Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.05.2005. Die Welt berichtet über den Billigbuchmarkt in der Türkei, der vor allem nationalistische Schinken verbreitet. Die SZ singt eine Hymne auf das Münchner Allianzstadion. Die NZZ beklagt die Praxis sakraler Prostitution in Indien. Die FAZ berichtet über eine Falschmeldung der Gazeta Wyborcza.

SZ, 30.05.2005

Gottfried Knaap singt eine Hymne auf die Allianz Arena, die nicht nur den Münchner Norden schlagartig aufgewertet, sondern auch eine funktionale Verschandelung des Olympiastadions verhindert hat. "Es ist gespenstisch, wie schnell die Öffentlichkeit verdrängt, dass sie jahrelang auf einer vermeintlich fußballgerechten Absenkung des Olympiastadions in den Grundwassersee bestanden und alle Alternativgedanken wütend unterdrückt hat." Alex Rühle verbringt eine Nacht in einer Privatloge (der SZ?) und lässt die "stehende Druckwelle" auf sich wirken.

Joachim Kaiser hört die Münchner Philharmoniker unter Christian Thielemann ein Beethoven-Programm meistern, das trotz seiner Popularität niemals verschlissen daherkommt. "Im Andante, das ja eine wunderbar farbige, immer wieder mystisch-abgebremste, programmatische Vorbereitung des Finales darstellt - verwirrt eine tänzelnd-synkopische piu-mosso-Stelle. Was bedeutet dieser unerwartete Ausbruch kurz vor Schluss?"

Till Briegleb erfährt vom Philosophen und Arbeitsforscher Frithjof Bergmann, wie der sich die Welt der "Neuen Arbeit" vorstellt: Jeder werkelt nach Lust und Begabung in dezentralen Minifabriken, unabhängig von Großkonzernen (mehr in den ersten 60 Seiten seines Buches). Franziska Augstein erfährt auf einer Tagung mehr über die großartige geisteswissenschaftliche Gemengelage an der Göttinger Universität des 18. Jahrhunderts. Der Kreative Moritz Reichelt lehnt an seinem perfekten Tag flugs das Bundesverdienstkreuz ab. "Nicht von Köhler!"

Besprochen werden die Uraufführung von Stefan Kaegis "Mnemopark" in Basel, eine Ausstellung mit Arbeiten von John Baldessari im Museum Moderner Kunst in Wien, gegen Ende nur noch "verbrauchtes" Tanztheater von Reinhild Hoffmann, Isabel Mundry und Brice Pauset in Mannheim, und Bücher, darunter "Der beschädigte Wüstling", die Satiren, Lieder und Briefe des Grafen von Rochester John Wilmot, Pierre Bourdieus Traktat "Die männliche Herrschaft" sowie Alfred C. Mierzejewskis "realistisches" Porträt von "Ludwig Erhard" (mehr in unsererer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Welt, 30.05.2005

Vor einiger Zeit mischte der Beststeller "Metallsturm" den türkischen Buchmarkt auf. Darin muss sich die Türkei heldenhaft gegen eine amerikanische Besatzungsmacht behaupten. Das Buch war nationalistisch und billig, Esmahan Aykol fürchtet, dass sich hier ein neues Erfolgsmodell durchsetzt: "Die 304 Seiten 'Metallsturm' kosten umgerechnet rund drei Euro. In dieser Höhe liegen auch die Preise für die neuen Ausgaben von Adolf Hitlers 'Mein Kampf', der daraufhin prompt ebenfalls zum Verkaufsschlager wurde. Und als Antwort auf den 'Metallsturm' gibt es schon einen neuen Bestseller zum Schnäppchenpreis: 'Amerika gehört uns - der Schnurrbart-Wirbelsturm'. Ebenfalls von einem Autorenduo verfaßt, erfüllt der Roman Erdogan Ekmekcis und Adem Özyols die Erwartungen aller Flügel der Nationalisten. Denn diesmal erobern die Türken die USA. Ein Außerirdischer verhilft einem türkischen 'Idealisten', einem Anhänger der nationalistischen Bewegung, zu einem Apparat, mit dessen Hilfe die Eroberung leichtes Spiel ist. Das Weiße Haus wird in den Farben der türkischen Flagge rot-weiß gestrichen, im Oval Office finden orientalische Gelage statt, Madonna übt sich in Bauchtanz - und der Freiheitsstatue wird ein Schnurrbart verpasst."

TAZ, 30.05.2005

Gabriele Goettle unterhält sich für ihre Reportage mit einer Pflegerin für Demenzkranke, die mit ihren Patienten in der Vergangenheit lebt. "'Sie haben, glaube ich, doch vor fünf Wochen hier noch gesteppt, Irmchen, zum Radetzkymarsch?' Irmchen schnellt von ihrem Sessel hoch, umklammert ihre Taschentücher, summt und beginnt ihre Füße in den goldenen Schuhen im typischen Stepptanzschritt mühelos zu bewegen, wirkt konzentriert und immer lockerer."

Oliver Reese hat mit "Goebbels" am Deutschen Theater die Tagebücher des Propagandaministers als Psychogramm eines faschistischen Menschen inszeniert. Dietmar Kammerer klatscht Beifall ob so viel Authentizität. "Reese hat seine Figur weniger analysiert als zerlegt und lässt Goebbels nicht von einem, sondern von gleich vier Darstellern auf die Bühne bringen. Der Effekt ist verblüffend. Der oberste Propagandist sagt so oft 'ich, ich, ich' in seinen Tagebüchern, dass Reese vermutlich nicht umhin konnte, ihn beim Wort zu nehmen und als mehrere Ichs zu inszenieren: einen selbstmitleidigen Zweifler, einen sich selbst radikalisierenden Fanatiker, einen zynischen Machtmenschen mit Rachegelüsten und einen, der bis zuletzt den 'Führer' verehrt, dessen Kult er selbst geschaffen hat."

Rot-Grün war ein Generationenprojekt, Schwarz-Gelb ist es auch, meint Patrik Schwarz in einem Debattenbeitrag. "Schwarz-Gelb wird dieses Land in seiner ganzen Breite verändern, weil an Merkel und Westerwelle eine Generation von Frühvierzigern bis Endfünfzigern aus bürgerlichen Milieus hängt, für die der Machtwechsel die letzte biografische Chance ist, in der Berliner Republik Spuren zu hinterlassen. Am deutlichsten hat das bisher FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher benannt, der damit zugleich seinen Anspruch begründete, der Herold dieser neuen Zeit zu sein."

Weiteres: Jochen Schmidt erzählt von seiner Beziehungskrise mit Berlin. In der zweiten taz läuft der Wahlkampf auf Hochtouren. Susanne Lang lässt sich im Interview von Schauspieler Peter Lohmeyer und Regisseur Lars Jessen erklären, warum sie die "Müslis" veräppeln und dennoch im Herbst die Grünen wählen. Strafverteidiger Jony Eisenberg fordert Rücktritte statt Neuwahlen. Peter Unfried denkt im ersten Teil seines Wahlkampf-Tagebuchs über Joschkas Medienkarriere als "Fatboy" nach. Albert Hefele imaginiert mal wieder ein Gespräch zwischen Politikerin Angela Merkel und ihrem Haarbändiger Udo Walz.

Und Tom.

FR, 30.05.2005

Aufgeklärt verlässt Frank Keil eine Schau in der Lübecker Katharinenkriche, die sich mit der nun 50-jährigen Wirkungsgeschichte Thomas Manns beschäftigt. "Endgültig erhellend wird der mediale Blick zurück, ist man in der Krypta angelangt, wo noch einmal Heinrich Breloers Doku-Epos 'Die Manns' in voller Länge gezeigt wird. Die Besucher sitzen eng hintereinander gestaffelt auf harten Kirchenbänken, dämmrig sickert das Licht durch die Kirchenfenster, während Golo Mann sinniert und Veronika Ferres trinkt, und man merkt jetzt fern von heimischem Fernseher und vertrauter Bücherwand, wie sehr sich Breloer hinter dem Rücken von Elisabeth Mann-Borgese fortwährend verbeugt, wobei - Brrrr! - einem aus dem Kirchboden die feuchte Kälte in die Beine zieht."

Thomas Medicus hat bei der Abschlussveranstaltung des "Kulturjahres der Zehn" zur EU-Erweiterung jähe Gefühlstemperaturstürze erlebt, nur die Erwähnung der USA fehlt ihm, wie er uns in einer Times mager kundtut. Der Medienteil: Religion erlebt keine Renaissance, sondern ist in der Presse nur gerade stark vertreten, erfährt Joachim Göres in einer Diskussionsrunde mit Journalisten auf dem gerade zu Ende gegangenen Evangelischen Kirchentag. Und Vera Int-Veen versichert Jan Freitag vor der zweitausendsten Folge von "Vera am Mittag": "Es geht zurück zum gepflegten Talk."

Besprechungen widmen sich der Uraufführung von Oliver Reeses "Goebbels" am Deutschen Theater Berlin ("Was sich als Enthüllung ausgibt, ist wieder nur der, zumal von Goebbels selbst zensierte, Blick durchs Schlüsselloch", moniert Nikolaus Merck) und dem Musik-Theater von Isabel Mundry, Brice Pauset und Reinhild Hoffmann in Mannheim (Hans-Jürgen Linke preist die von dem Trio praktizierte "Kunst des Weglassens").

NZZ, 30.05.2005

Brigitte Voykowitsch berichtet vom "Schauplatz Indien" über indische Tempeldienerinnen, genannt Jonginis, in Andhra Pradesh. "Um Yellamma gnädig zu stimmen, weihen Eltern in den Dörfern von Andhra Pradesh bis heute ihre Töchter zu Joginis, wenn sie sich Söhne wünschen oder Probleme in der Familie auftreten. Diese 'Dienerinnen der Göttin' waren einst geachtet, betont Narsamma, eine ältere Jogini aus dem gleichen Dorf. Heute dagegen arbeiteten die meisten 'als gewöhnliche Prostituierte'. Gemäß Expertinnen dürfte dies tatsächlich zutreffen. Eine Jogini darf nicht heiraten und muss jedem Mann, der mit ihr schlafen möchte, zur Verfügung stehen. 40.000 Joginis soll es derzeit in Andhra Pradesh geben, obwohl die Praxis seit 1988 gesetzlich verboten ist."

Der Schweizer Schriftsteller Hugo Loetscher unterstreicht die Bedeutung des New Europe College in Bukarest, das sein zehnjähriges Bestehen feiert. "Mit den Ausbildungsmöglichkeiten des New Europe College ergibt sich ein Mentalitätswechsel und eine Bewusstseins-Aufwertung, die für die junge Demokratie Rumäniens und auch der südosteuropäischen Region von großer Aktualität sind."

Besprochen werden die Ausstellung "Albert Einstein - Ingenieur des Universums" im Berliner Kronprinzenpalais, die auf Oscar Wildes "Lady Windermeres Fächer" basierende Filmkomödie "A Good Woman" des Regisseurs Mike Barker, ein Konzert der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen mit Dirigent Trevor Pinnock und Pianist Grigory Sokolov in der Tonhalle Zürich sowie Jorge Edwards' Roman "Der Ursprung der Welt" (Leseprobe). (Siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 30.05.2005

Auf der Medienseite berichtet Olaf Sundermeyer über einen Zeitungsskandal in Polen. Ausgerechnet die renommierte Gazeta Wyborcza ist einer falschen Geschichte über Korruption im Warschauer Hauptkommando der Polizei aufgesessen. "Der Artikel erschien ohne Quellenangabe - und ohne Stellungnahme der beschuldigten Behörde. Der stellvertretende Chefredakteur Piotr Stasinski sagte dazu: 'Wenn wir unsere Quellen beim Hauptkommando gegengeprüft hätten, wären dort alle alarmiert gewesen.' Dieses Versäumnis entwickelte sich im Lauf der Woche zur eigentlichen Affäre, weil sich die Geschichte als Ente entpuppte. 'Damit hat die Redaktion der Gazeta Wyborcza einen schweren handwerklichen Fehler gemacht', sagt der Journalist Bronislaw Wildstein, der die sogenannte 'Wildsteinliste' mit Namen von Personen, die Kontakt zum polnischen Inlandsgeheimdienst gehabt haben sollen, öffentlich gemacht hat." Nachdem die Falschmeldung als solche bekannt wurde, erklärte die Gazeta das ganze kurzerhand zur "Intrige im Polizeiapparat, sie sei von Informanten bewusst benutzt worden, um künstlich einen Skandal zu provozieren: 'Wir sind die Opfer.'"

Weitere Artikel: Die Münchner Allianz Arena ist zwar "keine Revolution der Sportarchitektur", wie es das alte Olympiastadion war, findet Niklas Maak, aber ganz okay: "Das effektvolle Fassadenkleid ist für das 21. Jahrhundert, was die Lederhose für die Vergangenheit war: ein einprägsames Bild für 'Bayrishness' und 'Munification'." Gina Thomas erklärt, warum die Briten keine Beutekunst an eine jüdische Familie zurückgeben: Sie fürchten einen Präzedenzfall, der sie eines Tages die Parthenon-Skulpturen (Elgin Marbles) kosten könnte. Andreas Platthaus schildert Eindrücke vom Kirchentag. Regina Mönch berichtet, dass Marcus Herold, der Betreiber des Berliner Tränenpalastes, Insolvenz anmelden musste, weil er die hohe Miete in Mitte nicht bezahlen kann. Matthias Grünzig stellt das "vorzüglich restaurierte" Lausitzer Schloss Rammenau vor. Andreas Rossmann schreibt zum Hundertsten des Kunstmäzens und Übersetzers Albert Schulze Vellinghausen. Eberhard Rathgeb hat einer Vorlesung über "Grundlagen der Ingenieurbiologie" zugehört. Und Marlis Prinzing berichtet über das fünftägige "Fest der Wissenschaften und der Künste" in der Schweiz.

Auf der letzten Seite porträtiert Alexandra Kemmerer die Soziologin Myra Marx Ferree, die in Berlin einen Vortrag über "Religion und die Abtreibungsdebatte in Deutschland und den Vereinigten Staaten" hielt. Martina Kuhna schreibt über Suchdienste, die immer noch seit 1945 vermisste Deutsche suchen. Und Wolfgang Sandner erklärt, warum der Polar Music Prize nur ein "inoffizieller" Nobelpreis für Musik ist.

Besprochen werden Oliver Reeses "Goebbels" am Deutschen Theater Berlin, eine Musik-Tanztheater-Uraufführung nach Schiller in Mannheim, die Ausstellung "Ballnächte" mit Fotografien von Jakob Tuggener im Essener Museum Folkwang, Alex de la Iglesias Filmkomödie "Ein ferpektes Verbrechen" (der Titel lautet wirklich so) und Sachbücher.