Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.10.2006. In der Welt warnt Robert Kagan: Amerika hat den Expansionismus in den Genen. Und Georg M. Oswald erledigt die Memoiren des Altkanzlers Gerhard Schröder mit einem Blick auf Rousseau. In der FR sieht der Philosoph Otfried Höffe den Urheberschutz durch digitale Techniken gefährdet. Die Berliner Zeitung freut sich, wie der Komiker Sacha Baron Cohen die Vorurteile der Amerikaner (wir haben ja keine!) entblößt. In der NZZ erinnert Dan Diner an die Suezkrise.

Welt, 28.10.2006

Im Forum warnt der politische Denker Robert Kagan die Weltöffentlichkeit. Amerika wird nie aufhören sich einzumischen: "Seit der erste Pilger seinen Fuß auf den Kontinent setzte, war Amerika eine expansionistische Macht und hat seine Expansion - territorial, wirtschaftlich, kulturell und geopolitisch - seit 400 Jahren nicht unterbrochen. Die Vereinigten Staaten waren nie eine Macht des Status quo, sondern stets eine der Revolution. Der Drang, uns in die Angelegenheiten anderer Leute zu mischen, ist weder ein modernes Phänomen noch ein Verrat am amerikanischen Geist. Vielmehr ist er ein Teil von Amerikas DNA."

In der Literarischen Welt erledigt der Autor Georg M. Oswald die Memoiren des Altkanzlers Gerhard Schröder mit einem Blick auf die erste Seite von Rousseaus "Bekenntnissen": "Rousseau war kein Mann, der bescheiden von sich dachte. An zitierter Stelle schrieb er: 'Ich bin nicht gemacht wie irgendeiner von denen, die ich bisher sah, und ich wage zu glauben, dass ich auch nicht gemacht bin wie irgendeiner von allen, die leben.' Auch Gerhard Schröder denkt nicht bescheiden von sich - nur leider ist er gemacht wie alle, die sich selbst überschätzen." Und Tilman Krause empfiehlt in seinem "Klartext" die Memoiren des ehemaligen Reichskanzlers Chlodwig von Hohenlohe-Schillingsfürst.

Im Kulturteil erinnert Herbert Kremp anlässlich der Unterschicht-Debatte an den Soziologen Helmut Schelsky. Eckhard Fuhr erleidet bei der Oral History um Habermas Schluckauf. Rainer Haubrich meldet, dass der Bundestag eine "Bundesstiftung Baukultur" beschlossen hat. Gerhard Gnauck spießt ein polnisches Gesetz auf, das kritische Geschichtsforschung behindert. Michael Pilz beobachtet den stets noch rockenden Jerry Lee Lewis, der gerade eine Platte aufgenommen hat. Außerdem gibt es eine Reihe von Parodien der Schröder-Memoiren im Stile bekannter Schriftsteller und Artikel zum Kunstmarkt.

TAZ, 28.10.2006

Woran es den Bundeswehrsoldaten mangelt, findet Jürgen Busche auf der Meinungsseite, ist Erziehung. Und um die darf die Bundeswehr sich nicht länger drücken: "Erziehung zum Soldaten ist schwierig und braucht Zeit. Sie steht aber nicht im Widerspruch zu den Grundsätzen der inneren Führung. Soldaten sind keine bewaffneten Sozialarbeiter. Und die Ablehnung des Einsatzes der Bundeswehr im Innern hat ihren Grund ja auch darin, dass die Soldaten für den Kampf da sind, aber nicht für den Polizeidienst. Was Bundesverteidigungsminister Jung überdenken muss, ist ein Konzept zur Erziehung der Soldaten in der Bundeswehr. Lange hat man in Deutschland das Wort 'Erziehung' gemieden wie ein vergiftetes Gelände. Vielleicht war es das auch einmal. Aber ohne Erziehung geht es eben nicht."

Auf den Kulturseiten stellt Thomas Winkler das gerade seinen 18. Geburtstag feiernde Projekt "Station 17" vor, das behinderte und nichtbehinderte Musiker verbindet - und gerade das neue Album "Mikroprofessor" veröffentlicht hat. Rene Hamann hat Gerhard Schröder beim Signieren seiner Autobiografie zugesehen.

In der zweiten taz gibt es ein Gespräch mit Sebastian Schipper über seinen neuen Film "Ein Freund von mir". Mit Männerfreundschaften, stellt er kategorisch fest, kann er nichts anfangen: "Bei Männerfreundschaft denke ich an Schweiß, Umkleidekabine und daran, wie man sich bei der 'Camel Trophy' gegenseitig hilft, den Jeep wieder aus dem Dreck zu ziehen." Marius Meyer war dabei, als Kai Diekmann, Chefredakteur der Bild-Zeitung, bei der "extrem rechten" Burschenschaft "Franconia", deren Mitglied er ist, über den Erfolg seiner Zeitung sprach. Daniel Müller informiert über die Wahlkampf-Tricks liberaler US-Blogger.

Rezensiert werden - in einem Aufwasch - historische Romane von Bernd Schroeder, Felicitas Hoppe und T Cooper, sowie unter anderem Ulrike Edschmids Roman "Der Liebhaber meiner Mutter", Douglas Couplands neues Werk "Eleanor Rigby" und Christoph Twickels Biografie von Hugo Chavez (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Und Tom.

FR, 28.10.2006

Der Philosoph Otfried Höffe sieht mit der nutzerfreundlichen Novellierung des Urheberrechts den Untergang des Abendlands, wenn nicht gar der Wissenschaftsverlage heraufziehen: "Vermutlich noch einschneidender ist das Vorhaben, den Eigentumsschutz bei der Terminalnutzung in Bibliotheken enden zu lassen: Öffentliche Bibliotheken, Museen und Archive sollen künftig jedes Werk aus ihren Beständen, selbst ein kostenlos überlassenes Pflichtstück, an beliebig vielen elektronischen Leseplätzen zugänglich machen. Es ist keine Panikmache der wissenschaftlichen Verlage, dass ein Gutteil von ihnen dadurch in ihrer Existenz bedroht wird. Mitbedroht sind Autoren und Buchhändler."

Weitere Artikel: Im Interview erläutert Roger M. Buergel die Finanzprobleme der von ihm kuratierten documenta 12 im nächsten Jahr. Harry Nutt war bei einer Konferenz zu Fragen auswärtiger Kultur zugegen. Ina Hartwig erläutert den Streit um die historisch-kritische Kafka-Ausgabe nach den Handschriften - und findet die Weigerung der DFG (Deutschen Forschungsgemeinschaft), diese zu fördern, einigermaßen unverständlich. Christoph Schröder hat sich bei einer Lesung des Autors Franz Schuh in Frankfurt überhaupt nicht gelangweilt. In Karin Ceballos Betancurs "bonanza"-Kolumne geht es um die Winterzeit und eine noch nicht abgehängte Deutschlandfahne. Auf der Medienseite erinnert Katrin Hildebrand anlässlich des 40. Geburtstags an deutsches erstes Popmagazin Sounds.

Besprochen werden Lotte van den Bergs Performance "Stillen" in den Berliner Sophiensälen, die Ausstellung zum Werk des Architekten Oswald M. Ungers in der Berliner Nationalgalerie, eine Frankfurter Inszenierung von Benjamin Brittens "Sommernachtstraum" und das "Käpt'n Blaubär"-Musical nach Walter Moers in Köln.

FAZ, 28.10.2006

Andreas Rosenfelder fragt nach dem Schicksal der Detektiv-Hörspielserie "Die drei ???". Gemeldet wird, dass Jonathan Littell für seinen Roman "Les Bienveillantes" den Preis der Academie francaise erhalten hat - und dass der Goncourt womöglich folgt. Heinrich Wefing wittert in der Leitglosse eine Trendwende in der Position des Auswärtigen Amts zum Goethe-Institut, nachdem Außenminister Steinmeier bei einer Konferenz zur auswärtigen Kulturpolitik zu erkennen gab, dass nicht weiter gekürzt werden soll. Regina Mönch erlebte den Sprachpfleger Bastian Sick in Berlin. Joseph Hanimann berichtet aus Paris, dass ein Jahr nach den Krawallen in der Banlieue wieder Busse abgebrannt werden, obwohl der Kulturminister seine Bereitschaft zu erkennen gab, Graffitikunst zu subventionieren. Werner Spies schreibt zum Tod des schwedischen Ausstellungsmachers Pontus Hulten. Gerhard Rohde gratuliert dem Tenor Jon Vickers zum Achtzigsten.

Für die ehemalige Tiefdruckbeilage besucht Thomas Medicus Theresienstadt, heute Terezin, ein Ort, der nach dem Abzug der tschechischen Armee, der er als Garnisonsstadt diente, ausschließlich vom Gedenken lebt. Und Hartmut Scheible erinnert an Walter Benjamins Moskau-Reise vor achtzig Jahren.

Besprochen werden die Ausstellung "Der blaue Reiter im 21. Jahrhundert" in München, ein Musical nach "Käpt'n Blaubär" in Köln, und Dieter Giesings Inszenierung von Neil LaButes Stück "Some Girl(s)" im Wiener Akademietheater.

Auf der Schallplatten- und Phonoseite gratuliert Michael Jeismann Peter Green von Fleetwood Mac zum Sechzigsten. Außerdem geht's um eine CD der Punkband She-Male Trouble, eine dem Dirigenten Karl Richter gewidmete DVD-Serie und eine Oper des finnischen Komponisten Olli Kortekangas. Auf der Medienseite konstatiert Peer Schader eine Krise der deutschen Fernsehserie als solcher. Auf der Literaturseite werden Ralf Rothmanns Erzählungen "Rehe am Meer" und Botho Strauß' Prosaminiaturenband "Mikado" besprochen.

Für die Frankfurter Anthologie stellt Michael Neumann ein Gedicht von Paul Fleming (1609 bis 1640, Bio und Informationen) vor:

"Als Echo ward zu einem Schalle /
zu einer unbeleibten Lufft /
die durch das Thal mit halbem halle /
die / so sie ruffen wiederrufft /
da ward der hole Wald voll Klage /
das feige Wild stund als bethoert /
die Nymfen rufften Nacht und Tage /
wo bist du / Lust / die man nur hoert. (...)"

Berliner Zeitung, 28.10.2006

Jens Balzer bewundert den britischen Komiker Sacha Baron Cohen, dessen umstrittene Kasachstan-Parodie "Borat" demnächst in Deutschland anläuft, für seine Fähigkeit, die Ressentiments seiner Gesprächspartner freizulegen. "In der Maske des unterentwickelten Narren bestätigt Cohen sämtliche Vorurteile, die der gemeine US-Amerikaner (und natürlich auch: Westeuropäer) gegenüber den barbarischen Ostblockstaaten pflegt - und löst seinen Gesprächspartnern immer wieder die Zungen. In einem texanischen Waffengeschäft verlangt er nach einer Flinte, die sich besonders gut zum Erschießen von Juden eignet ('das ist das, was wir in Kasachstan mit den Juden tun') - und wird von dem Waffenhändler ohne Umschweife und ohne Bedenken beraten. Bei einem Autohändler verlangt er nach einem Geländewagen mit 'Pussy Magneten', woraufhin ihm ein imposanter Hummer angeboten wird. 'Was passiert mit dem Wagen, wenn ich damit in eine Gruppe von Zigeunern fahre?' - 'Wenn sie nicht so heftig hineinfahren.' - 'Doch, heftig!' - 'Hm, dann könnte allerdings die Windschutzscheibe beschädigt werden.'" Das Zentrum für Antiziganismusforschung hat bereits eine Strafanzeige gestellt.

Tagesspiegel, 28.10.2006

Offenbar will Außenminister Frank-Walter Steinmeier die auswärtige Kulturpolitik stärker fördern. So hat ihn jedenfalls Caroline Fetscher auf der seit langem größten Konferenz zum Thema in Berlin verstanden. "Mit Ernst, mit Emphase rechnete er fünfhundert Gästen vor: 'Knapp 130 Goethe-Institute sollten uns als kulturelle Infrastruktur in aller Welt durchaus so viel wert sein wie zwölf bis fünfzehn Kilometer Autobahn in Deutschland.' Tatsächlich, 'wir haben das dreimal überprüft', versichert ein Mitarbeiter des Ministers; in ein Dutzend Kilometer der kostbaren Asphaltstrecke fließen 150 Millionen Euro, was etwa dem Drittel des Gesamtetats der Auswärtigen Kulturpolitik, kurz 'AKP', entspricht. Dieser Etat soll aufgestockt werden, das ist Steinmeiers Ziel."

NZZ, 28.10.2006

Für das Feuilleton begleitete Martin Meyer das Luzerner Festival Orchestra nach Tokyo. Uwe Justus Wenzel kommt auf die Gerüchte um das angebliche Jürgen-Habermas-Gedächtnis-Essen zurück.

Besprochen werden Neil LaButes Stück "Some Girl(s)" am Wiener Akademietheater, Berlioz' "Troyens" in Straßburg und einige Bücher, darunter Horacio Vazquez-Rials Roman "Der Mann, der sich Carlos Gardel nannte".

Für Samstagsbeilage Literatur und Kunst erinnert Dan Diner an eines der letzten Scharmützel der Kolonialära, die Suezkrise vor fünfzig Jahren: "Als die Briten, Franzosen und Israeli am 7. November dem amerikanischen Druck nachgaben und allseits das Feuer eingestellt wurde, neigte sich eine Ära ihrem Ende. Für die Araber war Nasser zur nationalen Ikone geworden. In der Region fand sich ein ohnehin verbreitetes Verschwörungsdenken bestätigt."

Weitere Artikel: Ein im Netz nicht genannter Autor porträtiert die türkische Autorin Elif Shafak. Und in der Reihe "Bildansichten" betrachtet Wilhelm Genazino "La bonne fortune" (Bild) von Rene Magritte. Auch hier werden einige Bücher besprochen, darunter Veza Canettis Briefe an Elias Canettis Bruder Georges.

SZ, 28.10.2006

Für verlogen hält Johan Schloemann die Angehörigen der mittleren und oberen Schichten, die das Elend der Unterschichten durch nostalgischen Rückgriff auf ein Demokratie- und Gesellschaftsmodell heilen wollen, das sie in Tat und Handeln längst verabschiedet haben: "Weshalb bedauern jetzt die mittleren Schichten die Schwachen der Gesellschaft und meinen, mit ihrer Schwäche sei schon die Demokratie an sich betroffen? Und gaukeln sich und anderen etatistisch vor, direkte öffentliche Eingriffe und Bildungsoffensiven könnten alsbald zur Beseitigung der Ungleichheit führen? Die Armut ist schlimm. Aber würde es nicht erst einmal reichen, den Armen eine probate Linderung der Massenarbeitslosigkeit zu wünschen? Es ist wohl wirklich nur so zu erklären: Das Beklagen der mangelnden 'Teilhabe' ganz unten ist auch eine Kompensation dafür, dass die eigenen Beteiligungs- und Vergemeinschaftungshoffnungen an der ökonomischen und kulturellen Realität gescheitert sind. "

Weitere Artikel: Tobias Moorstedt und Benedikt Sarreiter erinnern sich anlässlich des Starts von "Marie Antoinette" an weitere Filme, wo "Pop in historischem Gewand" präsentiert wurde. Thomas Medicus berichtet von einer offenbar recht ermutigenden Tagung im Außenministerium, auf der über die Zukunft deutscher Kulturpolitik im Ausland debattiert wurde. Den Nachruf auf den Ausstellungsmacher Pontus Hulten hat Holger Liebs verfasst. Sonja Zekri informiert über den geplanten Verkauf ägyptischer Papyri durch die Schweizer Fondation Bodmer. Dietmar Polaczek fragt sich, wie europäisch die türkische Musik ist. G.K. gratuliert dem Maler Horst Antes zum 70, Jens Malte Fischer dem Heldentenor Jon Vickers zum 80. "Jsl." lauschte einem Vortrag, bei dem Ernst-Wolfgang Böckenförde seiner Sorge ums vorrechtliche Wir-Gefühl Ausdruck verlieh. Gemeldet wird, dass in Berlin jetzt, aufgrund geänderter Einschätzung der Gefährdungslage, doch wieder "Idomeneo" gezeigt wird.

Besprochen werden Sofia Coppolas Historienfilm "Marie Antoinette", eine Ausstellung über den Aufbruch der venezianischen Malerei in Wien, ein Konzert der legendären Fania All Stars in New York, William Forsythes in Zürich zur Aufführung gebrachte "performative Installation" mit dem Titel "Heterotopia", Dieter Giesings Inszenierung von Neil LaButes "Some Girl(s)" am Wiener Burgtheater und ein Konzert des Pianisten Lang Lang in München.

Auf der Literaturseite schreibt der Literaturwissenschaftler Gert Mattenklott über den Verrat im 20. Jahrhundert. Eine Rezension gibt es zu einem Band, der ein langes Gespräch mit dem Historiker Hans-Ulrich Wehler aufzeichnet (mehr in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

In der SZ am Wochenende berichtet Rainer Stephan vom Bergfilm-Festival in Tegernsee. Georg Etscheid stellt uns die "Lohas" vor, die kulturell-kreativen und hippen Nachfolger der "Müslis": das Kürzel steht für "Lifestyle of Health and Sustainability". Abgedruckt ist eine "Geschichte aus dem Zirkus" des im Irak geborenen, in Deutschland lebenden Schriftstellers Najem Wali.