ihre kollektive Kraft möglicherweise nicht gereicht. Doch diese zwei Ereignisse waren ein Signal, dass ihre beiden Identitätsquellen immer noch nicht versiegt waren."

Weitere Artikel: Über den Umweg der amerikanischen Ausgabe (Auszug), die im letzten Jahr erschien, entdeckt Dietmar Dath im Aufmacher Pascale Casanovas 1999 veröffentlichte Literaturtheorie "La republique mondiale des lettres", die den Fallen der gender und postcolonial studies durch eine Theorie der Weltliteratur entgehen möchte (hier einige Links zu Kritiken in englischsprachigen Zeitschriften). In der Leitglosse schreibt Christian Geyer über ein drastisches amerikanisches Urteil gegen einen E-Mail-Spammer, der nun neun Jahre im Gefängnis verbringen muss. Martin Otto plädiert für eine Fortsetzung der Grabpflege für den ehemaligen Berliner Oberbürgermeister Heinrich Sahm, die der Berlinern Senat wegen dessen Mitgliedschaft in der NSDAP einstellen will. Robert von Lucius stellt das von Daniel Libeskind gebaute Jüdische Museum von Kopenhagen (Bilder) vor. Michael Gassmann sieht die Katholische Kirche nach Forschungen von Theologen über deren Verhalten im Zweiten Weltkrieg als endgültig rehabilitiert an.

Auf der Medienseite berichtet Günter Krabbe vom Werbefilmfestival "Spotlight". Und Michael Hanfeld stellt die viel erwartete Serie "Desperate Housewives" vor, die jetzt auf Pro 7 läuft und deren Autor Marc Cherry von Nina Rehfeld porträtiert wird.

Auf der letzten Seite schreibt Andreas Rosenfelder über einen Workshop, in dem die Bundeszentrale für politische Bildung zusammen mit der Metro-Gruppe und Marktforschern die Zukunft des Supermarkts erkundeten. Andreas Rossmann schildert eine Kölner Lokalposse um ein Flügelauto von HA Schult, das nach seiner Renovierung nicht mehr auf den denkmalgeschützten Turm des Stadtmuseums gestellt werden soll. Und Michael Jeismann porträtiert die armenische Sopranistin Hasmik Papian.

Besprochen werden die Ausstellung "Begierde im Blick" in surrealistischer Fotografie in Hamburg und eine Ausstellung der Sammlung Senn-Foulds mit Werken von Courbet bis Matisse in Le Havre.

SZ, 12.04.2005

Wird die Revolution Kirgisien in die Demokratie führen? Vera Tokombajewa hat Zweifel. "Die meisten Kirgisen begreifen Politik vor allem als Möglichkeit, unterschiedliche Geschäftszweige zu kontrollieren. Wenn dem bisherigen Machthaber das größte Stück der Pirogge gehörte, dann droht nun eine Umverteilung. Anders ausgedrückt: Die Chancen, dass die Republik zum zweiten Mal auf dieselbe Harke tritt, sind groß." Anders als in der Ukraine gebe es in Kirgisien weder eine politische noch eine intellektuelle Elite und dann herrsche auch noch ein ideologisches Vakuum. "Es gab Slogans über Demokratie und Marktwirtschaft, mehr nicht. Nun könnten neue Ideen aufflackern - Liberalismus, Nationalismus, Religion. Schon heute würden kleine Führer gern ihre persönliche Herrschaft einrichten. Zudem besteht die Gefahr, dass eine neue, revanchistische Opposition aus ehemaligen 'Akajewisten' entsteht, die ihr Vermögen zurückgeben müssen oder das ersetzen, was sie schon verschleudert haben. In den vergangenen Wochen wurde nur zu deutlich, dass die neuen Machthaber weder ein konkretes Programm besitzen, noch Kompromissfähigkeit oder auch nur die Bereitschaft, die eigenen Ambitionen zugunsten einer konstruktiven Lösung aufzugeben. Nie war die kirgisische Gesellschaft einem Krieg der Clans so nah, einem Krieg um Land und Weiden, wie ihn die Stämme der Nomaden seit jeher geführt haben." (Hier ein hübscher Link aus dem Dagbladet mit Fotos der Autorin und der Revolution.)

In einem Interview gibt der Opernregisseur Peter Sellars Auskunft über seinen Blick auf Wagner, dessen "Tristan und Isolde" er heute an der Pariser Opera herausbringt: "Tristan war Waise, hatte kein Zuhause, wurde von niemandem berührt. Wenn man liebevoll auf ihn zugeht, weicht er zurück, weil seine Mutter ihn nie berührte. Er ist überall ein Fremder, der meint, er müsse allen Leuten mitteilen, dass er o.k. ist. Im zweiten Akt erklärt ihm Isolde, dass er nicht mehr allein ist, dass es 'Tristan UND Isolde' heißt, dass sie zusammen sterben können. Wir haben hier nicht den romantische Wagner, sondern den Wagner, der die harte Arbeit an einer Beziehung unter Erwachsenen darstellt."

Weitere Artikel: In einem ebenso engagiert wie detaillierten Artikel beschreibt der Schriftsteller Stephan Maus, wie er sich aus den Klauen der "PC-Doktoren" befreite, und plädiert für die Open-Source-Bewegung und Low Tech als einzige Rettung vor dem "Potemkinschen Gerätepark". Seine Lösung: NetBSD. Oliver G. Hamm zieht Halbzeitbilanz anlässlich der Ausstellung "Bewegtes Land" über die "größte Landschaftsbaustelle Europas" der IBA Fürst-Pückler-Land in einem ehemaligen Tagbaugebiet in der Niederlausitz. Jeanne Rubner plädiert dafür, dass sich Hochschulen ihre Studenten selbst aussuchen können. Ralf Berhorst resümiert eine Berliner Tagung zu Elias Canetti. Andrian Kreye porträtiert die amerikanische Drei-Frauen-Band Le Tigre, die derzeit durch Deutschland tourt. Stefan Koldehoff berichtet über die Absichten des Heckscher Museum auf Long Island, das Georg Grosz? Gemälde "Sonnenfinsternis" verkaufen will; ein anonymer Sammler hatte die unwiderstehliche Summe von 19 Millionen Dollar dafür geboten. Außerdem informiert er über die umstrittene Wiederaufstellung einer Breker-Statue in Wuppertal. In der "Zwischenzeit" gruselt sich Claus Heinrich Meyer über Tagebucheinträge einer "intellektuellen, distanzfähigen, beobachtenden Elite" in den letzten Berliner Kriegstagen. Und RJB informiert über den Fund von 1,8 Millionen Jahre alten Hominiden im georgischen Dmansi. Zu lesen ist schließlich ein kurzer Nachruf auf die aus Simbabwe stammende, im kanadischen Exil lebende Autorin Yvonne Vera.

Besprochen werden die Uraufführung von Katharina Schlenders neuem Stück "Rosige Zeiten" am Theater Erlangen, eine Ausstellung mit Collagen von Amelie von Wulffen am Pariser Centre Pompidou, ein Beethoven-Abend mit dem London Symphony Orchestra unter Leitung von John Eliot Gardener im Münchner Gasteig, und Bücher, darunter eine Biografie über Samuel Hahnemann, den Begründer der Homöopathie, eine Studie über den Wettstreit zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz, ein Buch des Autorenkollektivs "Fön", drei Publikationen zum türkischen Völkermord an den Armeniern nebst einem Band mit diesbezüglichen Dokumenten aus dem Archiv des Deutschen Auswärtigen Amts (siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr).