Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.12.2005. Die SZ trägt die Eigenheimzulage zu Grabe. In der NZZ fürchtet Julian Nida-Rümelin, dass weder Ein- noch Wittgenstein im heutigen Wissenschaftssystem noch eine Chance hätten. In der Welt erklärt Heinrich August Winkler, warum Europa westorientiert und die Türkei (noch?) nicht europäisch ist. Die FR berichtet über über den Wettstreit der Familien Eczasibasi und Sabanci um den inoffiziellen Titel des großzügigsten Kunstsponsors in Istanbul. Und die taz erklärt, warum Max Reinhardt bis heute ein Vorbild sein sollte.

TAZ, 28.12.2005

Esther Slevogt erinnert an Max Reinhardt, der in Berlin nicht nur inszeniert, sondern auch Theater gebaut hat, in die das Volk in Scharen strömte. Gerade deshalb blieb er umstritten. "Im Anti-Reinhardt-Ressentiment spiegelt sich von Anfang an der diskret-totalitäre Charme deutscher Kunstreligionen, aber auch die Tatsache wider, dass die deutsche Theatertradition höfisch, dass Theater als Kunstform ursprünglich für das Volk nicht vorgesehen war. Was bürgerlich an ihm war, hatte das Bildungsbürgertum beigesteuert, das vom Theater vor allem Vermittlung von Werten und Bildungsinhalten verlangte. Reinhardt hat damit ziemlich aufgeräumt und das Theater als Kunstform demokratisiert. Hat den Regisseur als selbstbestimmten Verwirklicher erfunden, sozusagen als Schmied des eigenen Glücks, von dem das Bürgertum seit der Aufklärung eigentlich träumte. Ein Glück, das allerdings nie mehr als reines Theaterglück sein wollte."

Weiteres: In seiner Jazzkolumne stellt Christian Broecking eine junge Szene vor, die wieder "Lust auf freie Experimente" hat, darunter den Pianisten Tyshawn Sorey und den Saxofonisten Peter Brötzmann. Ursula Wöll bespricht eine Ausstellung im Ludwig Museum Koblenz, in der Werke der iranischen Künstlerinnenvereinigung DENA und ihrer Mitbegründerin Farah Ossouli gezeigt werden. In der zweiten taz sinniert Kerno Verseck über die zweite Runde der Aliensuche SETI@home (hier kann man mitmachen).

Und hier Tom.

FR, 28.12.2005

Elke Buhr berichtet über den Wettstreit der Istanbuler Familien Eczasibasi und Sabanci um den inoffiziellen Titel des großzügigsten Kunstsponsors. Die Nichte des Unternehmers Sakip Sabanci hat gerade die Ausstellung "Picasso in Istanbul" organisiert, im nächsten Jahr zeigt das Sabanci-Museum dann Rodin. "Nicht der Staat, sondern Privatleute sind es, die den aktuellen, westlich orientierten kulturellen Aufbruch in Istanbul tragen. Die Istanbul-Biennale beispielsweise, deren jüngste Ausgabe in diesem Sommer international große Aufmerksamkeit fand, wird von einem Mitglied der Pharmazie-Hersteller-Familie Eczasibasi finanziert, genauso wie das Museum Istanbul Modern, das vor einem Jahr in aufwendig umgebauten Lagerhallen am Hafen eröffnete. Die Familien Ezacibasi und Sabanci finanzieren Krankenhäuser und Schulen, die Sabanci-Familie sogar eine ganze Universität."

Der ehemalige DDR-Bürgerrechtler Wolfgang Templin hat die Ukraine besucht, die im Frühjahr ein neues Parlament wählen wird. Das politische Klima hat sich gewaltig verändert: "Es gibt mittlerweile eine relativ freie Presse, öffentliche Diskussionen und Auseinandersetzungen, ein Selbstbewusstsein der Menschen, dass ihnen nicht mehr zu nehmen ist. Es wird noch geraume Zeit brauchen, die postsowjetische Mentalität in großen Teilen des Staatsapparates zu überwinden und die Korruption wirksam zu bekämpfen, aber es werden nicht mehr rivalisierende Cliquen sein, die allein über das Schicksal des Landes entscheiden."

Weitere Artikel: Zu lesen ist ein Interview mit dem Klangregisseur Norbert Ommer, der am Frankfurter Schauspiel auch die Uraufführung von Heiner Goebbels' "Schwarz auf Weiß" begleiten wird. In Times mager kommentiert Christian Thomas eine "brachiale" Äußerung des neuen Kulturstaatsministers Bernd Neumann: Im Januarheft der Zeitschrift Politik und Kultur hatte Neumann gesagt, "dass in manchen Kommunen die Kultur als Steinbruch für finanzielle Konsolidierung genutzt" werde. In Pars pro toto stellt Rudolf Speth die jüngsten Ausgaben der Zeitschriften Vorgänge und Archiv vor.

Besprochen werden ein "Sommernachtsstraum" am Düsseldorfer Schauspielhaus in der Inszenierung von Michael Simon und Bücher, darunter Ilse Aichingers Prosaband "Unglaubwürdige Reisen", der Italien-Roman "Selina oder Das andere Leben" von Walter Kappacher, Zeruya Shalevs Roman "Späte Familie", der Roman "Wir bleiben in der Nähe" von Tilman Rammstedt (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Welt, 28.12.2005

Die Welt druckt einen Vortrag Heinrich August Winklers, der ein westorientiertes Europa will und der Türkei die westliche Orientierung noch nicht glaubt: "Die hartnäckige Leugnung des Völkermordes an den Armeniern ist mit der politischen Kultur des Westens nicht zu vereinbaren. Die Europäische Kommission und der Europäische Rat, also die Regierungen der Mitgliedstaaten, haben diesen Punkt (anders als viele nationale Parlamente und das Europäische Parlament) bis heute systematisch ausgeblendet. In den Beitrittsverhandlungen wird der Umgang mit dem Genozid an den Armeniern zur Sprache kommen - müssen."

Weitere Artikel: Torsten Krauel referiert amerikanische Reaktionen auf Steven Spielbergs "Munich"-Film. Michael Pilz behauptet, dass "im Jahr 2005 Reggae den HipHop als Weltmusik einer rundum globalisierten Kultur ablöste".

NZZ, 28.12.2005

Hätte ein heutiger Einstein eine Chance, seine Thesen in einem wissenschaftlichen Journal zu publizieren? Könnte ein heutiger Wittgenstein einen Lehrstuhl für Philosophie erhalten - ohne abgeschlossenes Studium? Nein, meint Julian Nida-Rümelin, denn an deutschen Universitäten zählen nur noch formale Kriterien. "Das Bemühen, die stärkste intellektuelle Potenz und den originellsten Kopf zu gewinnen, wirkt überholt. Der engagierte Streit um diese nicht quantifizierbare und nicht operationalisierbare Frage findet immer seltener statt. Aus einem Berufungsverfahren an der Harvard University hat mir ein Kollege kürzlich berichtet, dass ein profunder Kenner des ausgeschriebenen Themengebietes mit einer großen Zahl einschlägiger Veröffentlichungen in führenden Zeitschriften nach gründlicher Auseinandersetzung doch nicht in die engere Wahl kam - mit der Begründung, es handle sich bei ihm nicht um 'a powerful mind'. Wir sollten wieder streiten um solche Fragen."

Weitere Artikel: Thomas Stölzel würdigt Ror Wolfs "Enzyklopädie für unerschrockene Leser", von der in diesem Jahr der wohl letzte Band erschienen ist.

Besprochen werden eine Schau zu Domenico Morelli in Neapel und Bücher, darunter Carsten Goehrkes Geschichte des russischen Alltags und Sergio Pitols Erzählband "Mephistowalzer" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 28.12.2005

Christoph Bartmann berichtet aus Dänemark, wo die Spannungen zwischen der Bevölkerungsmehrheit und den Muslimen "hysterische" Ausmaße angenommen haben. Jetzt kritisieren erstmals Intellektuelle im eigenen Land das Klima: "Politiken, die große liberale Tageszeitung und traditionell die Mutter aller dänischen Debatten, druckte eine gemeinsame Erklärung von zwölf namhaften Schriftstellern ab. Darin bekundeten die Autoren - Klaus Rifbjerg, Ib Michael, Suzanne Brogger und andere - ihr Missfallen an dem rohen Ton, den zuletzt vor allem die Boulevardpresse und die regierungsnahe rechtspopulistische Dansk Folkeparti angeschlagen hatten. Die Integrationsdebatte in Dänemark, schreiben sie, werde von Demagogen beherrscht, die unter dem Mantel der Meinungsfreiheit nichts anderes täten, als den Hass zwischen der Bevölkerungsmehrheit und den zugewanderten Muslimen zu schüren. Und die Regierung tue mit ihrer diskriminierenden Gesetzgebung (die fortan jedem Einwanderer ein Pflichtbekenntnis zu 'dänischen Werten' auferlegen will) ein Übriges."

Weiteres: Auf einer ganzen Seite trägt Gerhard Matzig heute die Eigenheimzulage zu Grabe. Flankiert von 92 Neubauporträts rechnet Matzig mit den "verheerenden Auswirkungen" einer Subvention ab, die "zu den größten Absurditäten Deutschlands zählt", indem sie Flächenfraß, grüne Ghettos und soziale Ungerechtigkeit begünstige. Ira Mazzoni beschreibt Bemühungen um "ungenutzte Potenziale" des bayerischen Industrieerbes. Christian Schlötzer informiert über eine Initiative von 169 türkischen Schriftstellern und Journalisten, die Orhan Pamuk unterstützen und die Abschaffung von zwei Gesetzesparagrafen fordern, in denen "Beleidigung der Türkei" und "Propaganda gegen nationale Interessen" unter Strafe gestellt werden. Gustav Seibt wirft einen Blick in die jüngsten Ausgaben der Zeitschriften Vorgänge und Ästethik & Kommunikation. Gemeldet wird die Neugründung des Landt-Verlags, in dem der Berliner Journalist und Autor Andreas Krause Landt Sachbücher im Direktvertrieb übers Internet anbietet.

Besprochen werden der neue Film von Woody Allen "Match Point", eine Ausstellung mit Zeichnungen und Gemälden von Canaletto in der Londoner Queen’s Gallery sowie neue Veröffentlichungen, zwei Ausstellungen, ein Bildband und drei CDs, mit denen Deutschlands "Gesamtkunstwerk" Hildegard Knef gewürdigt wird. An Büchern rezensiert werden drei Studien zum "runden Geburtstag" des Neandertalers, Band 6 der kritischen Gesamtausgabe von Friedrich Schleiermacher mit Korrespondenz und biografischen Dokumenten und Ernst Jandls "Briefe aus dem Krieg 1943-1946" (siehe hierzu unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 28.12.2005

Regina Mönch gibt einen Berliner Streit um die Schulspeisung Bedürftiger wieder. Harald Schulze berichtet über Zweifel an der Zuschreibung einer Pharaostatue in der Frankfurter Ausstellung "Ägypten - Griechenland - Rom". Edo Reents begrüßt die Idee elektronischer Verkehrsschilder, die den Autofahrern freundlich zulächeln, sofern sie sich an die Verkehrsregeln halten. Der iranische Autor Amir Hassan Cheheltan schreibt über das Verhältnis seines Landes zum Westen und über Smog über Teheran. Wiebke Huester würdigt die verstorbene Tanzwissenschaftlerin Selma Jeanne Cohen.

Auf der Medienseite empört sich Michael Hanfeld über einen Brief der Kommission zur Ermittlung der Konzentration (Kek) an den Springer Verlag zur Fusion zwischen Springer und Pro 7 Sat 1 und wirft ihr vor, Springer enteignen zu wollen.

Auf der letzten Seite berichtet Ure Diehl über zahlreiche neue Initativen zur Förderung zeitgenössischer Kunst in Italien. Lorenz Jäger extemporiert über die Benennung von Uranusmonden. Und Oliver Tolmein porträtiert den Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch, der sich dagegen wehrt, dass sein Frankfurter Institut nach seiner Emeritierung aufgelöst werden soll.

Besprochen werden einen Ausstellung des Konzeptkünstlers Allen Ruppersberg in Düsseldorf, Wladimir Rebikows Oper "Adelsnest" in Moskau und Tony Scotts Film "Domino".