Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.11.2005. Hauptthema heute ist Mike Newells Verfilmung des vierten Harry-Potter-Romans. Anspruchsvolle Unterhaltung auch für Erwachsene, findet die taz. Die NZZ ruft: Edelkitsch vom Feinsten! Die FAZ lobt Newells Mut zur Düsternis. Charmearm, stöhnt die Welt. In der FR erklärt Peter Fuchs, warum Integration kein besonders positiv besetzter Begriff ist - er riecht nach Arbeit. In der Welt erzählt der ukrainische Regisseur Andrij Zholdak, wie er aus Charkiw vertrieben wurde.

NZZ, 16.11.2005

Mit "unwiderstehlichem Fantasy-Bombast" hat sich Thomas Binotto von Mike Newells HP-Verfilmung "Harry Potter und der Feuerkelch" überwältigen lassen: "Edelkitsch, sicher, aber auch Retro-Eklektizismus vom Feinsten. Wenn wir anlässlich der Quidditch-Weltmeisterschaft endlich in den gigantischen Hexenkessel eingelassen werden, überläuft uns wohliges Schaudern, ein echtes."

Barbara Spengler-Axiopoulos erzählt, wie sich Trier mit seinem Geburtshaus von Karl Marx jetzt chinesischen Touristen andient: "An über 80 Ladentüren prangen rote Aufkleber, auf denen die Gäste in gelben chinesischen Schriftzeichen 'Herzlich willkommen' geheißen werden... Auf solche Bemühungen reagieren chinesische Medien wohlwollend. 'Der Marx-Faktor: Eine deutsche Stadt spricht chinesisch!', titelte kürzlich die in Hongkong erscheinende South China Morning Post. Die wichtigsten Kulturdenkmäler der Stadt sollen chinesisch beschriftet werden, ebenso die Straßennamen. Ein chinesischer Touristen- und Einkaufsführer ist in Vorbereitung."

Besprochen werden die "elegante kleine" Retrospektive zum Werk des spanischen Architekten Santiago Calatrava im New Yorker Metropolitan Museum und Bücher, darunter Ernst Pipers umfassende Studie über Alfred Rosenberg, James Salters Erzählungen "Letzte Nacht" und die neuen Geschichten von Goscinnys und Sempes "Kleinem Nick" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 16.11.2005

Eigentlich ganz zufrieden ist Dirk Knipphals mit Mike Newells ("Vier Hochzeiten und ein Todesfall") Verfilmung von "Harry Potter und der Feuerkelch". Im Gegensatz zu den bisherigen Teilen sei dieser, meint Knipphals, "pragmatischer, nicht so sehr an dem einen Guss, der künstlerischen Klammer interessiert, aber ebenso vom großen Ernst getragen, auch Erwachsene anspruchsvoll zu unterhalten."

Weiteres: Jan-Hendrik Wulf stellt beim Blättern durch politische Zeitschriften fest, dass Europa "statt auf die Gleichheit auf die Ungleichheit der Konkurrenzbedingungen setzt". Peter Böhm erzählt die Geschichte von Marion True, Kuratorin des Getty Museums in Los Angeles, die in Rom wegen des Ankaufs gestohlener Antiken vor Gericht steht. Der Fall gilt dem italienischen Gericht als "Präzedenzfall", eine Verurteilung scheint möglich. Jan Engelmann analysiert mit mäßiger Empathie den Abschied von Joschka Fischer, einst "Markenzeichen" seiner Partei, ins Privatleben.

Die Tagesthemenseiten beschäftigen sich mit dem UN-Weltgipfel zur Informationsgesellschaft. Tarik Ahmia schildert den Streit um die Kontrolle des Internets. Niels Boeing stellt die vom M.I.T. entwickelten 100-Dollar-Laptops vor.

Und hier Tom.

FR, 16.11.2005

In einem Essay zu den Krawallen in Paris buchstabiert der Neubrandenburger Soziologe Peter Fuchs den Begriff der Integration durch, der alles andere als ausschließlich "einleuchtend positiv" sei. "Integration heißt für alle Beteiligten vor allem: Reduktion von Freiheitsgraden. Integration ist keine Pottersche Zauberformel, keine Mühelosigkeit, bei der das Manna der Partizipation vom Himmel fällt. Sie ist Belastung, ist es für jeden und jede, dem sie angesonnen wird, sie ist eine Mühsal, über die die flotten Sprüche etwa von integrativen Kindergärten schlicht hinwegtäuschen. Sie ist Arbeit, und eben nicht Arbeit im Dienst der Freiheitserweiterung, sondern Arbeit im Blick auf die Restriktion der Freiheit aller Beteiligten. Integration ist tatsächlich ein Problem und nicht schon ein aus dem Zylinder herausgezaubertes Kaninchen als Lösung."

In einem selten geradlinigen Interview, das Daniel Kothenschulte mit den Brüdern Dardenne über ihren neuen Film "L'Enfant" führte, kritisiert Jean-Pierre Dardenne, dass in Frankreich derzeit nur die Stimme der Politiker, aber nie die der Betroffenen zu hören sei. In Times mager kommentiert Peter Michalzik die Entrüstung über den Plan, dass das NRW-Theaterfestival "Impulse" künftig nur zweijährlich stattfinden soll, als "lächerlich".

Besprochen werden Bücher, darunter das "rätselhafte Reisebuch" "Unterwegs nach Babadag" von Andrzej Stasiuk, die Glossen und Miniaturen "Anderer Leute Berufe" von Primo Levi und die Jugenderinnerungen der Literaturkritikerin Lorna Sage. In der Abteilung Politisches Buch geht es unter anderem um zwei Bücher zum Nahostkonflikt von Noam Chomsky und Alan C. Dershowitz und den zweiten Erinnerungsband von Helmut Kohl (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Welt, 16.11.2005

Matthias Heine lässt sich vom ukrainischen Theater-Regisseur Andrij Zholdak, dessen Stück "Medea in der Stadt" heute in Berlin Premiere hat, erzählen, was ihn nach Berlin gebracht hat: "Im September hat er nach zwei Jahren die Intendanz des Schewtschenko-Theaters im ostukrainischen Charkiw niedergelegt - keineswegs freiwillig, obwohl ihm die Politiker und gesteuerte Medien nun hinterherlügen, der ganze Krach sei nur PR für seine Arbeit im Westen gewesen, bei der er zehnmal mehr als in der Heimat verdiene. 'Einen Tag vor der offenen Probe zu meinem letzten Stück 'Romeo und Julia' haben sie mir gedroht: 'Du unterschreibst jetzt deine Kündigung, als ob du das freiwillig tust. Wenn du dich weigerst, schicken wir dir Untersuchungskommissionen ins Theater. Du bist vielleicht ein guter Regisseur, aber als Intendant hast du Gesetze gebrochen, deshalb können wir von dieser Seite Druck auf dich ausüben.' Das war alles sehr unangenehm und ziemlich hart.'"

"Diesen Film können Sie vergessen", schimpft Elmar Krekeler über Mike Newells "Harry Potter und der Feuerkelch": "Ein Knäuel Erinnerungsfäden blieb über, das Newell nun fast provisorisch zusammengebunden hat. Zu einem relativ charmearmen Pubertäts-Action-Erwachsenwerden-Zauberei-Kriegs-Fantasythriller, der als Nummernrevue daherkommt und ob der offensichtlichen Lücken selbst eingeweihte Potteristen manchmal vor arge Verständnisprobleme stellt. Gefühlt dauert der Film mindestens doppelt so lange wie tatsächlich."

Weiteres: Volker Tarnow schreibt zum 150. Geburtstag des "genialen" Dirigenten Arthur Nikisch. Sven Felix Kellerhoff spricht mit dem Historiker Norbert Haase über die künftige Gedenkstättenpolitik der Großen Koalition.

FAZ, 16.11.2005

Felicitas von Lovenberg ist schlicht begeistert von Mike Newells Verfilmung des vierten Harry-Potter-Romans, "Harry Potter und der Feuerkelch". "Mit weniger Umwegen und Abschweifungen als die Buchvorlage, aber mit ebenbürtigem Mut zur Düsternis erzählt der Film, wie Voldemort sich an Harry heranschleicht - und ihn schließlich zu fassen bekommt. Zwar muss Rowlings akribische Motiventwicklung auf der Leinwand notwendig zu kurz kommen. Ihre besondere Stärke hingegen, Figuren zwischen Gut und Böse, Hell und Dunkel schillern zu lassen, hat Newell glänzend auf die Unwägbarkeiten der Pubertät übertragen; die Charaktere werden launischer, unberechenbarer, geheimniskrämerisch."

Detlef Felken, Cheflektor des Beck Verlags, erklärt im Interview, warum er Luciano Canforas Buch über "Demokratie. Geschichte einer Ideologie" nicht veröffentlichen will. Canfora, ein Historiker und Eurokommunist, hatte es für die Reihe "Europa bauen" geschrieben, die Beck zusammen mit vier anderen europäischen Verlagen herausgibt. Gestört habe ihn an dem Buch Canforas "Umgang mit historischen Fakten", erklärt Felken. "Canfora spricht etwa davon, dass es ein Mythos sei, dass mit dem Hitler-Stalin-Pakt die Teilung Polens vorbereitet worden ist. Aber er erwähnt das geheime Zusatzprotokoll zu diesem Vertrag nicht, das der Forschung seit Jahrzehnten bekannt ist. Auch Katyn, wo im Gefolge des Paktes 4400 polnische Offiziere von der Roten Armee liquidiert wurden, passt nicht in sein Geschichtsbild ... Und schließlich ist seine Aussage, die Adenauer-Regierung stehe für eine 'Politik des Revanchismus, wenn nicht des unverhüllten Nazismus', bestenfalls seine Privatmeinung. Die wissenschaftlichen Standards unseres Hauses und der gesamten Reihe müssen gewahrt werden. Adenauer war kein Nazi."

In einem danebenstehenden Bericht zitiert Dirk Schümer ausführlich die Reaktionen der italienischen Presse, des italienischen Verlegers und Canforas selbst, die allesamt Zensur schreien. Schümer schließt seinen Bericht mit den Worten: "Der Titel der Buchreihe sollte von nun an wohl eher mit einem Fragezeichen versehen werden. Denn es ist fraglich, ob sich auf deutschen Sonderwegen tatsächlich 'Europa bauen' lässt."

Weitere Artikel: Michael Gassmann freut sich über ein "energisches Plädoyer" von Bischof Huber für "Erhalt und Nutzung der Kirchengebäude und sogar ihrer Ruinen". Mark Siemons beobachtet wohlwollend, wie Rentner im Pekinger Shuangxiu-Park unter Absingen von Liedern wie "Unser Vaterland China lieben" graziöse gymnastische Übungen vollführen. Andreas Rossmann berichtet über eine Matinee in Düsseldorf für den verstorbenen Dichter Thomas Kling. WWS. schreibt zum Tod des Komponisten Jenö Takacs. Walter Hinck schreibt zum Tod der Schriftstellerin und Verlegerin Diana Kempff.

Auf der Medienseite berichtet Jürg Altwegg, dass die französische Regierung von der ausländischen Berichterstattung über die Randale in den Vorstädten erstaunt ist. Und Reinhard Müller informiert uns über ein Urteil des BGH, wonach Berichte über Verkehrsverstöße von Ernst August von Hannover erlaubt sind. Auf der letzten Seite porträtiert Malte Herwig die Schildkröte Harriet, die 1830 auf den Galapagos-Inseln geboren und fünf Jahre später von Charles Darwin nach England entführt wurde. Heute lebt sie in einem australischen Zoo. Oliver Tolmein erklärt, wie die Schweizer Sterbehelfer von Dignitas die deutsche Debatte verändern. Und Martin Otto plädiert dafür, den Platz vor dem neuen Hauptbahnhof in Berlin Washingtonplatz zu nennen.

Besprochen werden eine "Zauberflöte" am Moskauer Bolschoi Theater, eine Jeremy-Deller-Werkschau im Münchner Kunstverein und ein Konzert der "Ton Steine Scherben Family" in Köln.

SZ, 16.11.2005

Zu lesen ist die leicht gekürzte Fassung der Laudatio von Thomas Steinfeld auf Karl Heinz Bohrer, der in diesem Jahr den Großen Literaturpreis der Bayerischen Akademie zugesprochen bekam. "Wenn es etwas gibt, das Karl Heinz Bohrer immer wieder provozieren kann, so dass er auszieht, um plötzlich, und das heißt in der Regel: nach monatelanger Vorbereitung, mit einem dreifach gehärteten Essay ins Feld zu ziehen, so ist es der triviale Gemeinsinn in allen Varianten, und vorzugsweise in der Gestalt des juste milieu. Es sind die Mainzelmännchen des intellektuellen Betriebs, der landläufige Realismus, die landläufige Skepsis, die landläufige Bereitschaft zu Verharmlosung. 'Untote', schimpft dann Karl Heinz Bohrer."

Weiteres: Jürgen Schmieder mahnt angesichts der Pläne der neuen Bundesregierung, "gewaltverherrlichende Kulturgüter" zu verbieten, zur Vorsicht: "Sonst müsste man auch das Fußballspielen verbieten. Eine andere Studie besagte nämlich schon vor Jahren, dass Hobbyfußballer nach einem Spiel besonders aggressiv seien." Hans Kratzer informiert über einen Streit über den bayrischen Dialekt, der angeblich die "Sprachkompetenz bremsen" soll. Alexander Menden resümiert die "Urban Age"-Konferenz in der Londoner City Hall. Und Sonja Zekri fragt sich, wer Sexfilme auf "butterkeksgroßen" Displays sehen will, mit der die Pornoindustrie jetzt Netz-Handys und Video-iPods beschickt.

Auf der Schallplattenseite porträtiert Franz Dobler den Punk-Musiker Jon Langford, der seit 25 Jahren seine Obsessionen "ungebremst" auslebe. Besprochen werden CDs des Jazz-Labels ACT, Board of Canada, Jeb Loy Nichols, Nils Landgren & Joe Sample, The Darkness, und in der Kolumne "Das dreckige Dutzend" geht es unter anderem um neue Alben von Madonna und Robbie Williams sowie eine "Best-of-Schwemme" mit Dire Straits, Knef und Clapton.

Besprochen werden außerdem Mike Newells Verfilmung von "Harry Potter und der Feuerkelch", die Ausstellung "Film - Ist und Als-Ob in der Kunst", mit der sich der Direktor der Kunsthalle Baden-Baden Matthias Winzen in eine Professur verabschiedet, das erste Konzert der Berliner Philharmoniker unter Simon Rattle in China nach 26 Jahren, eine Inszenierung von Arnolt Bronnens "Geburt der Jugend" am Theater Bremen und Bücher, darunter der Roman "Hangover Square" von Patrick Hamilton (hier eine Leseprobe), eine neue Rowohlt-Monografie über Martin Heidegger sowie Erzählungen und autobiografische Prosa von Anton Matthias Sprickmann (siehe hierzu unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).